Marcus Hammerschmitt: Der Brief des Nachtportiers

Kraftvolle Gedichte, die einschlagen mit Wucht. “Der Brief des Nachtportiers” ist wie gemacht für schlaflose Nächte.

Bild von M. Maggs auf Pixabay

Psalm

Ich gehe unter Blüten,
denn so ist es sicher.

Fällt mich dort ein Raubtier an,
ein Heiliger mit seinem Glück,
die Zähne werden stumpf,
das irre Lächeln schwindet,
der Blütenschnee macht sie ermatten.

Auch Borke, Rinde, Federvieh.
Alles was sich weiß und rosa
in die Lüfte windet. So sänftigt
die Natur das Gift des hohen Säugetiers.

Es duftet. Es ist weich.
Federn, Blüte, Haargesichte.
Wir hätten was zu essen
und fühlten uns geliebt.
Das gute Ende der Geschichte.

Marcus Hammerschmitt, “Psalm” aus
“Der Brief des Nachtportiers”


Vielleicht sind dies die passenden Gedichte für Tage wie diese, in denen Sicherheiten schwinden und es keine Eindeutigkeiten mehr gibt. Alles wirkt “klassisch halb”, wie Marcus Hammerschmitt eines seiner Kapitel nennt. “Manchmal ist alles beseelt”, doch diese Momente sind selten. Meistens ist nichts, wie es scheint, und jedes Ding hat seine zwei Seiten:

“Ich trag ihn rum und zeig ihn vor,
den köstlich verrotteten Jahrgang.”

Die Zyklen in diesem Gedichtband führen in die Ferne, in das mauretanische Zouerate unter anderem, und führen zurück in die Heimat, die “Verschränkung” ist. Dazwischen Fein- und Grobalchemie und “Sexy Science”. Eine große thematische Bandbreite, die unter dem Mikroskop jedoch wiederkehrende Themen offenbart – wie der Mensch sich Natur aneignet, wie er versucht, eine ungezähmte Materie zu bändigen, die sich ihm aber immer wieder aufs Neue entzieht. So heißt es in dem Gedicht “Der Mond ist auf”:

“Die Nacht erzwingt den Wald.
Der Wald erzwingt die Gedanken.
Scherenschnitte erzwungen.”

Sprachlich sind diese Gedichte einfach kraftvoll, das sind Metaphern, die erst einmal einschlagen mit einer eigenartigen Wucht und dann Gedankenströme freisetzen. “Der Brief des Nachtportiers” erzwingt keine Scherenschnitte, sondern Lesenächte, in denen man die Zeilen gedanklich wiederkäut, enträtselt, weiterschreibt. Wunderbar!


Der Autor, Schriftsteller, Journalist und Fotograf, gibt Selbstauskunft auf seiner Homepage: http://marcus-hammerschmitt.de/

“Der Brief des Nachtportiers” ist sein erster Lyrikband, veröffentlicht bei der “Edition Monhardt”, wo 2016 auch sein Erzählband “Waschaktive Substanzen” erschien.


Informationen zum Buch:

Marcus Hammerschmitt
Der Brief des Nachtportiers
Edition Monhardt, 2019
Gedichte, 84 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, Lesebändchen, 21,00 Euro
ISBN 978-3-9817789-6-0

Trailer zum Gedichtband: https://www.youtube.com/watch?v=7PjtSmmsy0E

Lia Sturua: Enzephalogramm

Eine große Stimme der georgischen Literatur: Die Gedichte der Lia Sturua treffen Herz und Verstand.

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Unergründlich? Das menschliche Gehirn und seine Zellen. Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Verrat, Schmerz, nagelreiche Stellen
über mich, wenn ich Korrektur lese,
kann es sein, dass ich einen Druckfehler mache –
eine kleine Lüge,
Hauptsache, man glaubt mir den Text!

Lia Sturua, „Enzephalogramm“


Schreiben, das ist ein ewiges Ringen um das richtige Wort, die Suche nach dem wahrhaften Ausdruck. Selten ist mir das so bewusst geworden wie bei der Lektüre der Gedichte von Lia Sturua. Da spricht eine Stimme zu uns, mal rau, spröde, mal wild, mal zärtlich und liebevoll, aber auch melancholisch und beinahe verbittert. Ihre Gedichte treffen mitten ins Herz und bewegen das Hirn: Dem oftmals nüchternen, der Realität verhafteten Beginn folgen surreale Bilder, überraschende Gedankenvolten, die beim Lesen Einhalt gebieten, zum Nachdenken bringen, enträtselt werden wollen. Da ist eine, die auf der Suche ist nach den Bildern, die den Windungen ihrer Gedankengänge entsprechen – das ist beeindruckend, das ist manches Mal auch verstörend, aber vor allem ist es überragend schön.

Eine Kartografie der Gefühle

Es ist, als lege die georgische Schriftstellerin mit ihren Gedichten eine Kartografie der Gefühle an im Widerstreit mit dem, was ihr der Verstand eingibt – die Vielfalt der Gedanken, erfasst in einem „Enzephalogramm“. Mit diesem nüchternen medizinischen Begriff ist der erste Gedichtband mit Übertragungen ihrer Lyrik ins Deutsche der nunmehr 80-jährigen Autorin betitelt. Dass wir ihren Hirnströmen folgen dürfen, ist der Übersetzung von Nana Tchigladze und der Nachdichtung durch den Verleger Stefan Monhardt zu verdanken – sie machen uns eine ganz besondere Stimme der georgischen Literatur zugänglich.

„Enzephalogramm“ umfasst vor allem Gedichte aus den beiden letzten Bänden, die die Lyrikerin in Georgien veröffentlichte: Zeilen einer älter werdenden Frau, die von Einsamkeit und Vergänglichkeit sprechen, von Verlusten, vergangenen Lieben, nie geborenen Kindern. Lia Sturua beschönigt dabei nichts, zieht ganz nüchtern Bilanz, die Bilanz eines langen Lebens:

(…) wie damals, als ich noch zur Begeisterung fähig war –
zu kräftiger Begeisterung; Hymne, Kapelle,
Symphonieorchester!
Für eine Glühbirne und den in die Tür eingeklemmten
gelblichen Streif genügt auch Kammermusik,
mezza voce, die leise Freude,
dass jemand zu Hause ist, und wenn keiner,
der entsprechende Gram, eine Salonform der Verzweiflung,
die mit knirschenden Zähnen auf mich wartet
als das Wirklichste, das es heute noch gibt.

Die große Dame der georgischen Lyrik – ihre erste Gedichtsammlung veröffentlichte die Philologin bereits 1965, es folgten weitere Lyrikbände, Essays und ein Roman – wirft dabei in ihren Gedichten einen unerbittlich klaren Blick auf sich, aber auch auf die Außenwelt.

(…) Manchmal gewöhnt man sich an einen Menschen
wie an ein Ding oder an das Brot,
an die Alltäglichkeit,
manchmal entdeckt man es und läuft weg (…)

Die Gleichsetzung von Menschen und Dingen, sie gehört zum poetischen Kosmos der Lia Sturua, die so nüchtern über die Angelegenheiten des Körpers einer (älterwerdenden) Frau spricht, zugleich aber einen „letzten Gedanken“ der „Beseeltheit eines Stuhls“ widmet.

Ihre Zeilen stehen da, als müsse sie sich immer wieder auch ihrer selbst versichern: Als Frau, als Liebende, als Schreibende – die Rolle der Dichter greift sie immer wieder auf, ironisch in der Außenbetrachtung, durchaus auch bissig wie in dem Poem „Nach Motiven von Platon“ oder in „Wer bist du jetzt?“:

Dichter, süß wie Zuckerwatte,
oder unreife Diebe,
dass noch die Luft davon Zahnschmerzen bekommt?

Allen Zeilen haftet diese unmittelbare, zumindest mich sehr tief berührende Wahrhaftigkeit an – denn; „ (…) ein Enzephalogramm kann nicht lügen“. Ein Jahr nach dem Gastland-Auftritt Georgiens gibt es aus der Literatur dieses Landes immer noch so viel zu entdecken – Lia Sturua ist dabei ein ganz besonderer Schatz!

Hervorzuheben ist auch die handwerklich liebevolle Gestaltung des Bandes, der in einer nummerierten Auflage erschienen ist. Für Liebhaber der georgischen Schrift sind alle Gedichte im Original der deutschen Übertragung gegenübergestellt.


Bibliographische Angaben:

Lia Sturua
„Enzephalogramm“
Edition Monhardt, 2018
23,00 Euro, Hardcover, Lesebändchen, Fadenheftung, 124 Seiten
ISBN 978-3-328-9817789-4-6

Ein Blick auf das besondere Verlagsprogramm der Edition Monhardt ist sehr zu empfehlen: https://monhardt.de/