Buchmesse Leipzig: Messe lebt, Buch ist tot?

Die Leipziger Buchmesse überraschte mit einem Besucheransturm. Das stärkt hoffentlich vor allem den unabhängigen Verlagen den Rücken: Denn die Zeiten sind schwierig für die kleinen, engagierten Buchmacher.

Vor vielen Jahren, als ich das erste Mal vor dem Presseeingang zur Leipziger Buchmesse in der Schlange stand, gestand ich meinem Nachbarn in der Reihe, wie sehr ich mich auf die vielen Lesungen freuen würde. Jung und dumm, wie ich da noch war. Er, ein bereits etablierter Protagonist in diesem Zirkus, schaute mich irritiert an, die High-brow wurde noch etwas higher und meinte nur knapp: “Profis gehen hier doch nicht auf Lesungen.”

Jetzt, Jahre später, musste ich wieder an Mr. High-brow denken – er ist nicht mehr aktiv, aber andere dieser Art wachsen nach. Und dennoch: Ich mag mir die Lust speziell an der Leipziger Buchmesse, die Vorfreude und auch die Energie, die die Begegnungen dort auslösen, nicht nehmen lassen. Und dieses Mal, nach langer Pause und insbesondere nach den Schwanengesängen im vergangenen Jahr, als manch einer begann, den Sinn zweier deutscher Buchmessen im Jahr in Frage zu stellen, war die Euphorie besonders groß. Nicht nur bei mir, glaube ich. Das war – ganz besonders in der Halle 5, wo viele unabhängige Verlage zu finden sind – einfach greifbar.

Buchmesse meldet überraschend hohe Besucherzahlen

Die Messe, so meldet es die Tagesschau, ging mit weitaus mehr Besuchern zu Ende, als erwartet wurde: Das lässt hoffen! Die Messe meldet 274.000 Besucher. Insbesondere für das ganze Spektrum der Indieverlage ist die Leipziger Buchmesse enorm wichtig – hier, bei dieser Publikumsmesse, erhalten sie Sichtbarkeit, kommen in Kontakt mit ihren Leserinnen und Lesern, können ihre Progamme und Programmatik erläutern und nicht zuletzt wandern auch etliche Bücher über den “Ladentisch”. Und in diesen Zeiten, in denen die kleinen Verlage vor enormen Herausforderungen stehen, die Produktionskosten für Bücher sich beinah verdoppelt haben, ist dieser Kontakt ganz besonders wichtig.

“Das ist einfach großartig hier, wie viele Menschen interessiert an den Stand kommen”, zeigte sich Andrea Richter bei der Edition Faust begeistert von der speziellen Leipziger Atmosphäre – der Verlag war einer von mehreren, die ich auch in der Pressearbeit betreue, die nun erstmals bei dieser Frühjahrsmesse dabei waren.

Leipziger Buchmesse 2023 aufgenommen am Donnerstag (27. April 2023) in Leipzig. Foto: Leipziger Messe/Jens Schlueter

Netzwerk Schöne Bücher mit origineller Aktion

Mr. Highbrow seufzte seinerzeit leidvoll, weil man auch als Pressemensch nicht umhin kam, mit den Besucher*innen der Manga-Comic-Con in Berührung zu kommen. Und auch heuer gab es wieder die eine oder andere Stimme, die bemäkelte, dass man in Halle 1 jede Menge Gimmicks, aber kein Buch zu sehen bekäme … zugleich aber wird beklagt, “dass die Jugend” nicht mehr liest. Nur: Im Elfenbeinturm, so ganz unter sich, bei gepflegten Diskussionen, löst man keine Krise, gewinnt kein neues Publikum. Offensiv und pfiffig ging beispielsweise das Netzwerk Schöne Bücher die ganze Geschichte an: Interessierte bekamen ein Stickeralbum und konnten bei den beteiligten unabhängigen Verlagen die jeweiligen Sticker einsammeln, fleißige Sammler bekamen eine Überraschung. “Dadurch kamen durchaus auch Leute an den Stand und interessierten sich für die Bücher, die wir sonst nicht erreichen würden”, erzählte Annette Stroux von der STROUX edition, auch erstmals dabei.

Literaturblogs und Literaturvermittler

Vielleicht sind auch dies neue Wege, die jüngere Menschen wieder zum Lesen und zum Medium Buch bringen könnten. Die von manchen verschmähte “Eventisierung” der Literatur. Anders, als mit Offenheit und Offensiven geht es jedenfalls nicht – und was daraus entstehen kann, das zeigt sich gerade auch an den vor zehn Jahren im Feuilleton noch häufig belächelten “Blogs mit Kaffeetassen”: Nicht wenige dieser Literaturvermittler haben auf ihren Social Media-Kanälen inzwischen eine Reichweite, die staunen lässt. Es braucht alles: Die fundierte, kenntnisreiche Kritik und die Begeisterung und Leidenschaft von buchaffinen Quereinsteigern, es braucht die literarische Auseinandersetzung mit einem Werk ebenso wie die literarische Aktion.

Unstrittig ist dennoch, dass die Leser*innenzahlen zurückgehen, viele kleine Verlage nur auf Messers Schneide existieren und zugleich die Möglichkeiten der Sichtbarkeit immer weiter zurückgehen – viele der öffentlich-rechtlichen Sender haben die Plätze für Literatur gekappt und gekürzt und das Feuilleton der Printmedien, traditionell bei vielen Zeitungsverlegern nicht so beliebt wie der publikumsträchtigere Sport, schwächelt. Der schwindende Platz für Literaturkritik wirkt sich vor allem negativ auf die kleinen Verlage aus – kein Feuilleton kann oder will es sich leisten, einen Stuckrad-Barre nicht zu besprechen, anderes fällt hinten durch.

Wege aus der Krise

All die Entwicklungen und auch die Klagen darüber sind nichts Neues, nun aber verschärft durch die Pandemie, Lockdowns, gebrochene Lieferketten, Energiekrise usw. Doch schon vor den Krisenjahren führten unter anderem das “Tübinger Memorandum” und ähnliche Vorstöße immerhin zur Einführung des deutschen Verlagspreises, um für die lebendige Szene der deutschen Kleinverlage zumindest einen Weg staatlicher Förderung zu eröffnen. Obwohl die Vergabepraxis nicht unumstritten blieb, scheint der Ruf nach mehr staatlicher Förderung derzeit zumindest öffentlich nicht sehr virulent – vielleicht gibt es aber einfach auch der Krisen zu vieler. Dennoch: Ein Blick auf Länder wie Österreich (#meaoiswiamia) und die Schweiz zeigen – die Pflege des Kulturguts Buch wäre durchaus noch ausbaufähig.

Dinçer Güçyeter und mikrotext: Hoffnungsträger

Es war daher nicht nur der literarische Gehalt von “Unser Deutschlandmärchen”, der bei der Preisverleihung des Leipziger Buchpreises zu einem Gänsehautmoment, Standing ovations und sogar zu fließenden Tränen im Publikum führte – diese Emotionalität habe ich bislang noch bei keiner Preisverleihung so erlebt. Mir schien das beinahe wie der Befreiungsschrei einer “Branche in der Branche” (die unabhängigen Kleinverlage folgen eben doch ganz anderen Gesetzen als die Großkonzerne), die für einen Moment all die Sorgen vergessen konnte: Da haben es zwei – Autor wie Verlegerin – geschafft, die für all das stehen, was auch viele andere unabhängige Verlage ausmacht: Leidenschaft für gute Texte, Durchhaltevermögen, Beharrlichkeit, aber vor allem auch Offenheit, Offenheit gegenüber neuen Wegen im Vertrieb und Marketing, Offenheit gegenüber Menschen – die anderen Nominierten auf die Bühne zu holen, den Preis als gemeinsamen Preis aller zu feiern: Das ist es, was die Indie-Szene prägt.

Anke Glasmacher: Ein morsches Licht

Anke Glasmacher nimmt uns mit auf ihre Streifzüge durch Landschaften und Städte. Die Beobachtungen dabei: Leise, melancholisch, unerbittlich.

Bild: https://pixabay.com/de/photos/wandrelief-skulptur-gesicht-frau-6674930/

Am Lebensende

spult sich eine laufmasche
von der achillesferse
langsam nach oben

die alte frau spuckt
ein grunzen über die straße
hinter ihr bleibt

ein blutiges bein
das schwarze kleid wirft
kaum mehr schatten

Aus: “Ein morsches Licht” von Anke Glasmacher


Es sind die Nachtgedanken einer Spaziergängerin, Bilder, die man beim Umherstreifen durch die Städte pflückt, Beobachtungen der Welt um uns herum. Das ist jedoch nicht in Hochglanz verpackt, sondern in gedämpften Farben beschrieben. Die Bilder erinnern an alte schwarzweiß Fotografien, Licht und Schatten, Nachtgewächse.

“Geisterstunde” ist ein Kapitel überschrieben, und das ist trefflich: Da sind die Gezeiten ein wechselhafter Tod, die “morsches Licht” über das Kind auf der Sandbank schütten, während die “eichenschwere” Zeit nur langsam kriecht. Selbst die Leichtigkeit eines Sonnentages offenbart ihre Schattenseiten.

Stadt, Land, Fluss: Die Lyrikerin, die bereits mehrere Bände im Elif Verlag veröffentlichte, nimmt mit diesem Band die Leserinnen und Leser mit auf ihre Streifzüge durch Landschaften und Städte. Die Beobachtungen dabei: Leise, melancholisch, unerbittlich. Ein besonderes Kapitel ist der letzte Abschnitt, “An einem Freitag”, überschrieben: Ein Totentanz im November, gespickt mit eindringlichen Bildern.


Informationen zum Buch:

Anke Glasmacher
Ein morsches Licht
Elif Verlag 2020
Klappenbroschur mit Fadenheftung, 104 Seiten, 18,00 €
ISBN 978-3-946989-27-1

Die Schriftstellerin betreibt auch eine eigene Homepage: https://www.ankeglasmacher.com/

Linda Vilhjálmsdóttir: das kleingedruckte

Frauen sind im Kleingedruckten die unbekannten Größen: Diese Gedichte der isländischen Autorin Linda Vilhjálmsdóttir sind Revolutionskantaten und ein Lesegenuss nicht nur für Frauen.

das solltest du wissen
lieber leser
dass ich im geist tausend mal tausend
bittersüße gedichte geschrieben habe

um ein für alle
mal zu beweisen
dass ich eine gute dichterin bin

Fast schon wie eine Entschuldigung wirken diese Worte. Vorangestellt einem Zyklus, der zeigt, was für eine gute Dichterin Linda Vilhjálmsdóttir gerade deshalb ist, weil sie auf den bitterbösen Kram verzichtet, weil sie dichtet ohne Zuckerguß. Nach ihrem bemerkenswerten Band “Freiheit” ist “das kleingedruckte” der zweite Gedichtband der isländischen Autorin, der im Elif Verlag erscheint. Waren in “Freiheit” die Themen der durch und durch politischen und geselschaftskritischen Lyrikerin weiter gespannt, so fokussiert sie sich hier auf die Geschlechter. Und mit welcher Wucht!

Bild von Paul Bates auf Pixabay

selten
so abseits im eigenen leben

als wenn ich in frauenzeitschriften blätterte
im frisiersalon und beim zahnarzt im wartezimmer

Linda Vilhjálmsdóttir erzählt in ihren Gedichten von Rollenbildern, die auf Frauen lasten, von der Überhöhung des Männergeschlechts an sich, von den männlichen Helden, die in Walhall ausgestellt werden und von den Frauen, die trotz oder mit ihrem “zerbrechlichen selbstbildnis” die eigentlichen Kämpferinnen sind, die “unbekannten größen” im Kleingedruckten. Linda Vilhjálmsdóttir wählt in ihren Gedichten oftmals das Stilmittel der Ironie, manchmal ist sie bitterböse, manchmal sehr direkt, immer glasklar, aber eines ist sie nie: Bittersüß-kitschig.

Anrührend dagegen schon, so in einem Langgedicht, das den Frauen ihrer Familie gewidmet ist, das von den Lebensverhältnissen der Urgroßmütter, Großmütter und Mütter erzählt, davon, wie diese sich ein Stück Würde und Freiheit den Verhältnissen abtrotzten. Die Mutter, schön und schick im mühsam zusammengesparten Wollmantel, auch eine der Generation, die mit “fünfzehn die hauptschule abgeschlossen hatte und von der schule gehen musste.”

So gibt Linda Vilhjálmsdóttir auch ein Stück isländische Lebenswirklichkeit in ihren Gedichten wieder, die zeigen: Frauenleben ähneln sich, Frauenträume auch, sei es in Island, Oberschwaben oder an der Nordseeküste. Und die Dichterin fordert auf, die Verhältnisse zu ändern, sie stimmt ein in die “revolutionskantate der haremsfrauen.”

Es wundert nicht, dass dieser Gedichtband, der 2018 in Island erschien, dort über Monate hinweg zu den meistverkauften Lyrikbüchern gehörte: In ihrer Direktheit und in dieser klaren Sprache sind die Gedichte auch Leserinnen und Lesern zugänglich, die nicht unbedingt lyrikaffin sind. Ihre Ironie und Geradlinigkeit machen sie zudem auch überaus unterhaltsam.

Neben Björg Björnsdottirs sechstem Wintermonat ist dies das zweite Projekt, das Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer in diesem Frühjahr gemeinsam als Übersetzer veröffentlicht haben. Das ist großartig – zeigt doch der direkte Vergleich der beiden Bände, wie vielfältig und von welchem formalen und inhaltlichen Reichtum die Lyrik dieses kleinen sagenhaften Landes ist!

Informationen zum Buch:
Linda Vilhjálmsdóttir
das kleingedruckte
Elif Verlag, 2021
110 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 20,00 €

https://elifverlag.de/produkt/das-kleingedruckte-%c2%b7-linda-vilhjalmsdottir/

Elke Engelhardt: Sanisbar oder andere gebrochene Versprechen

Eine Dichterin im Ringen mit der Unzulänglichkeit, der Unzuverlässigkeit der Sprache. Ein Ringen, das funkelt, das Sätze birgt, die sich einprägen.

Bild: Birgit Böllinger, https://pixabay.com/de/photos/graffiti-streetart-malerei-wand-4795074/

Die kleine Frau schreibt

Erst muss man alles aufzeichnen,
dann kann man sich aufzeichnen durch einen Satz,
der etwas ins Fließen bringt,
was vorher feststand.

Ich bin die kleine Frau,
ich glaube an die Macht des Mondes,
an Ebbe und Flut.
Aber mehr noch an die Worte,
die alle Spuren verwischen,
sobald sie entstehen.

Elke Engelhardt, “Sansibar oder andere gebrochene Versprechen”


Sich selbst definieren, sich selber finden mit den unzulässigen Mitteln der Sprache – das scheint mir ein Leitmotiv zu sein in diesem außergewöhnlichen Gedichtband. Eine Poesie, der die Macht der (Ent-)Täuschung innewohnt: Sätze, die so klar und nüchtern im Stil zu sein scheinen, und mit denen dennoch alle Spuren verwischt werden.
Beispielgebend dafür ist Sansibar, Protagonist im ersten Zyklus:

Es sollte ein Roman ohne Worte werden
aber voller Gedanken
Der Ehrgeiz packte mich
es schüttelte mich
Es ging mir nicht gut
Ich war kurz davor einen Satz in mein Heft zu schreiben
einen Satz der alle Worte zum Blühen gebracht hätte
und was blüht ist vergänglich

Was blüht, ist vergänglich, was gesagt ist, kann heute wahr sein und morgen ein gebrochenes Versprechen: Eine Dichterin im Ringen mit der Unzulänglichkeit, der Unzuverlässigkeit der Sprache. Ein Ringen, das funkelt, das Sätze birgt, die sich einprägen:

Der Tod, sagt meine Mutter, ist eine schnell
heilende Wunde. Die Narben, die er hinterlässt,
sind Sache der Lebenden.

So klar die Sprache von Elke Engelhardt erscheint, so viele Geheimnisse tragen Sansibar, die kleine Frau und die lyrische Stimme im dritten Zyklus, „Die Lumpen meiner Erinnerung“, mit sich herum. Man möchte mehr davon lesen, wohlwissend, dass man den Geheimnissen eines Menschen mit den Mitteln der Sprache wohl nie auf den Grund kommen wird.


Informationen zum Buch:

Elke Engelhardt
Sansibar oder andere gebrochene Versprechen
Elif Verlag, 2020
134 Seiten, Klappenbroschur, 18,00 €
ISBN 978-3-946989-32-5

Ragnar Helgi Ólafsson: Handbuch des Erinnerns und Vergessens

„Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können“ gibt Schriftsteller Ragnar Helgi Ólafsson ein „Handbuch des Erinnerns und Vergessens“ mit.

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Bild von Igor Ovsyannykov auf Pixabay

„Worte in Form zu binden, bewahrt die Erinnerung an etwas, das wusste man in früheren Zeiten, als man sich Dinge noch merken konnte – bevor alles aufgeschrieben wurde. Platon wusste das natürlich. Und er glaubte auch, dass die neueste Technik und Wissenschaft der Antike (die Schriftsprache) ein unmittelbarer Anschlag auf das Gedächtnis der Menschen sei. Er traute dem Alphabet nicht, war ihm gegenüber mehr als skeptisch, schrieb darüber (in öffentlicher Rede!), wie das Schreiben Vergesslichkeit verursacht; ich habe es immer gut gefunden, dass er ausgerechnet darüber geschrieben hat.“

Ragnar Helgi Ólafsson, „Handbuch des Erinnerns und Vergessens“

Es ist ein tückisches Ding mit dem menschlichen Gehirn. Der eine glaubt nur das, was geschrieben steht. Ein anderer befürchtet, er könne seinem Gedächtnis nicht mehr trauen. Und dann gibt wiederum jemand den Rat: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.“ Was beinahe zynisch klingt, wenn man an die Volkskrankheit denkt, die jeden von uns am Ende seiner Tage treffen könnte: Denn es ist der Nebel des Vergessens, der mit einer Demenz eintritt, das langsame Sterben des Gehirns.

„Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können“ gibt nun jedoch der isländische Schriftsteller-Philosoph Ragnar Helgi Ólafsson ein „Handbuch des Erinnerns und Vergessens“ mit. Wie bereits in seinem Gedichtband, macht sich Ólafsson auch in diesen Prosatexten nicht zum „Laufburschen für die Wirklichkeit“, sondern treibt mit seinen Lesern ein doppelbödiges-schalkhaftes Spiel. Subtext der zwölf Erzählungen: Unseren Erinnerungen ist im Grunde nicht zu glauben, man ist meist nicht einmal der „Dramaturg des täglichen Lebens“, des eigenen Lebens, wie es in einer der überwiegend surrealen gehaltenen Geschichten heißt.

„Merkwürdig, wie es mit den Erinnerungen ist, je mehr Zeit vergeht, desto mehr fangen sie an, die Eigenschaften von Träumen anzunehmen – so dass man im Laufe der Jahre Traum und Erinnerung kaum noch auseinanderhalten kann. Zumal ein Traum, nachdem man ihn geträumt hat, natürlich auch nur eine Erinnerung ist. Vielleicht sind daher diese Ähnlichkeiten gar nicht so erstaunlich. Wahrscheinlich ist letztlich alles eine Erinnerung.“

Dieses intellektuelle Spiel mit den Fallen und Fehltritten der eigenen Wahrnehmung, der menschlichen Lust an Selbsttäuschung und den Grenzen unser Erkenntnisfähigkeit, ja, auch der Unmöglichkeit von Objektivität wird in allen diesen Erzählungen durchdekliniert. Mal surreal-fantastisch wie in „Funes der Jüngere“, eine Erzählung, die ganz bewusst an Jorge Luis Borges erinnert und an dessen Arbeitsort, der argentinischen Nationalbibliothek ihren Ausgang nimmt. Oder wie in „Ragnar, seine Freunde und ich“, meine Lieblingsstory in diesem Band, der Autor, eingepfercht in einen klapperigen Fiat Uno, gemeinsam mit einer übelgelaunten Eule und einem meckernden Satyr. Diese beiden Beispiele stehen für den intellektuellen Witz und Humor, mit dem Ólafsson Erinnerungen betrachtet.

Zentral platziert und damit der Kern dieses Handbuches, gibt die längste Geschichte jedoch ganz „Praktische Ratschläge fürs Erinnern und Vergessen“. Untertitel: „oder die Ruinenwerttheorie“. Es ist der Brief eines Mannes an eine ehemalige Geliebte, die vorschlägt, die getauschten Briefe zu vernichten, zu verbrennen. Ist es so, dass damit das einmal geschriebene, gesagte, gedachte Wort auch aus der Welt verschwindet? Kann man mit verbannten Gegenständen und verbrannten Briefen auch die Erinnerung löschen?

Und was ist Vergessen? Gnade oder Kontrollverlust?

„Es hat etwas Furchteinflößendes, Gott um Hilfe zu bitten, dass man etwas vergisst – nicht nur, weil es dann unwiderruflich verschwände – sondern weil derjenige, der auf sein Gedächtnis verzichtet, damit zugleich auf alle Möglichkeiten verzichtet, die Kontrolle über sein eigenes Leben zu behalten (Anmerkung meinerseits: Und es damit den Dramaturgen zu übergeben). Ist es nicht so? Man kann es sich nicht aussuchen, was man vergisst. Es ist unmöglich, systematisch zu vergessen … man vergisst alles gleich: Das, was einen glücklich macht, das, was einen traurig macht, was einem von Nachteil ist und was einem nützt. Aber es ist natürlich auch denkbar, dass genau dieses Sicherinnern die Wurzel allen menschlichen Übels ist.“

Ein unauflösbarer Konflikt scheinbar – doch trotz eines leichten Untertons der Melancholie ist dieses Handbuch im Grunde ein sanftes Plädoyer dafür, sich einfach auch seinen Erinnerungen, seinen Tagträumen, seinen Nachtgedanken, sich also schlicht und einfach dem Leben zu überlassen. Das kann auch auf dem Anhänger eines Traktors geschehen, auf dem man liegend durch die Landschaft gerumpelt wird:

„Die Wolken ziehen in vollkommen gleichmäßiger Geschwindigkeit über dich hinweg. Da du liegst, schaust du direkt nach oben, fühlst das Zittern des Motors im Rücken und liest mit dem ganzen Körper die Schlaglöcher auf dem Weg. Die Wolken ziehen am Himmel vorbei und du den Weg entlang … und du vergisst, daran zu denken. Du bist in diesem Augenblick da, ganz ohne es zu merken. Bist einfach da, auf dem Boden des Anhängers, in der Welt, unter dem Himmel – ganz ruhig und doch nicht regungslos. Und merkst es gar nicht.“

Die Einschätzung von Elke Engelhart bei „Fixpoetry“ kann ich nur teilen:

„Ólafssons lustvolles Spiel mit Wissen und Zusammenhängen, und wie das fehlende bzw. vorhandene Wissen den Blick auf das, was geschieht, verändert, erzeugt Kippbilder, die von Dichtern und Figuren der Literatur belebt werden. Das „Handbuch des Erinnerns und Vergessens“ lässt sich gleichermaßen von Träumen wie von philosophischen Gedankenspielen inspirieren. So entstehen Geschichten, die sowohl als gute Unterhaltung wie auch als intellektuelles Spiel überzeugen.“

Nicht vergessen werden sollten auch die beiden Übersetzer Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, die bereits Ólafssons Gedichtband wunderbar ins Deutsche übertragen haben.

Informationen zum Buch:

Ragnar Helgi Ólafsson
Handbuch des Erinnerns und Vergessens
Elif Verlag, 2020
Hardcover mit Schutzumschlag, 198 Seiten, 22,00 Euro
ISBN 978-3-946989-26-4


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