Eine Dichterin im Ringen mit der Unzulänglichkeit, der Unzuverlässigkeit der Sprache. Ein Ringen, das funkelt, das Sätze birgt, die sich einprägen.
Die kleine Frau schreibt
Erst muss man alles aufzeichnen, dann kann man sich aufzeichnen durch einen Satz, der etwas ins Fließen bringt, was vorher feststand.
Ich bin die kleine Frau, ich glaube an die Macht des Mondes, an Ebbe und Flut. Aber mehr noch an die Worte, die alle Spuren verwischen, sobald sie entstehen.
Elke Engelhardt, „Sansibar oder andere gebrochene Versprechen“
Sich selbst definieren, sich selber finden mit den unzulässigen Mitteln der Sprache – das scheint mir ein Leitmotiv zu sein in diesem außergewöhnlichen Gedichtband. Eine Poesie, der die Macht der (Ent-)Täuschung innewohnt: Sätze, die so klar und nüchtern im Stil zu sein scheinen, und mit denen dennoch alle Spuren verwischt werden. Beispielgebend dafür ist Sansibar, Protagonist im ersten Zyklus:
Es sollte ein Roman ohne Worte werden aber voller Gedanken Der Ehrgeiz packte mich es schüttelte mich Es ging mir nicht gut Ich war kurz davor einen Satz in mein Heft zu schreiben einen Satz der alle Worte zum Blühen gebracht hätte und was blüht ist vergänglich
Was blüht, ist vergänglich, was gesagt ist, kann heute wahr sein und morgen ein gebrochenes Versprechen: Eine Dichterin im Ringen mit der Unzulänglichkeit, der Unzuverlässigkeit der Sprache. Ein Ringen, das funkelt, das Sätze birgt, die sich einprägen:
Der Tod, sagt meine Mutter, ist eine schnell heilende Wunde. Die Narben, die er hinterlässt, sind Sache der Lebenden.
So klar die Sprache von Elke Engelhardt erscheint, so viele Geheimnisse tragen Sansibar, die kleine Frau und die lyrische Stimme im dritten Zyklus, „Die Lumpen meiner Erinnerung“, mit sich herum. Man möchte mehr davon lesen, wohlwissend, dass man den Geheimnissen eines Menschen mit den Mitteln der Sprache wohl nie auf den Grund kommen wird.
Ich hab’ in den Weihnachtstagen – Ich weiß auch, warum – Mir selbst einen Christbaum geschlagen, Der ist ganz verkrüppelt und krumm.
Ich bohrte ein Loch in die Diele Und steckte ihn da hinein Und stellte rings um ihn viele Flaschen Burgunderwein.
Und zierte, um Baumschmuck und Lichter Zu sparen, ihn abend noch spät Mit Löffeln, Gabeln und Trichter Und anderem blanken Gerät.
Ich kochte zur heiligen Stunde Mir Erbsenuppe und Speck Und gab meinem fröhlichen Hunde Gulasch und litt seinen Dreck.
Und sang aus burgundernder Kehle Das Pfannenflickerlied. Und pries mit bewundernder Seele Alles das, was ich mied.
Es glimmte petroleumbetrunken Später der Lampendocht. Ich saß in Gedanken versunken. Da hat’s an der Tür gepocht.
Und pochte wieder und wieder. Es konnte das Christkind sein. Und klang’s nicht wie Weihnachtslieder? Ich aber rief nicht: “Herein!”
Ich zog mich aus und ging leise Zu Bett, ohne Angst, ohne Spott, Und dankte auf krumme Weise Lallend dem lieben Gott.
Joachim Ringelnatz
Das Gedicht von Ringelnatz stammt aus dem Jahr 1933 – wohl für viele Menschen das schwerste Weihnachten der Vorkriegszeit. Wer wachen Sinnes war, konnte ahnen, was knapp ein Jahr nach der Machtergreifung Hitlers noch alles auf die Menschen zukommen würde.
Insofern sind die Vergleiche, die dieser Tage gezogen werden, völlig absurd: Wir leben in keiner Diktatur, aber wir leben mit einer Pandemie. Das ist schwer, insbesondere für viele an Weihnachten, die vielleicht getrennt von ihren Liebsten und Familien feiern müssen. Aber es ist ein hoffentlich einmaliges und vorübergehendes Geschehen – und keinesfalls vergleichbar mit der Situation 90 Jahre zuvor.
Dennoch kann vielleicht jetzt gerade ein Ringelnatz helfen: Trauer und Humor liegen bei ihm immer eng beisammen. Und die Botschaft: Mach das Beste daraus …
Ich wünsche allen, die hier mitlesen, trotz der Umstände ein schönes Weihnachtsfest, alles Liebe und einen guten Rutsch in das Neue Jahr! Bleibt gesund!
Matthias Engels nimmt einen mit seinem neuen Gedichtband „wir alle strahlen“ mit auf eine Reise durch Innen- und Außenräume, geprägt von Melancholie und Lebenslust zugleich.
TOTGESAGTER PARK (HERBST I)
der himmel bemüht sich um möglichst beiläufiges blau und allgemein weiß das wetter nicht so genau wohin ohnehin und her ist`s schweres gehen bei all dem grün- schnitt
und all das welke geht mit es ist kein geheimnis wohin immer du schreitest begleiten dich saat und keimnis ist der garten schoß und offener sarg zugleich
Matthias Engels, „wir alle strahlen“
Gedichte lehren einen das genaue Hinschauen. Schon Stefan George sprach die explizite Aufforderung aus „komm in den totgesagten park und schau“ und Jahrzehnte später spinnt Matthias Engels diesen Gedanken weiter. Der 1975 am Niederrhein geborene Schriftsteller stellt sich mit seinem jüngsten Lyrikband in eine große Tradition, weckt Assoziationen zu George, Benn, Trakl, Rilke und ist dabei jedoch auch ganz und gar gegenwärtig, ein Kind seiner Zeit.
du sagst: Herrgottnochmal der sommer war sehr klein und der herbst nicht mehr lassen wir den winter nicht rein und hoffen dass er draußen nichts anstellt
Auszug aus „Dein Traum muss durch die Wand“.
„wir alle strahlen“ nimmt einem beim Lesen gefangen durch eine eigenartigen Wechsel von Melancholie und Lebenslust, Saat, Keimnis und offener Sarg zugleich. Da wandert ein lyrisches Ich durch Landschaften und Städte (ein schönes Bild: die stadt trägt schuhe/aus mörtel und geröll), durch Innenräume und Außenwelt und lässt den Leser teilhaben an seiner sensitiven Beobachtungsgabe, die Auge und Ohr hat selbst für den „aufprall der trockenen blätter/auf den gehwegplatten“.
Es bedarf eben eines Poeten, um „die romantik von mono/blocksessel und filterkaffee“ zu würdigen. Das sind Gedichte, die das Sehen, das Hinsehen und die Würdigung des Alltäglichen zelebrieren und in wunderbare Bilder verwandeln:
die sonne von lamellen in feine streifen aufgeschnitten in dieser stunde sind alle getigert
Informationen zum Buch:
Matthias Engels wir alle strahlen edition offenes feld, Dortmund, 2020 Hardcover, Schutzumschlag, 68 Seiten, 15,50 € ISBN 9783751952613
„Das Schaf des Pythagoras“ ist ein Gedichtband, der mit viel Verspieltheit, skurillen Einfällen und einem heiter-gelassenen Blick auf die Welt amüsiert.
Hochintressant
Alles kommt, wie`s kommen muss, alles gießt sich hin im Fluss, ich wart, im Regen, auf den Bus und geh, wenn er nicht kommt, zu Fuß.
Gerd Baumann, „Das Schaf des Pythagoras“
Lyrik muss für mich nicht immer hermetisch, symbolgeladen, verschlüsselt und mit Metaphern überfrachtet sein. Mein schlichtes Gemüt ergötzt sich durch aus an gehobenem Blödelsinn, da bricht dann durch, dass auch ich der Generation entstamme, die mit Heinz Erhardt sozialisiert wurde.
Und so können mich auch die verrückten, verspulten Gedichte des bayerischen Musikers und Lyrikers Gerd Baumann herrlich amüsieren: Da wird mit viel Witz und Hintersinn den großen Fragen der Menschheit nachgegangen, beispielsweise: „Was, wenn Ich nicht mehr Ich wäre, sondern Du!“. Am Ende möchte man das Du denn doch Du sein lassen. Oder warum einer den Moment, den man Leben nennt, „knetet“, dichtet und singt? Das liegt auf der Hand: „denn, wenn`s heißt: Jetzt ist`s gewesen/ gibt`s Musik und was zu lesen“.
Baumann unterhält mit seinen schrulligen Einfällen mal mit ironischen Kurzzeilern, mal gereimt, mal in freien Rhythmen, und mittendrin stößt man sogar auf eine ausgewachsene Ballade: Die „Malade Ballade vom unbekannten Mann“. Eines haben die Gedichte, trotz unterschiedlicher Form, jedoch immer gemeinsam: Sie sind, auch bei ernsteren Themen, selbst dann, wenn es politisch wird, von einer wohltuenden Leichtigkeit. Ein Beispiel:
Hase, du bleibst hier Chemnitz, Sommer 2018
Fast wär er hinterhergesprungen dem einen, vielgehassten, dunklen Fremder, der hier einfach eingedrungen, doch so blieb`s beim Augenfunkeln
und beim wohlvertrauten Grölen mit seiner Glatzen-Clique, die seit Jahren was man ja wohl noch sagen darf sagt, und – eben – unverhohlen grölt.
Doch plötzlich duckt und zuckt der Nazi wie ein gut gezähmtes Tier, da ein Stimmchen ihn zur Ordnung ruft: Hase, du bleibst hier.
Ein besonderes Faible scheint der Autor für Schafe zu haben, diese oft als dumm verpönten Tiere. Da gibt er dann den Wolf im Schafspelz und schmuggelt vollkommene Nonsense-Vierzeiler in den Gedichtband und das Langgedicht „Hintersinnige, hommage-artige Ansprache eines gerissenen Schafs an einen aus Schafsicht vermeintlich idealen Schäferhund, der am Ende nur scheinbar enttäuscht ist und besonnen, aber krude reagiert.“
Zum Autor:
Gerd Baumann studierte in München und Los Angeles Gitarre und Komposition. Er hat unter anderem die Musik für Filme von Regisseur Marcus H. Rosenmüller geschrieben, betreibt das Plattenlabel „Millaphon Records“ und den Musik-Club „Milla“ in München.
Zum Zeichner:
Martin Klett ergänzt die skurillen Gedichte durch witzige, in der Form reduzierte Illustrationen. Er studierte Design in München und ist Inhaber der Agentur „Perfect Accident“.
Zum Buch:
Gerd Baumann Das Schaf des Pythagoras edition lichtung im lichtung verlag, 2020 Gedichte, mit Illustrationen von Martin Kett, 2020, Hardcover, 96 Seiten, 14,90 Euro ISBN 978-3-941306-98-1
Es ist Juni, als sie sich begegnen, sie wie ein flüchtiger Kohlweißling, der später allenfalls noch eine Windschutzscheibe streifen wird. Und bereits in der Juni-Dämmerung zeichnet sich die Nicht-Zukunft der beiden ab, die kurze, intensive Liebe eines Sommers. In diesem „Sonnengesang“ sind Herbst und Winter bereits eingeflochten, neigt sich alles einem melancholischen Ende zu, ein kurzes Aufbäumen, Bemühen noch – „meine wunde war noch einmal zugegangen“ – und doch über allem das Bewußtsein von Endlichkeit:
im beinhaus zu hallstatt den 3ten august faßte ich mir an den eigenen Schädel
so seltsam war er mit haut überzogen … oben wuchsen haare u. selbst augen standen noch
heißt es im sechsten und letzten Zyklus in dem Gedicht „vanitas“.
„Sonnengesang“ – das ist auch das erste Zeugnis der italienischen Literatur, das gleichnamige Gebet des Franz von Assisi, in dem er Gott und die Schöpfung preist. Und so verwebt auch Norbert Hummelt Elemente der Liebes- und Naturlyrik, singt gewissermaßen mit einem melancholischen Unterton freilich, die Sonne an.
Carsten Otte betont in seiner Besprechung beim SWR:
„Mögen sich Rhythmus und Binnenreim in den ersten Zeilen noch nicht aufdrängen, auch weil der Zeilensprung den semantischen Zusammenhang aufbricht, lässt sich aber schon im Eröffnungsgedicht eine Art poetisches Programm erkennen. Hier stellt sich ein lyrisches Ich vor, das von der Natur gerufen wird, um Flora und Fauna zu preisen, und zwar in einer Formensprache, die dem historischen Rondo näher ist als der lyrischen Moderne.“
Und doch sind es die modernen Elemente, die dem Reigen aus Begegnung und Abschied, Blühen und Vergehen ein Quäntchen Hoffnung eingeben:
(…) mein engel hatte mich verlassen.
aber das licht kam von der raumstation, die sich am himmel über mir bewegte, rascher als der mond u. heller als ein stern.
Ein wacher Geist, eine kritische Stimme: Alain Lance ist einer der großen französischen Lyriker. Volker Braun besorgte eine gelungene Auswahl seiner Gedichte.
Jedem Leben ist Honig und Galle bereitet, und Jeglicher rudert allein seinem Ende entgegen, aber Die Wasser mögen noch anderen Fahrgästen singen Die in den Wipfeln die entschlossenen Schwärme sehn Im steten Verblühen der Jahreszeiten.
Aus „Donau oberhalb von Budapest“, aus dem Französischen übersetzt von Volker Braun.
Alain Lance, „Rückkehr des Echos“
Ob nun in den erst 2019 erschienenen „Fantȏmémoires“ oder in dem bereits 1974 herausgekommenen Gedichtband „Les Gens perdus deviennent fragiles“: Da schlägt uns eine Stimme entgegen, die wahlweise zornig, bitter, ironisch und immer auch politisch ist. Und bis ins hohe Alter hinein frisch klingt: Der 1939 geborene Alain Lance beobachtet die Welt mit wachem Blick und hadert mit ihr und dem menschlichen Treiben. „Europa geht aus dem Leim“ konstantiert er beinahe umgangssprachlich in seinem Gedicht „2017“ und schreibt unter dem Titel „Es brennt“ nur einige wenige melancholische Zeilen:
Kaum August schon fällt Das Blattwerk in Schauern sollen wir trauern Um die untergehende Welt?
Man täte diesem Dichter jedoch unrecht, würde man ihn allein auf das Politische reduzieren. Volker Braun, verbindet eine beinahe lebenslange Freundschaft zu dem Franzosen, der sich auch in mannigfaltiger Weise um die deutsch-französischen Kulturbeziehungen verdient gemacht hat. Als Herausgeber hat Volker Braun eine gute Auswahl an Gedichten aus dem Werk seines Freundes getroffen, die dessen Entwicklung aufzeigen. Im Nachwort betont Braun auf ein Zitat von Gérard Noiret hin, der Lance als einzigen politischen französischen Dichter bezeichnet:
„So lese ich ihn nicht, das macht ihn nicht aus, es ist noch immer der robuste, turbulente, anspruchsvolle Geist des Quartier Latin: dieser erstaunlichen irdischen Mischung vom Leben. Nicht nur Résistance, sein Naturell lässt ihn immer wieder Renaissance erleben, wie das Gedicht für Renate wunderbar zeigt.“
Tatsächlich bietet dieser gelungene Auswahlband eine Mischung aus direkter politischer Lyrik ebenso wie Gedichter voller surrealer Bilder und gar dadaistischen Sprachspielereien. Und dazwischen eine Botschaft an den Freund V. B.:
Schreib über Bäume Es ist kein Verbrechen mehr
Angaben zum Autor:
Alain Lance, geboren 1939 in Bonsecours/Normandie, studierte Germanistik in Paris und Leipzig. Von 1985 bis 1991 leitete er das Institut français in Frankfurt a. M., im Anschluss das Institut français in Saarbrücken und danach bis 2004 das Pariser Literaturhaus Maison des écrivains et de la littérature. In seinem 2009 veröffentlichten Buch Deutschland, ein Leben lang (2012, Matthes & Seitz) beschreibt er anekdotenreich seinen Lebensweg als Vermittler zwischen den Kulturen. Bereits 1977 erschien eine erste Auswahl seiner Gedichte auf Deutsch, schon damals herausgegeben und nachgedichtet von Volker Braun (zusammen mit Paul Wiens). Alain Lance ist neben seiner schriftstellerischen Arbeit auch als Übersetzer tätig, oft gemeinsam mit seiner Frau Renate Lance-Otterbein, u. a. von Volker Braun, Franz Fühmann, Ingo Schulze und Christa Wolf.
Bibliographische Angaben:
Alain Lance Rückkehr des Echos Herausgegeben von Volker Braun Mit Nachdichtungen von Volker Braun, Richard Pietraß, Gabriele Wennmer, Simon Werle und Ludwig Harig. Faber & Faber, 2020 ISBN 978-3-86730-171-8
Kraftvolle Gedichte, die einschlagen mit Wucht. „Der Brief des Nachtportiers“ ist wie gemacht für schlaflose Nächte.
Psalm
Ich gehe unter Blüten, denn so ist es sicher.
Fällt mich dort ein Raubtier an, ein Heiliger mit seinem Glück, die Zähne werden stumpf, das irre Lächeln schwindet, der Blütenschnee macht sie ermatten.
Auch Borke, Rinde, Federvieh. Alles was sich weiß und rosa in die Lüfte windet. So sänftigt die Natur das Gift des hohen Säugetiers.
Es duftet. Es ist weich. Federn, Blüte, Haargesichte. Wir hätten was zu essen und fühlten uns geliebt. Das gute Ende der Geschichte.
Marcus Hammerschmitt, „Psalm“ aus „Der Brief des Nachtportiers“
Vielleicht sind dies die passenden Gedichte für Tage wie diese, in denen Sicherheiten schwinden und es keine Eindeutigkeiten mehr gibt. Alles wirkt „klassisch halb“, wie Marcus Hammerschmitt eines seiner Kapitel nennt. „Manchmal ist alles beseelt“, doch diese Momente sind selten. Meistens ist nichts, wie es scheint, und jedes Ding hat seine zwei Seiten:
„Ich trag ihn rum und zeig ihn vor, den köstlich verrotteten Jahrgang.“
Die Zyklen in diesem Gedichtband führen in die Ferne, in das mauretanische Zouerate unter anderem, und führen zurück in die Heimat, die „Verschränkung“ ist. Dazwischen Fein- und Grobalchemie und „Sexy Science“. Eine große thematische Bandbreite, die unter dem Mikroskop jedoch wiederkehrende Themen offenbart – wie der Mensch sich Natur aneignet, wie er versucht, eine ungezähmte Materie zu bändigen, die sich ihm aber immer wieder aufs Neue entzieht. So heißt es in dem Gedicht „Der Mond ist auf“:
„Die Nacht erzwingt den Wald. Der Wald erzwingt die Gedanken. Scherenschnitte erzwungen.“
Sprachlich sind diese Gedichte einfach kraftvoll, das sind Metaphern, die erst einmal einschlagen mit einer eigenartigen Wucht und dann Gedankenströme freisetzen. „Der Brief des Nachtportiers“ erzwingt keine Scherenschnitte, sondern Lesenächte, in denen man die Zeilen gedanklich wiederkäut, enträtselt, weiterschreibt. Wunderbar!
Der Autor, Schriftsteller, Journalist und Fotograf, gibt Selbstauskunft auf seiner Homepage: http://marcus-hammerschmitt.de/
„Der Brief des Nachtportiers“ ist sein erster Lyrikband, veröffentlicht bei der „Edition Monhardt“, wo 2016 auch sein Erzählband „Waschaktive Substanzen“ erschien.
Informationen zum Buch:
Marcus Hammerschmitt Der Brief des Nachtportiers Edition Monhardt, 2019 Gedichte, 84 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, Lesebändchen, 21,00 Euro ISBN 978-3-9817789-6-0
Im Grunde ein unwirtlicher Ort: Die Metropole. Henning Kreitel begibt sich mit Wort und Bild auf Ruhesuche „im stadtgehege“ Berlins.
in morgendlicher bahnsteigkälte gehetztes schnäuzen gewissenloses husten dem nächsten ins gesicht
geborgen hauche ich ans fenster zeichne umrisse in den bunten scheibenschleier einiges wird klarer
Henning Kreitel, „im stadtgehege“
Oftmals holt die Wirklichkeit die Poesie ein: Der Gedichtband „im stadtgehe“ des Fotografen und Schriftstellers Henning Kreitel erschien bereits im November 2019, als Corona eine Erkrankung war, die noch weit entfernt war. Und nun verwandeln auch unsere Städte ihr Gesicht: Ungewohnt still, beinahe unbelebt.
Die Stadt, ansonsten ein Gehege, in dem das Leben pulsiert, mit allen seinen Schattenseiten: Die Gedichte Kreitels kreisen unverkennbar um die Metropole Berlin, ein Ort an dem „saftiges schreigespräch“, „handygegröl“ und „huptumult“ dominieren. Der Spaziergänger „im auswegkreislauf auf ruhesuche“ findet keinen rückzugsort. Nur ab und an, vor allem morgens, eine „arie am morgen“ und „einsamer amselgesang“.
„Berlin ist im Übergang und generiert seine neuen Ortsgefühle und widersprüchlichen Emotionen“, schreibt Frank Eckardt, Professor für Stadtsoziologie an der Bauhaus-Universität Weimar, im Vorwort zu diesem Gedichtband. So zeugten auch Kreitels Gedichte von „Ambivalenz und schwieriger Aneignungsfähigkeit“.
Im Stadtgehe entscheidet sich nachts in einem Augenblick, ob man „raubtier oder beute“ ist, derweil die „lustentkernten kiezbewohner“ ankämpfen gegen die Leere ihres Lebens. Die Stadt: In diesem Buch zwar ein belebter, aber nur in Teilen lebenswerter Ort.
Der Unruhe städtischen Lebens, die er mit Worten vermittelt, setzt Henning Kreitel Illustrationen von großer Ruhe entgegen: Stille Ecken, aufgenommen in den großen Berliner Parks. Rückzugsorte, so in den Erläuterungen, die „als Steckdosen“ dienen, um wieder Energie zu tanken und vom stressigen Stadtalltag abzuschalten.
Kreitel bearbeitete seine Bilder im Eisendruckverfahren, der Cyanotypie, deren charakteristischer das „Berliner Blau“ ist. Die Serie „Auf Ruhesuche“ ist, so der Fotograf, noch nicht abgeschlossen. Die Suche geht weiter.
Informationen zum Buch:
Henning Kreitel im stadtgehege Mitteldeutscher Verlag 2019 Broschiert, 112 × 186 mm, 110 Seiten, Cyanotypien, 12,00 Euro ISBN 978-3-96311-312-3
Poetische Ornithologie in nüchternem Sprachgewand: Henning Ziebritzki vereint präzise Vogelbeobachtungen mit existentiellen Seins-Fragen.
Wandertaube
„Jedes Gedicht wie ein Grabstein, auf dem nur das Geburtsdatum steht, unwiederholbar vorbei, was nicht aufhört, in deinem Kopf aufzuschwärmen, Aufruhr im Gedankenfleisch (…) Jede Zeile wie ein Schluck, ätzend, jeder Schluck ein Bollwerk gegen alles, was nicht inspiriert ist, gegen das Leiden der Kreatur, die Panik, eines Zombies Pilgerfahrt zu sein.“
Henning Ziebritzki, „Vogelwerk“
Die Wandertaube, sie ist in diesem Vogelwerk die einzige ihrer Art, die bereits ausgestorben ist – symbolhaft steht sie da, in diesem schmalen Band, für das, was in unserer Natur, in der Welt allgemein verloren geht. Damit meine ich nicht nur den tatsächlichen Raubbau an unseren Ressourcen, sondern auch das Talent des Menschen innezuhalten, still zu beobachten.
Der Anblick einer Amsel, die sich „aus ihrem Geräuschversteck“ schüttelte, gab dem Lyriker und evangelischen Theologen Henning Ziebritzki den Anstoß zu diesen 52 Gedichten, als er mitten in einer Schreibkrise steckte. Poetische Ornithologie in nüchternem Sprachgewand: Keine rauschhaften, mystisch aufgeladenen Naturbeobachtungen bietet dieser Band, sondern eher präzise-sachliche Beschreibungen, eingekleidet in Alltags- und Innenbetrachtungen, einer in „Unruhe geratenen Subjektivität“, wie es in einer Besprechung durch Kristian Kühn in „Signaturen“ heißt.
So beim „Grünspecht“:
„(…) Leuchtender wird sein Grün, sein Rot, weil die Sonne zu seinem Gefieder spricht, der Nebel mit seinem Flug, als er rufend fortfliegt, sein Gellen Stille wird, die mit sich spricht.“
Für „Vogelwerk“, an dem Ziebritzki sechs Jahre arbeitete, erhielt er heuer den wichtigsten deutschen Lyrikpreis, den Peter-Huchel-Preis. Eine nicht unumstrittene Entscheidung, wie Kritiker Tobias Lehmkuhl im Deutschlandfunkurteilte:
„Es ist ein schöner Band, es ist ein guter Band, es ist ein sehr lesbarer Band“, sagt er. Aber er sei wenig aufregend. „Also, die Sprache ist hier Mittel zum Zweck, die Sprache ist nicht so aufgeladen, nicht zum Zerreißen gespannt. Sie ist halt Werkzeug in dieser Naturbetrachtung, Naturbeschreibung, aber sie geht kein Wagnis ein.“
Unabhängig von der Debatte um die Preiswürdigkeit: Lesenswert ist das „Vogelwerk“ allemal. Es bietet in einer Zeit, in der wir umgeben sind von aufgeregtem digitalen Gezwitscher, Momente der Stille, der Ruhe, die in uns erst dazu befähigen können, den dunklen Schrei des Habichts zu hören oder die „flackernde Flamme“, die die Wassertaube hinterlässt, wahrzunehmen.
Denn dieses Innehalten, das Verharren, das Warten, das Beobachten und damit auch die Zurückgeworfenheit auf das eigene Ich, das ist es, was diese sachliche gehaltene Poesie beinhaltet und den Leser bieten kann. Beim Beobachten von Amsel, Rotdrossel, Teydefink und Kormoran werden die Fragen aufgeworfen, die das Menschsein ausmachen: Leben, Sterben, Einsamkeit, Zweisamkeit, Vergänglichkeit. Solchermaßen begründete auch die Jury für den Peter-Huchel-Preis ihre Entscheidung:
„Henning Ziebritzkis dritter Gedichtband ‚Vogelwerk‘ lässt sich keineswegs einfach als beschauliche Ornithologie oder poetische Mimesis der Schöpfung beschreiben. … Vielmehr hat Ziebritzki in 52 Gedichten, die jeweils mit einem Vogelnamen überschrieben sind, ein lyrisches Kalendarium sinnlicher Grenzerfahrungen und Überwältigungsmomente geschaffen. Den Porträts jeder einzelnen Vogelart ist immer auch ein Selbstporträt des lyrischen Subjekts eingeschrieben. Dabei spricht kein unbeteiligter, in sich ruhender Beobachter, sondern einer, der sich existenziellen Fragen aussetzt.“
Es ist der Weißstorch, der für eine gewollte Verlangsamung der Zeit steht:
„Mehr Schnabel als Kopf, mehr Warten als Bewegen, als Suchen und langsames Abmessen, ein Stocken, ein Schreiten, das Rückschritt bleibt (…)
Informationen zum Buch:
Helmut Ziebritzki Vogelwerk Wallstein Verlag, 2019 Gebunden, 64 Seiten, 18,00 Euro ISBN 978-3-8353-3554-7
Es ist, als habe die Bora selbst diese Gedichte an Land gespült: Sie sind nicht aus Worten geschrieben, sondern aus den Elementen gemacht.
Rab bei Bora
Wohl dem der die Bora liebt, auch auf einer ankernden Fähre. Stahlharte Matrosen springen herab wie Gewitterhummeln. Bei der Kapelle essen zwei kleine Mädchen aus einer Papiertüte gezuckerte Hostien. Die göttliche Vernunft pflanzt Menschen an wächst mit ihnen und besänftigt die Panik. Wolken ballern, die Dunkelheit rauscht den Weinberg entlang, über dem aufgerissenen Meer. „Ich besitze eine Blume, die niemand pflücken kann“ Alles ist Staub außer dem Wohlsein. Alles ist Glut und Salz.
Aus: „Flirrende Visionen“ von Admiral Mahić
Es ist, als habe die Bora selbst, dieser harsche Küstenwind an der Adria, diese Gedichte an Land gespült: Sie sind nicht aus Worten geschrieben, sondern aus den Elementen gemacht. Feuer, Wasser, Erde, Luft. Da ist einer, der das Leben und die Liebe feiert, auch deren schmerzhafte Seiten und dies in ekstatische Lieder gießt.
Vielsagend ist bereits das erste Gedicht dieses Bandes, der ein ganzes Leben in einem Tag unterbringt. Die „Memoiren eines jungen Banjalukaners“ umfassen das poetische Konzept dieses Dichters, der die Tradition des Volkssängers mit der Moderne verbindet:
„Genau um 9.29 am 19. Jänner vor Christus und Mohammed sprang ich aus einer fliegenden Untertasse auf das vereiste Dach der Gebärklinik von Banja Luka…“
Und von dort aus führt uns der Dichter im rasenden Galopp durch ein Land, das geprägt ist von seinen Traditionen, von den politischen Verwerfungen älterer und jüngster Zeit, in der Liebe und Gewalt Hand in Hand gehen.
Der bosnische Dichter Admiral Mahić (1948 – 2015) war Mitbegründer des P.E.N. Zentrums von Bosnien-Herzegowina, Herausgeber des Magazins „Republika poezije“ und einer alljährlich stattfindenden Künstlerkarawane durch die Herzegowina. Vor allem aber war er, so der Verlagstext, ein „Philanthrop und Weltbürger“, „Vertreter einer ekstatischen Poesie, die das Leben feiert, aber auch Echoraum für das multikulturelle Milieu Bosniens und die historischen Verwerfungen in diesem Raum“ sind.
Deutlich wird dies beispielsweise an einem Gedicht, das vergleichsweise kurz und sehr konkret ist und sich auf die Brücke bezieht, an der 1914 das Attentat verübt wurde, das die Welt erschütterte:
Princips Brücke
Wasser tropft aus einem jungfräulichen Speier. Es brennt mir in der Hand.
Der Brücken-Attentäter taumelte in die Denkerstube. Eine Waffe kann auch eine Abenteuerreise bescheren …
Die Türen der Tramway öffnen sich: Archivalien steigen aus unter der Achsel des Richters.
Da wo Princip stand befinden sich jetzt zwei Ampeln und Verkehrszeichen die auf Passanten schießen.
Wie oben bereits bemerkt, bildet dieses Gedicht in seiner Konkretheit beinahe eine Ausnahme unter den „flirrenden Visionen“, die von Wind, Glut und Kraft dieser europäischen Region geprägt sind, von einem Dichter geschrieben sind, der von sich selbst sagt:
Falls ich noch in diesem Leben weile muss ich mich vergiftet haben mit den Geräuschen des Surrealen …
„Flirrende Visionen“ heißt demnach auch der zweisprachige Band, der eine Art Vermächtnis für dieses dichterische Werk ist. Ausgewählt und übersetzt wurden die Gedichte von Barbara Sax, die Lektorin am Institut für Slawistik und am Institut für Bildungs- und Erziehungswissenschaften in Graz ist.
Informationen zum Buch:
Admiral Mahić Flirrende Visionen Mit einem Nachwort von Faruk Ŝehić danube books, Ulm, 2019 Hardcover, Fadenheftun, 164 Seiten, 18 Euro ISBN 978-3-946046-16-5