Ein wacher Geist, eine kritische Stimme: Alain Lance ist einer der großen französischen Lyriker. Volker Braun besorgte eine gelungene Auswahl seiner Gedichte.
Jedem Leben ist Honig und Galle bereitet, und Jeglicher rudert allein seinem Ende entgegen, aber Die Wasser mögen noch anderen Fahrgästen singen Die in den Wipfeln die entschlossenen Schwärme sehn Im steten Verblühen der Jahreszeiten.
Aus “Donau oberhalb von Budapest”, aus dem Französischen übersetzt von Volker Braun.
Alain Lance, “Rückkehr des Echos”
Ob nun in den erst 2019 erschienenen “Fantȏmémoires” oder in dem bereits 1974 herausgekommenen Gedichtband “Les Gens perdus deviennent fragiles”: Da schlägt uns eine Stimme entgegen, die wahlweise zornig, bitter, ironisch und immer auch politisch ist. Und bis ins hohe Alter hinein frisch klingt: Der 1939 geborene Alain Lance beobachtet die Welt mit wachem Blick und hadert mit ihr und dem menschlichen Treiben. “Europa geht aus dem Leim” konstantiert er beinahe umgangssprachlich in seinem Gedicht “2017” und schreibt unter dem Titel “Es brennt” nur einige wenige melancholische Zeilen:
Kaum August schon fällt Das Blattwerk in Schauern sollen wir trauern Um die untergehende Welt?
Man täte diesem Dichter jedoch unrecht, würde man ihn allein auf das Politische reduzieren. Volker Braun, verbindet eine beinahe lebenslange Freundschaft zu dem Franzosen, der sich auch in mannigfaltiger Weise um die deutsch-französischen Kulturbeziehungen verdient gemacht hat. Als Herausgeber hat Volker Braun eine gute Auswahl an Gedichten aus dem Werk seines Freundes getroffen, die dessen Entwicklung aufzeigen. Im Nachwort betont Braun auf ein Zitat von Gérard Noiret hin, der Lance als einzigen politischen französischen Dichter bezeichnet:
“So lese ich ihn nicht, das macht ihn nicht aus, es ist noch immer der robuste, turbulente, anspruchsvolle Geist des Quartier Latin: dieser erstaunlichen irdischen Mischung vom Leben. Nicht nur Résistance, sein Naturell lässt ihn immer wieder Renaissance erleben, wie das Gedicht für Renate wunderbar zeigt.”
Tatsächlich bietet dieser gelungene Auswahlband eine Mischung aus direkter politischer Lyrik ebenso wie Gedichter voller surrealer Bilder und gar dadaistischen Sprachspielereien. Und dazwischen eine Botschaft an den Freund V. B.:
Schreib über Bäume Es ist kein Verbrechen mehr
Angaben zum Autor:
Alain Lance, geboren 1939 in Bonsecours/Normandie, studierte Germanistik in Paris und Leipzig. Von 1985 bis 1991 leitete er das Institut français in Frankfurt a. M., im Anschluss das Institut français in Saarbrücken und danach bis 2004 das Pariser Literaturhaus Maison des écrivains et de la littérature. In seinem 2009 veröffentlichten Buch Deutschland, ein Leben lang (2012, Matthes & Seitz) beschreibt er anekdotenreich seinen Lebensweg als Vermittler zwischen den Kulturen. Bereits 1977 erschien eine erste Auswahl seiner Gedichte auf Deutsch, schon damals herausgegeben und nachgedichtet von Volker Braun (zusammen mit Paul Wiens). Alain Lance ist neben seiner schriftstellerischen Arbeit auch als Übersetzer tätig, oft gemeinsam mit seiner Frau Renate Lance-Otterbein, u. a. von Volker Braun, Franz Fühmann, Ingo Schulze und Christa Wolf.
Bibliographische Angaben:
Alain Lance Rückkehr des Echos Herausgegeben von Volker Braun Mit Nachdichtungen von Volker Braun, Richard Pietraß, Gabriele Wennmer, Simon Werle und Ludwig Harig. Faber & Faber, 2020 ISBN 978-3-86730-171-8
In dem mit dem “Prix Goncourt” ausgezeichneten Roman setzte sich Simone de Beauvoir mit dem Scheitern politischer Utopien und der Rolle der Frau auseinander.
„Sehen Sie, Sie denken doch, daß Ihre Arbeit noch vor Ihnen liegt. Vor fünf Minuten sagten Sie, daß Sie ein neues Buch beginnen werden: das setzt doch voraus, daß es Menschen gibt, die es lesen…“
„Oh! Mit größter Wahrscheinlichkeit“, sagte Robert. „Aber schließlich ist diese andere Apotheose auch ins Auge zu fassen.“ Er setzte sich in den Sessel, neben mich: „So furchtbar, wie du meinst, ist sie nicht“, fügte er heiter hinzu. „Die Literatur ist für die Menschen gemacht, nicht die Menschen für die Literatur.“
Simone de Beauvoir, „Die Mandarins von Paris“, 1954.
Es ist einer der Schlüsselsätze dieses an Schlüsselsätzen nicht armen und umfangreichen Romans: „Die Literatur ist für die Menschen gemacht, nicht die Menschen für die Literatur“ – und dies aus dem Munde Robert Dubreuilhs, der ganz offensichtlich nach dem Vorbild Jean-Paul Sartres gezeichnet ist. Im Roman wie im Leben kreist das Buch um Männer, deren Leben dem Schreiben und der Politik untergeordnet ist. Ihre Lebenswelt, vor allem die der beiden zentralen Figuren Robert und Henri, der intellektuell kühl strategisch denkende Robert einerseits, der lebenshungrige, von hohen moralischen Werten geprägte Henri, unschwer als Camus zu entziffern, andererseits, ist im Frankreich der Nachkriegszeit geprägt von Worten: Alles, was man schreibt und sagt, hat eine mehrdimensionale Bedeutung – zumindest in den Kreisen der „Mandarins“.
Europäische Schicksalsjahre
Es sind europäische Schicksalsjahre, in denen dieser Roman spielt: In Paris feiert die Gruppe um Anne, Robert und Henri zu Beginn des Buches das Ende des Krieges – doch allen ist bewusst, dass nun die entscheidenden Jahre kommen. Werden die erlebten Schrecken dazu führen, dass die Welt nun ein humaneres Gesicht erhält? Wird sich die Gesellschaft gerechter entwickeln? Werden Philosophen, sprich „Mandarins“, und nicht Macht- und Realpolitiker die Gestaltung, den Wiederaufbau einer zertrümmerten Welt in die Hand nehmen können?
Wie ein Schwarzmaler, beinahe Defätist, betritt hier der von de Beauvoir zwiespältig gezeichnete Scriassine (der für Arthur Koestler, Autor der „Sonnenfinsternis“ steht) die Bühne:
„Ich nehme an, Sie haben diesen Krieg zu sehr aus der Nähe erlebt, um ihn richtig verstehen zu können. Das ist etwas ganz anderes als ein Krieg: es ist die Liquidierung einer Gesellschaft, ja, sogar einer Welt. Der Beginn der Liquidierung. Fortschritt von Wissenschaft und Technik, ökonomische Veränderungen werden die Erde derartig erschüttern, daß auch unsere Art zu denken und zu fühlen davon revolutioniert sein wird: ungern werden wir uns daran erinnern, wer wir gewesen sind. Kunst und Literatur werden uns wie manches andere nur noch wie unzeitgemäße Zerstreuungen erscheinen.“
Schlüsselroman über die Pariser Existentialisten
Allein dieses Zitat zeigt: Der Roman ist mehr als eine fiktionalisierte Biographie, mehr als der oftmals so angepriesene Schlüsselroman über die Pariser Existentialisten und die französische Linke jener Jahre. Es ist ein Werk, das Grundthemen verhandelt: Die Kluft zwischen Idealismus und Realpolitik, die Ohnmacht angesichts der Verhältnisse der Welt, der Widerstreit zwischen Philosophie, Intellekt und politischem Handeln, die Gestaltung der Welt von morgen. In einem Abschnitt reflektiert Anne, die Weggefährtin Roberts, über politisches Handeln:
„Ich muß zugeben, daß es mir an Geduld fehlt: die Revolution marschiert, aber sie marschiert so langsam, mit kleinen und so ungewissen Schritten. Für Robert ist eine Lösung, die besser als die andere ist, gut, ein verringertes Übel hält er für etwas Gutes. Sicherlich hat er recht. Aber offenbar habe ich meine alten Träume vom Absoluten nicht ganz ausgerottet, denn mich befriedigt das nicht. Und außerdem scheint mir die Zukunft in weiter Ferne zu liegen, es fällt mir schwer, mich für Menschen, die noch nicht geboren sind, zu interessieren, ich mag viel lieber denen helfen, die ich gerade jetzt lebendig vor mir habe.“
Vor allem an einer zentralen Frage des Romans zeigt sich, wie sehr private und ethische Maximen in dieser Umbruchszeit, die den Beginn des Kalten Krieges markiert, erschüttert werden: Robert und Henri, die versuchen, abseits der kommunistischen Partei eine Sammelbewegung der Linken zu gründen, erfahren von den Gulags in der Sowjetunion. Über die Frage, ob dieses Wissen veröffentlicht werden soll, entzweien sich die beiden Männer zeitweise – Robert neigt dazu, die Informationen zurückzuhalten, um der linken Bewegung im allgemeinen nicht zu schaden, Henri hält es für eine Frage der Moral, darüber zu schreiben.
Kabale und Liebe
Anne und Henri werden so zu den eigentlich komplementären Figuren des Romans: Zwei Menschen, die, um es platt zu sagen, von einer besseren Welt in der Gegenwart träumen, aber im Grunde an ihren eigenen Verstrickungen scheitern – Anne an einer aussichtslosen Liebesbeziehung, Henri an einer Intrige, die ihn zum ungewollten Verteidiger eines Mannes macht, der Menschen an die Nationalsozialisten verriet. Im Grunde endet der Roman relativ unspektakulär: Henri richtet sich in der Literatur ein und gründet eine Familie, Anne bleibt an der Seite Roberts. Betrachtet man diesen „Rückzug ins Private“, so hat man nach diesem Roman eine pessimistische, fast fatalistische Bilanz zu ziehen: Die politischen Utopien sind an der Realität gescheitert.
Zumal der Titel „Die Mandarins von Paris“ in einem Punkt fundamental irreführend ist: In den Dynastien des chinesischen Kaiserreiches waren die Mandarine hochgebildete, elitäre Beamte, die auf allen Ebenen die Verwaltung des Staates prägten. Die Mandarine von Paris jedoch stehen außerhalb, ihre Macht- und Gestaltungskraft ist beschränkt, die politischen Strippen werden anderswo gezogen. Man könnte den Roman nun abtun als Zeugnis einiger sinnlosen Sandkastenspiele linker Intellektueller – damit täte man ihm allerdings ebenso Unrecht. Denn wenn auch die Hoffnung der Figuren auf eine sozialistische Gesellschaft zum Scheitern verurteilt ist – was wir in der wirklichen Welt heute durch den Ukraine-Krieg, die auf Putin zugeschnittene russische Politik, das Scheitern des venezuleanischen Experiments, die Umerziehungslager Uiguren in China, den kapitalistischen Machtanspruch der Volksrepublik, die Armut in Kuba und viele Beispiele mehr vor Augen geführt bekommen – das Nachdenken über bessere, gerechtere Gesellschaftsformen, dazu fordert uns dieses Buch ebenso sehr heraus, das Streben nach einer anderen Welt, sollte kein Ende nehmen.
Und am Ende geht es vor allem darum, dem eigenen Leben Sinn zu geben, die Jahre mit Anstand zu verbringen, auch darum, dass
„ (…) überleben letztlich bedeutet, daß man unaufhörlich wieder mit dem Leben beginnt.“
Natürlich wird auch die Rolle der Frau hinterfragt
Es wäre jedoch kein Roman Simone de Beauvoirs, wenn darin nicht auch die Rolle und das Selbstverständnis der Frau als gesellschaftliches Leben eine zentrale Funktion einnehmen würden. Interessanterweise haben wenige Frauen mit ernstzunehmenden Berufen in diesem Buch, das fünf Jahre nach „Das andere Geschlecht“ erschien, ihren Auftritt. Eine Ausnahme unter den Gesellschaftsdamen, Salonlöwinnen und betätigungslos vor sich hin leidenden Liebenden bildet Anne, Psychologin und langjährige Wegbegleiterin Roberts, aus deren Perspektive abschnittsweise berichtet wird. Ein fragmentiertes Selbstportrait Simone de Beauvoirs gewissermaßen. Denn während die Schriftstellerin in der Realität ja durchaus eine eigenständige Position innehatte, bleibt ihre Figur Anne relativ unselbständig, definiert sich über ihren Mann, die Tochter, den Kreis, in dem sie sich bewegt. Im Nachdenken über sich sagt Anne:
„Somit bin ich also sauber katalogisiert und, indem ich dies akzeptierte, angepaßt an meinen Mann, meinen Beruf, an das Leben, an den Tod, an die Welt, an ihre Schrecken. Dies bin ich, ganz genau ich, mit anderen Worten: niemand.“
„Niemand“ erwacht zum Leben, als sie bei einer beruflichen Amerikareise den Schriftsteller Lewis kennen und lieben lernt. Die Amerika-Kapitel heben sich in den „Mandarins“ deutlich ab, sind weniger von intellektuell-politischen Diskussionen geprägt als die Pariser Szenen, erscheinen sinnlicher und emotionaler, auch in der ausführlicheren Beschreibung der Handlungsorte. Paris, da lebt der Geist, Chicago, hier pocht das Herz.
De Beauvoir und Nelson Algren
Mit der Beschreibung dieser fragilen Fernbeziehung, an der ihre Figur leidet und wächst, ging Simone de Beauvoir in mehrerer Hinsicht ein gewisses Risiko ein. Denn auch im „echten Leben“ hatte de Beauvoir eine Liebesbeziehung zu einem amerikanischen Schriftsteller: Bei ihrer Amerikareise 1947 lernte sie Nelson Algren (unter anderem Verfasser von „Der Mann mit dem goldenen Arm“) kennen, den sie bis 1952 regelmäßig wiedersah und dem sie unzählige Briefe schrieb. Nicht zuletzt seine Darstellung in den „Mandarins“ als widersprüchlicher „Underdog“, der hilflos seinen Gefühlen ausgeliefert ist, führte bei Nelson Algren zu fundamentalen Groll, Jahre später noch äußerte er sich wenig freundlich über diese „transatlantische Liebe”.
Doch nicht nur die Sympathie Algrens setzte de Beauvoir mit diesem Roman aufs Spiel – sondern auch ihre da schon bereits beginnende Etablierung als Ikone des Feminismus. Denn ihre Figur Anne erscheint im Kontext dieser Liebesbeziehung wenig mehr selbstbestimmt als eine andere zentrale Figur des Romans, als Paule, die Geliebte von Henri. Bei jener steigert sich die Liebe, die von Seiten Henris bereits vorbei und beendigt ist, ins Wahnhafte. Die Abschnitte, in denen von der monomanischen, einseitigen Hingabe Paules berichtet wird, bilden die schwächeren Seiten dieses Buches. Zugleich aber sind sie auch der Hintergrund für Annes weitere Entwicklung: Sie selbst verliert sich in dem sinnlichen Wunsch, sich in der Liebe zu Lewis fallenzulassen, kann und will aber ebenso wenig ihren Platz an der Seite ihres intellektuellen Mannes – der auf die Affäre erstaunlich kühl und gelassen reagiert – verlieren. Sie entscheidet sich letztlich für Frankreich – nicht aus vollem Herzen, aber auch nicht ganz resigniert:
„Entweder versinkst du in Gleichgültigkeit, oder die Erde bevölkert sich neu; ich bin nicht versunken. Da mein Herz weiterschlägt, muß es wohl für etwas, für jemanden schlagen. Da ich nicht taub bin, werde ich neue Anrufe vernehmen. Wer weiß? Vielleicht werde ich eines Tages von neuem glücklich. Wer weiß?“
Simone de Beauvoir hat diesen Roman, der mit dem „Prix Goncourt“ ausgezeichnet wurde, Nelson Algren gewidmet. Als sie 1986 neben Sartre bestattet wurde, trug sie am Finger einen Ring. Den billigen Kupferring, der Anne von Lewis bei ihrer ersten Begegnung in den USA über den Finger gestreift wurde.
Die Bücher Simone de Beauvoirs sind beim Rowohlt Verlag als Taschenbuch-Ausgaben erhältlich.
Die größten Reisen finden im Kopf statt. Dies dachte sich Xavier de Maistre, als er wegen eines Duells Stubenarrest bekam. Er reiste einfach um sein Zimmer.
„Heute wollen gewisse Leute, von denen ich abhängig bin, mir meine Freiheit wiedergeben, als ob sie mich ihrer beraubt hätten! Als ob es in ihrer Macht stände, sie mir einen einzigen Augenblick zu entziehen und mich zu hindern, durch den unendlichen, mir stets zugänglichen Weltenraum nach meinem Belieben zu reisen! – Sie haben mir untersagt, durch eine Stadt, einen geographischen Punkt, zu laufen; aber sie haben mir das ganze Universum überlassen: Die Unermesslichkeit und die Ewigkeiten stehen zu meinen Diensten.“
Xavier de Maistre, Reise um mein Zimmer, 1795.
Wenn man vom Reisen spricht, dann kommt unter Garantie jemand daher, der Blaise Pascal zitiert: „Das ganze Unglück der Menschen rührt aus einem einzigen Umstand her, nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.“
Zwar war der französische Aristokrat und Offizier Xavier de Maistre (1763-1852) beileibe kein Stubenhocker, aber auch er lernte (zwangsweise) das Konzept der Zimmerreise lernen und schätzen. In Turin zu 42 Tagen Zimmerarrest verurteilt – wie es sich für einen Adeligen gehört, wegen eines unerlaubten Duells – schrieb er 1790 seinen Roman „Voyage autour de ma chambre“, der fünf Jahre später in Lausanne erstmals veröffentlicht wurde.
Der junge Mann nutzte den Stubenarrest perfekt: Denn die größten Reisen finden bekanntlich im Kopf statt. Und wenn der Körper unfrei ist, dann können doch die Gedanken umso freier spazieren gehen. So ließ Xavier, allein zuhause, seinen Ideen freien Lauf.
Imaginäre Diskussionen mit Platon und Perikles
Und die kreisen um all jenes, was den Chevalier jener Tage bewegte: Kleine Liebeshändel und größere politische Fragen, Erinnerung an Waffengetümmel und Liebesschlachten, Philosophisches und Handfestes. In seiner Imagination diskutiert er mit Platon und Perikles, korrigiert ganz nebenbei den Eid des Hippokrates und trifft Werthers Lotte.
Der Zimmerausflug führt zu einer Tour de Force durch den damaligen Stand der Philosophie, der Geistes- und Naturwissenschaften, aber auch der Waffenkunst dieser Tage – de Maistre macht in seinen Gedankenflügen vor keinem Thema halt.
Dies alles ist mit leichter Feder geschrieben – charmant und sprunghaft. De Maistre legt ein Tempo an den Tag, bei dem nur erfahrene Reisende mit guter Konstitution mithalten können. Und mit viel Phantasie. Da wird beispielsweise das Abtauchen in die Schreibtischschublade zum Ausflug mit überraschendem Ausgang: „Ähnlich einem Reisenden, der im Eiltempo flüchtig ein paar oberflächliche Eindrücke sammelnd, durch einige Provinzen Italiens fährt, um sich für ganze Monate in Rom niederzulassen.“ So tat es Goethe im Land, wo die Zitronen blühen, so tat es de Maistre in seinem Schreibtisch, wo die Gedanken blühen.
Ein Buch “gewitzter Lebenskunst”
Zur Wiederauflage des Zimmerromans 2011 beim Aufbau Verlag urteilte Wolfgang Schneider im Deutschlandfunk:
„Nach über 200 Jahren bezaubert de Maistres welthaltige Weltflucht immer noch durch ihr ebenso geschliffenes wie unangestrengtes Parlando. Es ist eine einzigartige Verbindung von Rokoko und Revolution.“
Die “Reise um mein Zimmer” sei ein Buch „gewitzter Lebenskunst“:
„Gerade in der Enge soll sich der Blick weiten; der Beschränkung sollen unverhoffte Freiheiten abgewonnen werden. Das hat auch einen politischen Zusammenhang. Hintergrund des 1794 erschienenen Buches war die Französische Revolution und die Entmachtung des Adels. De Maistres Zimmerhaft, die mit Contenance absolviert wird, lässt sich als Metapher lesen.“
Ein eloquenter Reiseführer
Auf das Buch wird oft verwiesen und oftmals auch weckt der Titel falsche Vorstellungen: De Maistre reist nicht gedanklich um die Welt, sondern um die Welt der Gedanken. Das Äußerste an wirklicher Aktion sind Schäkereien mit Hündchen Rosine und ein Sturz vom Stuhl. Es braucht nicht mehr, um Reisen zu können, wenn man de Maistre heißt. Als Leser bereut man es nicht sehr, den Weg mitzugehen – schließlich ist de Maistre ein eloquenter Reiseführer.
Wer mit dem Franzosen weiter reisen will: De Maistre ließ dem „Zimmerroman“ – ein Format, das zu jener Zeit in Frankreich modern wurde – noch eine „Nächtliche Entdeckungsreise um mein Zimmer“, folgen sowie weitere Romane, deren Titel sich verdächtig nach Abenteuerschinken anhören, beispielsweise „Der Aussätzige von Aosta“ und „Die junge Sibirierin“.
Offensichtlich hielt es den französischen Autoren dann jedoch nicht mehr am Schreibtisch – statt um sein Zimmer zu reisen, erkundete er erst einmal einige Länder Europas, bevor er sich bis zu seinem Tod in St. Petersburg niederließ.
Albert Londres war das französische Pendant zu Egon Erwin Kisch. Tucholsky würdigte ihn “als Nummer für sich”. Ein rasender Reporter, ein brillanter Literat.
„Er reist wie andere Opium rauchen oder Kokain schnupfen. Das war sein Laster. Er war abhängig von Schlafwagen und Passagierdampfern. Und nach jahrelangen unnötigen Fahrten durch die ganze Welt war er sich ganz sicher, daß weder ein noch so verführerischer Blick einer intelligenten Frau noch die Verlockung eines Geldschranks für ihn den teuflischen Charakter einer einfachen, rechteckigen, kleinen Zugfahrkarte hatten.“
Albert Londres, „Ein Reporter und nichts als das“
Liest man die Reportagen von Albert Londres, dann drängt sich der Vergleich zu einem anderen Reporter-Star dieser Zeit, Egon Erwin Kisch (1885-1948), förmlich auf. Während Kisch deutschen Journalisten bis heute ein Vorbild ist und seit 1977 der nach ihm benannte Preis für aufklärenden, investigativen und sprachlich niveauvollen Journalismus, vergeben wird, so ist Londres (1884 – 1932) das französische Pendant: Dort gilt er nach wie als Inbegriff des „rasenden Reporters“, seit 1933 gibt es den Albert-Londres-Preis für investigativen Journalismus.
Tucholsky würdigte den Reporter 1925 in der „Weltbühne“:
„Albert Londres ist eine Nummer für sich. Man stelle sich einen Egon Erwin Kisch vor, der nicht aus Prag stammt – das geht nicht –, also man denke sich einen gebildeten Mann, der von einer großen Reporterleidenschaft wirklich besessen durch die Welt getrieben wird. Londres ist ein Reporter und nichts als das: keine langatmigen Untersuchungen, keine exakten Dokumente, sondern: Wo ist etwas los? Ich will dabei sein! Ihr werdet lesen.”
Doch es musste fast 90 Jahre dauern, bis einige seiner ausgewählten Reportagen in deutscher Sprache erschienen. Vor allem „Die Andere Bibliothek“ kann sich einmal mehr dieses Verdienst anheften. „Ein Reporter und nichts als das“ – der Titel ist dem Tucholsky-Zitat entnommen – bündelt drei Reportagen des Franzosen, die verdeutlichen, warum er ein Vorbild für viele Journalisten – insbesondere jene, die die literarisch gehobene und politische Reiseberichterstattung pflegen – wurde.
Reportagen aus dem Herz der Finsternis
Die drei Reportagen „China aus den Fugen“ (1922), „Ahasver“ (1929/1930) und „Perlenfischer“ (1931) sind journalistische Kunststücke und literarische Juwelen. Brillant geschrieben, von einer stilistischen Eleganz und formalen Vielfalt geprägt, reißen sie den Leser mitten hinein ins jeweilige Herz der Finsternis, nehmen ihn mit auf die Reise und übertragen auf ihn diese Mischung aus kontemplativen Flanieren, Schauen und Beobachten und der Atemlosigkeit, die eintritt, wenn die Ereignisse sich überstürzen und der Reporter sich plötzlich mitten im Auge des Sturms befindet.
Einer der berühmtesten Journalisten seiner Zeit
Unbeteiligt, unvoreingenommen, aber niemals distanziert blickt Londres, der seine Reporterkarriere beim „Le Matin“ begann, später bei Le Petit Journal und bei Excelsior zu einem der bestbezahlten Vertreter seiner Zunft wurde, auf die örtlichen Begebenheiten, auf die politischen Unruhen, die Ränke der Machthaber, das alltägliche Leid der Unterdrückten, gemäß seinem Wahlspruch:
„Notre rôle nest pas dêtre pour ou contre, il est de porter la plume dans la plaie.“ – Unsere Rolle besteht weder in einem Dafür noch einem Wider, wir müssen die Feder an die Wunde setzen.
Dies tut Londres mit etlichen Berichten, die für Aufsehen, politische Diskussionen und Veränderungen sorgen, sei es über die französischen Straflager in Französisch-Guayana, die Zustände in Nervenheilanstalten oder aber auch sein Bericht über die Tour de France, wo er als einer der ersten einen Dopingfall aufdeckt.
Nachwort von Marko Martin
Zwar betonte er von sich selbst, ein Reporter sei stets unvoreingenommen, kenne keine Linie, außer der einzigen, der Eisenbahnlinie – doch Londres, so mag man wie Marko Martin im Nachwort des Buches vermuten, ist ein „Herzens-Anarchist“. Zuweilen verlässt er die Position des Beobachters und wirbelt gehörig mit, rettet nebenbei eine Kurtisane („China aus den Fugen“) oder ermahnt die Perlenketten tragenden Damen, angesichts ihres Schmucks („Perlenfischer“) nicht zu vergessen, wieviel Blut das Geschmeide die ausgebeuteten Perlentaucher kostet.
Auch wenn sich Albert Londres wohl gerne weltläufig und kaltschnäuzig gab – er war nicht „nur“ ein Reporter, sondern mehr als das. Spürbar wird dies in der umfangreichsten der drei Reportagen, in „Ahasver ist angekommen“. Obwohl kein Jude, wird die Sympathie des Reporters für das jüdische Volk in diesem Bericht, der ihn rund um die Welt führt, mehr als deutlich. Schon das Unternehmen an sich ist von sagenhaftem journalistischen Ehrgeiz – Londres reist 1929 über London in die Tschechei, die Karpaten und weiter via Czernowitz, Lemberg und Warschau nach Palästina. Er schildert die bedrückende Situation der Ostjuden, die Armut, die Ausgrenzung, die ewige Flucht, aber auch die Kluft zwischen orthodoxem Judentum und den jungen Zionisten, für die Palästina gleichzeitig Sehnsuchtsort und Heilsversprechen ist.
Auf den Spuren von Hiob und dessen Kindern
Auch für Londres ist Palästina Endpunkt der Reise, dort angekommen, gerät er mitten hinein in das politische Spannungsfeld zwischen Engländern, Arabern und Juden. Die Reportage, wenige Jahre vor seinem Tod entstanden, ist eines seiner Meisterstücke, eine eingehende Abbildung der bedrückenden Lebenssituation der osteuropäischen Juden kurz vor dem Massenmord.
„Polen, Rumänien sind aus Rußland hervorgegangen. Aber Polen und Rumänien haben aus Rußland ihren Vorrat an Antisemitismus erworben. Ein Jude ist dort immer ein Jude. Unter Umständen ist er ein Mensch, aber in jedem Fall ist er weder Pole noch Rumäne. Und wenn er Mensch ist, dann muss man ihn daran hindern, groß zu werden. Von der ganzen Geschichte der Juden hat Osteuropa nur die von Hiob behalten. (…). Das jüdische Problem ist kompliziert, aber ich glaube, daß es sich in einer Frage nach der Luft zusammenfassen läßt. Atmen oder nicht atmen können. Nicht mehr und nicht weniger.“
Verlagsinformationen zum Buch:
Albert Londres Ein Reporter und nichts als das Übersetzt von Petra Bail und Dirk Hemjeoltmanns Die Andere Bibliothek, 2013 ISBN: 978-3-8477-0348-8
„Dieser Kritiker ist mit einem Wort beschrieben: Langeweile. Der Junge langweilt sich und versucht, alle anderen mitzulangweilen. Sein Ausgangspunkt ist der Neid; aber er verleiht seinem Neid und seiner Gelangweiltheit Format.“
Ordnung: Kritiker; Gattung: Der große Kritiker; Art: Der Scharfrichter
„Frankreich hat den größten Respekt vor allem, was langweilt. Darum gelangt der Vulgarisator im Nu zu einer Position: Vermöge der Langeweile, die er verbreitet, gilt er auf Anhieb als wichtiger Mann.“
Ordnung: Der Publizist; Gattung: Der Nihologe
„Der Mann fürs Grobe will sich einen Namen machen, oder hofft es zumindest, indem er sich an die großen Namen heranmacht; er ist bekannt dafür, dass er sich die Bücher greift, um ihnen das Rückgrat zu brechen, er ist vereidigter Schlachter.“
Ordnung: Der Kritiker; Gattung: Die kleinen Journalisten, Art: Der Mann fürs Grobe
Honoré de Balzac, „Von Edelfedern, Phrasendreschern und Schmierfinken“
Mit seiner „Menschlichen Komödie“ unternahm der französische Romancier in wahrhaft gigantomanischer Manier den Versuch, ein komplettes Sittengemälde seiner Zeit zu zeichnen. Dem lag seine Annahme zugrunde, die Menschheit sei mit dem Tierreich vergleichbar – trotz individueller Züge könne jeder Mensch einer bestimmten sozialen Gattung zugeordnet werden.
Was „La Comédie humaine“ im großen Ganzen zugrunde lag, das wandte Balzac auch auf einen Text an, der 1843 erschien: „Die Monographie de la presse parisienne“. Eine zoologisch anmutende Katalogisierung der Pressetypen. Rudolf von Bitter, Kulturchef beim BR, hat diese Mischung aus Satire, Pamphlet und Essay erstmals ins Deutsche übersetzt, erschienen ist der Text, ergänzt durch Balzacs „Brief an die französischen Schriftsteller“ und weitere Beispiele, die sein prekär-streitbares Verhältnis zu Kollegen und Kritikern beleuchten, 2016 beim Manesse Verlag.
Die gereizten Fehden mit der Feder
Balzac war ein temperamentvoller und empfindlicher Mensch: Und so ist seine Monographie eine bissige Abrechnung mit Journalisten, eine Presseverurteilung der literarisch gehobenen Art, gespeist wohl auch von einer inneren Wut. Rudolf von Bitter ordnet in seinem umfangreichen Nachwort die Polemik – „eine systematische und systematisch verunglimpfende Streitschrift gegen „die Journalisten“, gegen „die Presse“, mit einer Anordnung einzelner Charaktertypen wie im Biologiebuch, nach dem Vorbild von Carl von Linné mit seinen Rangstufen von Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät, voll ausgesuchter und offenbar über die Jahre aufgesammelter Einfälle und Wortspiele“ – sachlich ein und zeigt auf, in welche Fehden mit der Feder sich Balzac im Laufe seines Lebens begab. Sein Hinweis, beim Lesen des Textes Verständnis für die Nöte Balzacs mit den dargestellten Typen zu haben, ist wichtig – auch mit dem Blick auf die Medienlandschaft heute. Auch wenn man bei manchem Absatz schmunzeln und an die eine oder andere Figur aus dem aktuellen Medienbetrieb denken mag: Balzacs Text ist eine subjektive, aus persönlichen Erfahrungen und Verletzungen gespeiste Polemik.
Bei Dina Netz vom Deutschlandradio hinterließ das Buch auch einen faden Beigeschmack:
„Und dass vieles, was Balzac analysiert, auch heute noch gilt, verleiht dem Buch zwar Aktualität, aber auch einen faden Beigeschmack. Denn die pointierten, bösen Bonmots über Journalisten und Kritiker ähneln allzu sehr billigen “Lügenpresse”-Vorwürfen unserer Zeit. Balzacs spitze Feder ist den heutigen flachen Pamphleten zwar um Längen überlegen. Trotzdem sehnt man sich angesichts von zunehmendem Rechtspopulismus in Europa, Donald Trump und AfD eher nach differenzierten Betrachtungen als nach vereinfachenden Polemiken. Seien sie noch so treffend beobachtet und pointiert formuliert.“
Sieht man Balzacs Text als das, was er ist – eine überspitzte Polemik – dann kann man ihn jedoch mit großem Amüsement lesen, wenn auch manche Zeitbezüge trotz erläuternder Fußnoten und informativen Nachwort das Verständnis an manchen Stellen erschweren. Alles in allem ist die Monographie über die Pariser Presse vor allem ein Schätzchen für Balzac-Leser und Liebhaber der großen Epoche des französischen Dreigestirns.