“Das Schaf des Pythagoras” ist ein Gedichtband, der mit viel Verspieltheit, skurillen Einfällen und einem heiter-gelassenen Blick auf die Welt amüsiert.
Alles kommt, wie`s kommen muss, alles gießt sich hin im Fluss, ich wart, im Regen, auf den Bus und geh, wenn er nicht kommt, zu Fuß.
Gerd Baumann, “Das Schaf des Pythagoras”
Lyrik muss für mich nicht immer hermetisch, symbolgeladen, verschlüsselt und mit Metaphern überfrachtet sein. Mein schlichtes Gemüt ergötzt sich durch aus an gehobenem Blödelsinn, da bricht dann durch, dass auch ich der Generation entstamme, die mit Heinz Erhardt sozialisiert wurde.
Und so können mich auch die verrückten, verspulten Gedichte des bayerischen Musikers und Lyrikers Gerd Baumann herrlich amüsieren: Da wird mit viel Witz und Hintersinn den großen Fragen der Menschheit nachgegangen, beispielsweise: “Was, wenn Ich nicht mehr Ich wäre, sondern Du!”. Am Ende möchte man das Du denn doch Du sein lassen. Oder warum einer den Moment, den man Leben nennt, “knetet”, dichtet und singt? Das liegt auf der Hand: “denn, wenn`s heißt: Jetzt ist`s gewesen/ gibt`s Musik und was zu lesen”.
Baumann unterhält mit seinen schrulligen Einfällen mal mit ironischen Kurzzeilern, mal gereimt, mal in freien Rhythmen, und mittendrin stößt man sogar auf eine ausgewachsene Ballade: Die “Malade Ballade vom unbekannten Mann”. Eines haben die Gedichte, trotz unterschiedlicher Form, jedoch immer gemeinsam: Sie sind, auch bei ernsteren Themen, selbst dann, wenn es politisch wird, von einer wohltuenden Leichtigkeit. Ein Beispiel:
Hase, du bleibst hier Chemnitz, Sommer 2018
Fast wär er hinterhergesprungen dem einen, vielgehassten, dunklen Fremder, der hier einfach eingedrungen, doch so blieb`s beim Augenfunkeln
und beim wohlvertrauten Grölen mit seiner Glatzen-Clique, die seit Jahren was man ja wohl noch sagen darf sagt, und – eben – unverhohlen grölt.
Doch plötzlich duckt und zuckt der Nazi wie ein gut gezähmtes Tier, da ein Stimmchen ihn zur Ordnung ruft: Hase, du bleibst hier.
Ein besonderes Faible scheint der Autor für Schafe zu haben, diese oft als dumm verpönten Tiere. Da gibt er dann den Wolf im Schafspelz und schmuggelt vollkommene Nonsense-Vierzeiler in den Gedichtband und das Langgedicht “Hintersinnige, hommage-artige Ansprache eines gerissenen Schafs an einen aus Schafsicht vermeintlich idealen Schäferhund, der am Ende nur scheinbar enttäuscht ist und besonnen, aber krude reagiert.”
Zum Autor:
Gerd Baumann studierte in München und Los Angeles Gitarre und Komposition. Er hat unter anderem die Musik für Filme von Regisseur Marcus H. Rosenmüller geschrieben, betreibt das Plattenlabel “Millaphon Records” und den Musik-Club “Milla” in München.
Zum Zeichner:
Martin Klett ergänzt die skurillen Gedichte durch witzige, in der Form reduzierte Illustrationen. Er studierte Design in München und ist Inhaber der Agentur “Perfect Accident”.
Zum Buch:
Gerd Baumann Das Schaf des Pythagoras edition lichtung im lichtung verlag, 2020 Gedichte, mit Illustrationen von Martin Kett, 2020, Hardcover, 96 Seiten, 14,90 Euro ISBN 978-3-941306-98-1
Thomas Wolfe fühlte sich von Deutschland magisch angezogen. Die Berichte seiner sechs Reisen zwischen 1926 und 1936 gleichen den Forschungen eines Ethnologen in einem fremden Land.
„Aber Deutschland ist die Heimat des Fremden. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Seit jenen Tagen, da ich es zum ersten Mal betrat, vor acht Jahren, habe ich mich niemals fremd gefühlt. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ich habe keine Möglichkeit, dies zu beweisen, aber ich glaube, es muss in dem alten übervölkerten Gehirn der Menschen so etwas wie eine Rassenerinnerung geben.“ (…) So werde ich, ohne dass ich es begründen kann, in diesen beiden Ländern immer vom Geist der Erinnerung gejagt. Es ist eine merkwürdige Tatsache, aber von dem Augenblick an, da ich dieses Land betrat, vor acht Jahren, habe ich sofort ein Wiedererkennen gespürt.“
Thomas Wolfe, „Eine Deutschlandreise. Literarische Zeitbilder 1926–1936″
Thomas Wolfe (1900 – 1938), der beinahe 2 Meter große Schriftsteller, wurde von Zeitgenossen oft als riesenhafter Junge (beziehungsweise jungenhafter Riese) beschrieben. Er neigte zum Schwärmen, Ausschweifen, Tagträumen. Dies ist auch an seinen gigantomanischen Romanen, so seinem 1929 erschienenen Debüt „Schau heimwärts, Engel!“ und „Von Zeit und Fluss“ spürbar.
Und so fühlte sich dieser amerikanische Mystiker der literarischen Moderne auch von dem Land, mit dem er väterlicherseits verbunden war, eigenartig angezogen: Von der Freundlichkeit der Menschen, der Ordnung, der Schönheit der Weinberge, von den märchenhaften Wäldern. Sechs Mal besucht Wolfe zwischen 1926 und 1936 Deutschland: Hier fand er mit Ernst Rowohlt einen geeigneten Verleger und erfuhr insbesondere bei seinem letzten Besuch zur Zeit der Olympischen Spiele in Berlin auch, wie es sich anfühlt, eine literarische Berühmtheit zu sein – seine Romane fanden zweitweise in Deutschland mehr Anerkennung als in seiner amerikanischen Heimat.
Die Texte, die während dieser Reise entstanden, versammelt ein Band im Manesse Verlag: Das Buch „Eine Deutschlandreise“ umfasst Tagebuchnotizen, die Listen über die bei den Reisen gekauften Bücher und besuchten Museen, Briefe an seine Geliebte Aline, Postkarten an die Mutter und auch die Novellen – darunter die berühmte vom „Oktoberfest“ – die von Wolfe in und über Deutschland geschrieben wurden.
Prügelei beim Oktoberfest
Gerade die Erzählung vom Oktoberfest zeigt, wie eng biographisches Leben und literarisches Verarbeiten bei diesem Schriftsteller verknüpft waren: Tatsächlich besuchte Wolfe mit dem Sohn seiner Münchner Gastwirtin das seinerzeit schon berühmteste Volksfest der Welt. Dort geriert der starke Trinker nach etlichen Maß Bier in eine heftige Prügelei. In einem Brief an seine damalige Geliebte Aline schildert er das Geschehen unverblümt und mit allen schlimmen Konsequenzen – Wolfe erlitt schwere Kopfverletzungen und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Das blutige Ende seines Volksfestbesuches klammerte er in seiner Erzählung aus, aber andere Erlebnisse seines Oktoberfest-Bummels finden sich im Brief bereits skizziert und fast deckungsgleich in der Erzählung wieder.
Mit dem Blick des Ethnologen
Thomas Wolfe nimmt dabei zeitweise den Blick des Ethnologen ein, der, geprägt von eigenen Vorurteilen (von Beginn an tritt auch der hässliche Deutsche auf, der „Hunne“ mit Stiernacken, der unmäßig isst und trinkt), der fasziniert das Treiben der anderen betrachtet, der versucht, das Fremde zu erforschen:
„Die Wirkung dieser Menschenhorden überall in der riesigen und vernebelten Halle hatte etwas beinahe Übernatürliches und Rituelles: Etwas, das zum Wesen eines Volkes gehörte, war in diesen Horden beschlossen, etwas, so dunkel und seltsam wie Asien, etwas, das älter war als die alten barbarischen Wälder, etwas, das einen Altar umwogt und ein Menschenopfer dargebracht und verbranntes Fleisch verzehrt hatte.“
Trotz diesem Anblick der Massen beim Oktoberfest, bei dem „mir das Herz gefror“ und die in Wolfe Assoziationen zu „blondbezopften“ Kriegshorden hervorrufen, bleibt der Amerikaner, was das „Wesen dieses Tiers“ anbelangt, lange blind: Auch bei seinem letzten Besuch 1936 zeigt er sich unpolitisch und eher fasziniert von der Ordnung und Effizienz der Deutschen. Ganz unverblümt lässt er in seinen Notizen seine eigenen antisemitischen Vorurteilen freien Lauf, schreibt gar darüber, wie wenig Meinungsfreiheit man in seiner Heimat habe, wenn es um dieses Thema ginge. Doch einige Erlebnisse erschüttern ihn, führen zu einem Umdenken.
Reisen durch Nazi-Deutschland
In der 1937 in einer amerikanischen Zeitung veröffentlichten Erzählung („Nun will ich Ihnen was sagen“) schildert er eine Bahnfahrt, bei der kurz vor der Grenze ein Jude verhaftet wird. Herausgeber Oliver Lubrich, der diese Erzählung auch in den Band der „Anderen Bibliothek“, „Reisen ins Reich“, aufnahm, analysiert detailreich in seinem Nachwort, wie sehr diese Erzählung die emotionale Abkehr Wolfes von seiner lang imaginierten Seelenheimat markiert.
„Es war die andere Hälfte meiner Herzensheimat. Es war die dunkle, verlorene Helena, die ich gefunden, es war die dunkle, gefundene Helena, die ich verloren hatte – und jetzt erkannte ich wie nie zuvor das ganze Ausmaß meines Verlusts – das ganze Ausmaß meines Gewinns – den Weg, der mir nun wohl auf immer versperrt sein würde – den Weg des Exils ohne Wiederkehr – und einen neuen Weg, den ich gefunden hatte.“
So ist „Eine Deutschlandreise“ nicht nur für Thomas Wolfe-Leser ein Kompendium, das verdeutlicht, welche Faszination, ja fast schon Hass-Liebe dieser Schriftsteller für Deutschland empfand, sondern auch ein Buch, das einen besonderen Blick auf ein Land kurz vor dessen größter Katastrophe aufzeigt.
Informationen zum Buch:
Thomas Wolfe, Oliver Lubrich (Hrsg.) Eine Deutschlandreise Übersetzt von Renate Haen, Irma Wehrli und Barbara von Treskow, mit einem Nachwort von Oliver Lubrich Manesse Verlag 2020 ISBN: 978-3-7175-2424-3
Die längste Zeit seines Lebens verbrachte der Hanseat Thomas Mann in Bayern. Ein kleiner Spaziergang auf seinen Spuren durch die oberbayerische Landschaft.
Manche Schriftsteller verortet man unbewusst in bestimmte Landschaften. Oder anders ausgedrückt: Ihr Werk ist geprägt von der Landschaft, in der sie lebten, in der sie arbeiteten. Man denke nur an Theodor Storm oder an Fontane.
Aber bei anderen bringe ich dagegen Lebensorte, Temperament und dessen literarischen Ausdruck nur schwer zusammen. Thomas Mann in Bayern? Obwohl der Hanseat 30 Jahre dort, also die längste Zeit seines Lebens, seinen Lebensmittelpunkt hatte, so verbinde ich mit seinem Namen mehr oder wenig sofort Lübecker Backsteingebäude oder ein Hiddenseer Reetdachhaus.
Umzug von Lübeck nach München
Ich selbst kann mir Thomas Mann nur schwer als entspannten Landmann, Wanderer in Nagelschuhen, durch die Voralpen streifend und an einem der bayerischen Seen entspannend, vorstellen. Und doch gab es das auch. Nach dem Tod von Thomas Manns Vater 1891 zog seine Mutter – die in Brasilien aufwuchs und Lübeck immer als zu eng empfand – zwei Jahre später mit den jüngeren Geschwistern von Thomas Mann nach München. Thomas folgt 1894 nach und zog in die Stadt, die ihn ebenso prägte wie Lübeck, obwohl er wohl im Herzen, sicher aber im Habitus immer ein Hanseat blieb.
Literarische Spuren von Bayern finden sich in seinem Werk zuhauf: Schon in seinem Debüt „Buddenbrooks“ wird der Norden, sprich die Hansestadt Lübeck, mit München konterkariert. Man denke allein an den Hopfenhändler Permaneder: Die wenig schmeichelhafte Überspitzung des Typs des gemütlichen, gutmütigen, aber auch bauernschlauen Münchners. Dass diese Figur mit so spitzer Feder gezeichnet ist, lag sicher auch daran, dass Thomas Mann zu jener Zeit auch für den „Simplicissimus“ arbeitete.
Hauptsächlicher Wohnort in Bayern ist und bleibt für Thomas Mann München: Hier wird er, nach einem kurzen beruflichen Abstecher in eine Versicherungsanstalt, zum freien Künstler, hier lernt er Katia Pringsheim kennen, hier baut er, dem ein eigenes Haus wichtig ist, seine Villa im noblen Viertel Bogenhausen. Damals freilich noch nicht ganz so nobel. Eine Ahnung davon erhält man in „Herr und Hund“ (1918). In dieser, einer seiner längsten Erzählungen, schildert Mann so ausführlich und akribisch wie selten anhand der Spaziergänge mit seinem Lieblingshund „Bauschan“ die Umgebung, in der er lebt:
„Und doch war die Sache schon so weit gediehen, daß diese Straßen ohne Anwohner ihre ordnungsgemäßen Namen haben, so gut wie irgendeine im Weichbilde der Stadt oder außerhalb seiner; das aber wüßte ich gern, welcher Träumer und sinnig rückblickende Schöngeist von Spekulant sie ihnen zuerteilt haben mag. Da ist eine Gellert-, eine Opitz-, eine Fleming-, eine Bürger-Straße, und sogar eine Adalbert-Stifter-Straße ist da, auf der ich mich mit besonders sympathischer Andacht in meinen Nagelschuhen ergehe (…)“
Die Adalbert-Stifter-Straße in München-Bogenhausen ist immer noch da, die 1913 erbaute Villa der Manns jedoch gibt es nur noch in einer Rekonstruktion: Das Gebäude war bei einem Bombenangriff zerstört worden, Thomas Mann ließ es 1952 vollends abreißen und verkaufte das Grundstück. 2001 wurde es nach den Original-Bauplänen wieder erbaut, aber ist seither als Luxusimmobilie in Privatbesitz.
Das Mann-Haus in Bad Tölz.
Ein anderes Haus, das sich Mann in Bayern bauen ließ, gibt es jedoch noch im Originalzustand: Die „kleine“ Villa in Bad Tölz, für die schnell wachsende Familie zunächst ein wunderbares Domizil in der Sommerzeit, dann wurde es aber von Kind zu Kind enger. Zumal hier auch „Bauschan“ als weiteres Familienmitglied hinzukam:
„Ein ansprechend gedrungenes, schwarzäugiges Fräulein das, unterstützt von einer kräftig heranwachsenden Tochter in der Nähe von Tölz eine Bergwirtschaft betreibt, vermittelte uns die Bekanntschaft mit Bauschan und seine Erwerbung.“
Denkmal am Tegernsee
Dem Hund aus Bad Tölz setzt der Schriftsteller in „Herr und Hund“ ein Denkmal. Ein Denkmal für Herr und Hund ist dagegen nicht in Bad Tölz zu finden, sondern in Gmund an Tegernsee. Seit 2001 steht hier die Skulptur von Quirin Roth und erinnert so daran, dass der Tegernsee, die Badewanne der Münchner, früher schon ein beliebtes Ausflugsziel war – weniger für die Schickeria, sondern für die Münchner Bohème rund um die Mannschaft des „Simplicissimus“. Thomas Mann lernte die Gegend bereits als Kind kennen, als seine Eltern in Wildbad Kreuth zur Sommerfrische waren. Auch später zog es ihn immer wieder in die Region. Die beiden „Ludwigs“ – Ganghofer und Thoma – die vor ihrem Ruck ins Deutschnationale auch für die Satirezeitung schrieben, siedelten hier an, in seinem Haus in Tegernsee frönte der Karikaturist Olaf Gulbransson der Freikörperkultur und schwang gerne auch nackt die Sense, um das Gras zu mähen.
Zurück nach Bad Tölz: Ein Thomas Mann-Museum gibt es hier leider nicht (wer im Ort ist, kann das „Bulle von Tölz-Museum“ besuchen, ob es sich lohnt, vermag ich nicht zu sagen), auch kann das Landhaus, das sich Mann 1909 für seine junge Familie bauen ließ und das sie bis 1917 nutzten, nicht besichtigt werden. Dennoch lohnt sich ein Blick auf das Grundstück, wenn man sowohl die privaten Notizen von Thomas Mann aus jener Zeit als auch die Erinnerungen der älteren Kinder an das Haus, an Land und Leute kennt. Erika Mann, die Rastlose, kam in einigen ihrer Texten auf diese Landschaft ihrer Kindheit zurück. In einer 1930 entstandenen „Liebeserklärung an Bayern“ schreibt sie:
„Wenn irgendwo ein Wiesenweg, eine Bergkette, eine Viehweide uns besonders zu Herzen sprach, erkannten wir bald mit dem Heimatlichen die Ähnlichkeit, – fast wie bei Tölz (…).“
Und Golo Mann sagt in „Erinnerungen und Gedanken“:
„Es dauerte dann etwa fünfunddreißig Jahre, bis ich Tölz wieder sah. Anfang der fünfziger Jahre war das meiste noch wie eh und je, die vier Kastanien und „Hüttchen“, letzteres renoviert, das Haus nach außen hin unverändert. Wie sehr seine Verzierungen „Jugendstil“ waren, bemerkte ich erst jetzt.“
Rückzugsort Bad Tölz
Die Villa, seit 1926 im Besitz eines Ordens, dient inzwischen als Erholungsheim für Ordensschwestern und ist öffentlich leider nicht mehr zugänglich. Bad Tölz bemüht sich anderweitig, um an den berühmten Bewohner, wenn dieser auch nicht zu lange hier lebte, zu erinnern. So wird wohl in diesem Oktober noch in der Tölzer Stadtbibliothek ein Thomas-Mann-Zimmer eröffnet – eingerichtet mit Mobiliar und Gegenstand aus dem „Mausloch“. So bezeichnete Mann ein Haus, das der Kunsthändler Georg Martin Richter in der bayerischen Gemeinde Feldafing gekauft hatte. Thomas Mann beteiligte sich mit 10.000 Mark an dem Kauf und konnte sich, wenn es ihm in München zu trubelig wurde, hierher zum Schreiben zurückziehen. Zwischen 1919 und 1923 war er mehrfach dort, dabei entstanden wesentliche Teile des Zauberbergs.
Erwähnt werden müssen, wenn es um Thomas Mann und Bayern geht, zwei Institutionen: Zum einen die Monacensia in München mit ihrer umfassenden Familie-Mann-Bibliothek sowie der neu erarbeiteten Ausstellung „Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann“. Und der Literaturwissenschaftler Dirk Heißerer: Keiner kennt so sehr die Spuren großer Schriftsteller in Bayern wie er, insbesondere aber diese von Thomas Mann. Seit Jahren ist er Vorsitzender des Thomas-Mann-Forums München und gibt die Thomas-Mann-Schriftenreihe heraus. In dieser ist auch der Band „Nicht auf der Rasenkante gehen!“ von Daniel Lang, eine Arbeit über die Manns in Bad Tölz und die Geschichte des Hauses, erschienen.
Weitere Informationen:
Daniel Lang, “Nicht auf der Rasenkante gehen!”:Link zum Buch
„Ich bin früher gern rausgefahren, gleich nach Schulschluß. Ich hab an einem Waldrand im Gras gelegen und stundenlang in den Himmel gesehen. Ich hab dann an nichts gedacht. Nur manchmal, wenn in der Luft ein Bussard schwebte und plötzlich zur Erde herunterkippte, war das wie ein Stich. Fressen und Gefressenwerden. Ich hab versucht, mir vorzustellen, wie das wäre, eine Welt, in der niemand gequält würde. Ein ruhiges, anhaltendes Glück wie in einem heißen Sommer, wenn man in einer tiefen Wiese liegt und über sich die Wolken ziehen sieht.“
Uwe Timm, „Heißer Sommer“
Es war ein Sommer, in vielem vergleichbar mit dem diesjährigen, von dem Uwe Timm in seinem Debütroman erzählt: Temperaturen auf dem Siedepunkt, die politischen Vorgänge ebenso. Nur drei Jahre nach dem Erscheinen des Buches sollte ein Herbst folgen, der als „Heißer Herbst“ beziehungsweise „Deutscher Herbst“ in den politischen Sprachgebrauch überging, 1977, als der Terror der RAF einen Höhepunkt erreichte. Die Radikalisierung einiger, sie war auch eine Folge der Ereignisse, von denen Timm in seinem durchaus auch autobiographischen Roman erzählt.
„Heißer Sommer“ (1974) war einer der wenigen literarischen Texte über die Außerparlamentarische Opposition und die Studentenbewegung, die zu diesem frühen Zeitpunkt erschienen. Timm hat als Student vieles von den Geschehnissen miterlebt: Er selbst studierte ab 1967 in München, war im Sozialistischen Deutschen Studentenbund aktiv und beteiligte sich an der Besetzung der Münchner Universität. Wie seine Romanfigur Ullrich lebte auch Timm 1968 einige Monate in Hamburg. Dort richteten sich die Studentenproteste vor allem gegen die Springer-Presse und ihr Haupterzeugnis „Bild“.
Aufgeheizte Zeiten
Denn, so kommentierte Thomas Assheuer im Mai 2007 die Ereignisse von 1968 in der „Zeit“: Kaum war der Funke aus Berkeley, der Protest amerikanischer Studenten, nach Deutschland übergesprungen, da eröffnete die Springer-Presse die Jagdsaison. Ob Bild,Welt , Berliner Morgenpost – die Blätter nahmen Aufstellung an der semantischen Bürgerkriegsfront und bezeichneten die Protestierenden wahlweise als »Eiterbeule« oder »immatrikulierten Mob«, als »akademische Gammler« oder »behaarte Affen«. Springers Kommissare verlangten hartes »Durchgreifen«, »Abschieben«, »Ausmerzen«, oder noch wirksamer: »Polizeihiebe auf Krawallköpfe, um den möglicherweise doch vorhandenen Grips lockerzumachen«.
“Der Ostwind ist kalt. Ullrich schwitzt. Die Gesichter neben ihm sind nicht mehr ernst. Er erkennt seine Freude in den Gesichtern der anderen wieder. Eine Freude, die verändert. Er kann, wenn er sich umdreht, das Ende des Zugs nicht ausmachen. Er ist noch nie mit so vielen Menschen zusammen gegangen. Er war herumgelaufen und hatte gesucht. Jetzt war er angekommen. Er hatte die anderen gefunden. (…) Er hatte sie untergehakt, er konnte lachen und reden mit ihnen, als kennten sie ihn schon lange. Was er fühlt, ist eine Freude, die über ihn hinausgeht, die ihm ein Gefühl der Weite und Stärke gibt. Eine Freude, die vom Haß getragen wird, ein Haß, der verändert. Die neben ihm gehen, waren wie er aus ihren Zimmern gelaufen. Jetzt marschieren sie eingehakt und rufen: Haut dem Springer auf die Finger.”
Es sind der Mord an Benno Ohnesorg 1967 und die Schüsse auf Rudi Dutschke im April 1968, die den Studenten Ullrich allmählich politisieren. Noch wühlt er sich durch die Verse Hölderlins für das Studium in München, plagt sich mit halbwarmen Frauengeschichten ab, versucht sich aus der Eichenholzmöbelgarnitur-Enge des Elternhauses zu befreien, alles ein wenig halbgar, alles gedämpft. Die Hitze steht in den Münchner Straßen, abends geht man ins „Leopold“ zur Nachtvorstellung, oder in eines der Schwabinger Cafés. Tagsüber schuftet man schwarz bei brütender Hitze auf einem offenen Acker, den ein „Schwabinggauner“ in ein Go-Kart-Gelände, der neueste Schrei für die Jugend, umwandeln will.
Sehnsucht nach Freiheit und Veränderung
Erst langsam erwacht Ullrich aus diesem Dämmerdasein, der Mord an Ohnesorg wirkt auch auf ihn wie ein Katalysator. Wie sehr die geistige Frucht des Nationalsozialismus noch die junge Republik prägt, das wird Ullrich nicht nur am Beispiel des Vaters, der sich regelmäßig mit alten „Kampfgefährten“ das „Dritte Reich“ schwadronierend zurücksehnt, bewusst. Auch die Verkrustung im universitären Getriebe, der Alltagsrassismus, der ihm bei seinem Job („lass den Kümmeltürken hacken“) begegnet, die Erzählungen anderer öffnen ihm die Augen und das hitzegedämpfte Hirn. Alles in ihm sehnt sich nach Freiheit und Veränderung – sowohl der persönlichen als auch der gesellschaftlichen Verhältnisse.
„Die stehen da und glotzen nur, hatte ein Mädchen zu Ullrich gesagt, das im Demonstrationszug neben ihm ging. Ja, hatte Ullrich gesagt, die sind nicht ansprechbar. Das Mädchen, das ein sehr kurzes gelbes Kleid trug, erzählte ihm, daß sie vorhin beim Verteilen der Flugblätter von einem Mann angepöbelt worden sei. Dreckige Schlampe, hatte der gerufen und dann gesagt: Ganz richtig, daß sie einen von euch umgelegt haben.“
Uwe Timm erzählt in diesem Roman eine Entwicklungsgeschichte: Der anfangs noch zaudernde, unbestimmt dahinlebende Student wird sich, geprägt durch private und politische Schlüsselerlebnisse, zu einem politisch bewussten Aktivisten entwickeln. Die zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft erkennt Ullrich als Irrweg – außer einigen Pflastersteinen und einen halbherzigen Brandanschlag auf einen Polizeibus soll es das für ihn gewesen sein. Er merkt, dass das Kaputtmachen dessen, was „uns kaputtmacht“, keine Lösung ist, sondern entscheidet sich für „den organisierten Weg in die Betriebe, in die Schulen, in die Universitäten, in die Wohngebiete“, entschließt sich, sein Studium fortzusetzen und Lehrer zu werden.
Am Ende ist er auch mit Hölderlin wieder eins, erkennt er, geprägt von seinen Erfahrungen, die Fülle dieser Verse:
Die Sonne ließ die Tannen leuchten. In den Gräben schmale weiße Streifen, schmutzige Schneereste. Auf einem Feld ein Traktor mit einer Egge. Die Schraffur der Furchen.
Wachs und werde zum Wald! eine beseeltere, Vollentblühende Welt! Sprache der Liebenden Sei die Sprache des Landes, Ihre Seele der Laut des Volks!
„Heißer Sommer“ ist nicht nur ein Roman, der authentisch vom Zustand der deutschen Gesellschaft 1968 erzählt und aus dem Inneren des studentischen Lebens berichtet, sondern war und ist auch literarisch ein mehr als gelungener Wurf für einen Debütroman: Timm verwebt gekonnt verschiedene Erzähl- und Zeitebenen, variiert sprachlich, mal poetisch, mal ironisch im Ton, schiebt wie in einer Collage prägende Texte der Studentenbewegung, Songzeilen von Dylan und den Beatles, Zitate von Marcuse und Marx in den Erzählfluss ein.
Jetzt, fünf Jahrzehnte später, haben wir wieder einen „heißen Sommer“, in dem nicht nur die Temperaturen stetig steigen, sondern auch gesellschaftliche Kräfte aufeinanderprallen, die grundsätzlich verschiedene Werte vertreten: Auf der einen Seite Restauration und Abschottung bis hin zu einem Ruck nach Rechts und ins Rechtsextreme, andererseits Menschen, die für eine weltoffene Gesellschaft vermehrt auf die Straße geht. Diskussionen über Rassismus und den Umgang mit Flüchtlingen. Und bei alledem eine „Bild“, die zwar – Gott sei Dank – schon lange nicht mehr die Auflagen hat der 1960er-Jahre, aber zum alten, verkommenen Stil zurückgekehrt ist. Dies alles macht „Heißer Sommer“ zu einer passend hitzigen Lektüre dieser Tage. Ein Roman, der sich wieder zu entdecken lohnt.
Bibliographische Angaben:
Uwe Timm Heißer Sommer dtv Verlag, 1998 ISBN: 978-3-423-12547-5
Vor 100 Jahren gab es ein einzigartiges Ereignis in Deutschland: In Bayern übernahmen Dichter die Macht. Florian Pittroff über das Buch von Volker Weidermann.
Es hätte auch ein dickes, unspannendes Sachbuch werden können. Aber weit gefehlt. Es ist ein außergewöhnliches Buch und ein interessantes zugleich geworden. Volker Weidermann erzählt auf 284 Seiten ein eigentlich trockenes Kapitel der deutschen Geschichte wie einen spannenden Roman, ja fast wie einen Krimi.
Wann gab es das schon einmal – eine Revolution, durch die die Dichter an die Macht gelangten? Doch es gibt sie, die kurzen Momente in der Geschichte, in denen alles möglich erscheint, heißt es im Klappentext. Und das Buch selbst startet mit den Worten: „Natürlich wäre es ein Märchen gewesen, nichts als ein Märchen, das für ein paar Wochen Wirklichkeit geworden war. Und jetzt war es eben vorbei“.
Zur Zeit der Münchner Räterepublik
Wir schreiben das Jahr 1919. Es ist die Zeit der Münchner Räterepublik und der Leser ist immer am Ort des Geschehens. Eben nicht nur dabei, sondern mittendrin als Augenzeuge der Geschehnisse damals in München. Das Buch von Volker Weidermann fängt Stimmen und Stimmungen in dieser hochexplosiven und aufgeladenen Atmosphäre sehr gut ein.
Fast könnte man sagen, der Leser ist auf Du und Du mit Kurt Eisner, Erich Mühsam, Rainer Maria Rilke, Oskar Maria Graf, Thomas Mann und all den anderen. Volker Weidermann erklärt nicht nur, sondern entwickelt eine spannende und gleichzeitig leichtfüßige Geschichte, die eher als Roman denn als Erklärstück durchgeht. So macht Geschichte Spaß. Wäre es so mal in der Oberstufe des Gymnasiums gewesen.
Oskar Maria Graf in seiner Lederhose
Da pilgert zum Beispiel Oskar Maria Graf mit Lederhose durch München, rettet einen Soldaten vor Prügeln, um danach aber irgendwie den Anschluss an die Revolution zu verpassen und lieber im „Franziskaner“ Bier und Wurst bestellt. Da kommt Thomas Mann nicht besonders gut weg: „Hört, ich bin weder eine Jude, noch ein Kriegsgewinnler, noch sonst etwas Schlechtes, ich bin ein Schriftsteller, der sich dies Haus (seine Villa in Bogenhausen) von dem Gelde gebaut hat, das er mit seiner geistigen Arbeit verdient. (…).“ Das mit dem Verdienst durch geistige Arbeit stimmte so nicht ganz: Das Haus hatte noch vor dem 1. Weltkrieg die mit dem reichen jüdischen Mathematikprofessor Alfred Pringsheim verheiratete Schwiegermutter bezahlt. Weidermann: „Mann war in diesen Tagen von antisemitischer Stimmung ganz erfüllt und er war sicher, dass München (…) diese fundamentale Abneigung mit ihm teilte“.
Eine Besonderheit dieses Buches sind eben diese Worte und Sätze, die Weidermann den Protagonisten in den Mund legt. Ob Oskar Maria Graf, Ernst Toller, Erich Mühsam oder all die anderen dies tatsächlich so gesagt haben, dafür gibt es natürlich keine wirklichen Belege. Das tut in diesem Falle auch nichts zur Sache. Die Zitate machen das Buch zu einem einfühlsamen und lebendigen Werk. Sie untermauern die Gefühle, das Denken und die Beweggründe aller Personen, die sich in München in den Jahren 1918/1919 Gedanken umdie Zukunft Deutschlands und Bayern gemacht haben.
Last but not least erfährt der Leser dann in einem Nachwort noch, wie es weitergegangen ist, mit dem einen oder anderen Dichtern nach diesen rauschhaften Tagen.
Florian Pittroff ist Magister der Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte und arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Journalist und Texter. Seine Buchbesprechungen waren unter anderem zu lesen im Kulturmagazin „a3kultur“ und im deutschsprachigen Männermagazin „Penthouse“. Er verfasste Kulturbeiträge für das Programm des „Parktheater Augsburg“, war unter anderem verantwortlich für die Medien- & Öffentlichkeitsarbeit des kulturellen Rahmenprogramms „City Of Peace“ (2011) und die deutschsprachigen Slam-Meisterschaften (2015) in Augsburg. Florian Pittroff erhielt 1999 den Hörfunkpreis der Bayrischen Landeszentrale für neue Medien für den besten Beitrag in der Sparte Kultur.