Pega Mund: reste von landschaft

Ein lyrisches Ich auf Fährtensuche: „reste von landschaft“, die erste Einzelpublikation von Pega Mund, nimmt einen mit auf eine poetische Begehung von Stadt-, Land- und Seelenland.

Wir…

„… sind unterwegs wie schaum an der küste
wie rauchige schlieren im ätherblau immer
allein das ist das ganze geheimnis nicht wahr?“

Auszug aus „schaum“ in: „reste von landschaft“, Pega Mund

Immer allein, und manchmal doch zu zweit, zu mehreren, das eigene Angesicht im Spiegel der anderen, manchmal in der Selbstbetrachtung („spieglein spieglein  das rot gelackte eineurolächeln“), so tastet sich hier eine lyrische Stimme durch „reste von landschaft“.

Der Titel dieses Gedichtbandes, „reste von landschaft“, deutet auf das Fragmentarische, Abtastende hin, das diesen Zyklus aus insgesamt zwölf Gedichten prägt. Sechs Schritte bzw. Gedichte vor, sechs Schritt-Gedichte zurück – der Band kann ebenso vor- wie rückwärts gelesen werden, eine Metapher für das Leben vielleicht, das uns immer wieder diesen zwei-Schritte-vorwärts-und-einen-zurück-Takt dirigiert.

Das Fragmentarische, das Veränderliche, das was bleibt und das, was verloren geht, Wachstum und Verluste, sie bilden diese „reste von landschaft“. Nicht von ungefähr findet sich bereits im ersten Gedicht ein Hinweis auf Ovids Metamorphosen:

unlesbare fährten im frischgefalllenen nulli: nulli sua forma
manebat

Aber wenn nichts in seiner Form bleibt, wenn alles Veränderung ist, was ist dann die Substanz, wo bleibt der Kern? Das beinahe Chamäleon-artige lyrische Ich mit seinen „drei leben“ führt uns augenzwinkernd in die „wunderkammern“:

„Sind wir nicht Fetzen Fehlfunde nach Häutungen hin geblätterte
schlampig genähte so Wechselbalgstücke pathetisch geblähte Sind wir
nicht abgetakelte Wüstenwarane Zirkusvieh lautlos brennende Tiger
springen in Zauberers schwarzen Zylinder Apokalypse jetzt Sind wir“

Jetzt sind wir! Die Energie, die Kraft, die in dieser Aussage steckt, sie ist in allen diesen zwölf Gedichten zu spüren, auch in den düstern getönten Zeilen. Eine Eigenschaft der Sprache, die bereits Olga Martynova und Beate Tröger in ihrer Laudatio auf Pega Mund, die 2019 mit dem 2. Platz beim Gertrud Kolmar Preis ausgezeichnet wurde, heraushoben:

„Wodurch machen die Gedichte von Pega Mund gleich auf sich aufmerksam? Die einfachste und für mich die wichtigste Antwort: Sie haben poetische Substanz. Das ist eine schwer (wenn überhaupt) definierbare Eigenschaft, die alles entscheidet. Wenn sie fehlt, dann ist es egal, ob die Texte klug, witzig, aktuell, arrangiert, einfühlsam, kühl, leidenschaftlich oder was auch immer sind. Ohne diese Substanz bleiben sie nur leere Worte. Die Gedichte von Pega Mund haben diese Ladung, diese Energie, weshalb es interessant und spannend ist, sie näher zu betrachten.“

Nicht von ungefähr ist der schmale, aber gehaltvolle Band mit dem Untertitel „Eine Begehung“ versehen – eine Wanderung durch Stadt-Landschaften, durch Land-Landschaften, durch Seelenlandschaften. Beinahe atemlos folgt man dem lyrischen Ich auf seinen Pfaden, ein Weg, der spannend ist, der manchmal auch ängstlich macht, vor allem aber durch die spürbare Lust am Spiel mit der Sprache viel Freude bereitet.

„reste von landschaft“ ist die erste Einzelpublikation der Autorin, die seit 2014 ihre Gedichte unter anderem in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht. Zudem betreibt Pega Mund einen Blog: https://driftout.wordpress.com/

Informationen zum Buch:

Pega Mund
Reste von Landschaft
Black Ink Lyrik, 2021
28 Seiten geheftet, 8,00 Euro
ISBN: 978-3-930654-43-7

Oxana Matiychuk: Rose Ausländers Leben im Wort

Der Ulmer Verlag „danube books“ ehrt Rose Ausländer zu ihrem 120. Geburtstag mit einer bezaubernden Graphic Novel.

„Leben im Wort“ zeichnet das wechselvolle Schicksal der Lyrikerin nach, das sie von der grünen Bukowina und vom multikulturellen Czernowitz in die USA und wieder zurück nach Europa bis hin zu ihrem Lebensabend in Düsseldorf führte. Ein steter Begleiter war dabei das Wort: Die Fülle der Gedichte von Rose Ausländer zeugt davon, wieviel sie zu sagen hatte, die Schönheit ihrer Sprache ist auch ein Indiz für diese besondere kulturelle Landschaft der Bukowina, die mit ihr und Paul Celan zwei der größten Dichter dieser Zeit hervorbrachte. Und die beide ihr Leben lang die Vertreibung aus „dieser friedlichen Hügelstadt/von Buchenwäldern umschlossen“ in ihren Zeilen verarbeiteten, sondern auch Vertreibung, Tod und Unbehaustheit im Exil.

Ihr Leben lang hatte Rose Ausländer Sehnsucht nach ihrer grünen Mutter, dem Buchenland der Bukowina. Bild von Dan Fador auf Pixabay

In dem oben zitierten Gedicht „Cernowitz vor dem Zweiten Weltkrieg“, das auch in der Graphic Novel zu finden ist, schreibt Rose Ausländer:

„Vier Sprachen
Verständigen sich
Verwöhnen die Luft

Bis Bomben fliegen
Atmete glücklich
Die Stadt“

Dr. Oxana Matiychuk, selbst in der Vielvölkerstadt, die heute zur Ukraine gehört, geboren, erzählt das Leben der Rose Ausländer chronologisch nach – von der behüteten Kindheit, die abrupt durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen wird. Hier macht die junge Rose die erste Exilerfahrung, die Familie flieht nach Wien, kehrt aber in das Buchenland zurück. 1920 dann der zweite Wendepunkt durch den frühen Tod des Vaters, Rose Ausländer geht, wie viele andere auch, in die USA. Dies ist nicht die letzte örtliche Veränderungen in diesem von Veränderungen geprägten Leben – lange, bis sie in ein jüdisches Altersheim in Düsseldorf ging, lebte Rose Ausländer konsequent nur mit sieben Koffern in verschiedenen Pensionen. Immer abreisebereit, vielleicht auch immer auf der Flucht.

Leben der Dichterin wird chronologisch erzählt

Die Ausländer-Expertin Oxana Matiychuk – sie ist Dozentin am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie der Jurij Fedkowytsch Universität Czernowitz, Leiterin der „Ukrainisch-Deutschen Kulturgesellschaft Czernowitz“ am Zentrum Gedankendach und verfasste mit ihrer Promotionsarbeit zur „Genese des poetischen Textes im Werk von Rose Ausländer“ die erste Studie in der Ukraine zum Leben und Werk der bukowinischen Autorin – erzählt das Leben der Dichterin chronologisch, auf die wesentlichen Fakten reduziert und doch mit einer Liebe für die wichtigen Details (z.B. die sieben Koffer), die nicht nur die Dichterin beleuchten, sondern auch einen Blick auf den Menschen dahinter ermöglichen.

Neben der Erzählung der Biographie führt die Graphic Novel auch in die Entwicklung von Rose Ausländers Schreiben, in ihr Leben mit den Worten ein. Dies alles ist in einer klaren Sprache verfasst, „in kunstvoller didaktischer Reduzierung, ohne jedoch zu simplifizieren“, wie Maria Dippelreiter schreibt. Und geradezu hinreißend sind Layout und Illustration dieser Graphic Novel, mit viel Liebe zu Details. Die beiden Künstler dahinter sind die mehrfach ausgezeichnete ukrainische Grafikdesignerin Olena Staranchuk und der Illustrationskünstler Oleg Gryshchenko. Gestaltung und klare Sprache machen dieses wunderbare Geburtstagsgeschenk für Rose Ausländer auch zu einem idealen Medium, um Leben und Werk auch jüngeren Lesern oder Menschen, die nicht viel von ihr kennen, näherzubringen.


Informationen zum Buch:

Oxana Matiychuk
Rose Ausländers Leben im Wort. Graphic Novel.
Mit Illustrationen von Olena Staranchuk und Oleg Gryshchenko.
Verlag danube books, Ulm, April 2021
ISBN 978-3-946046-27-1

Elke Engelhardt: Sanisbar oder andere gebrochene Versprechen

Eine Dichterin im Ringen mit der Unzulänglichkeit, der Unzuverlässigkeit der Sprache. Ein Ringen, das funkelt, das Sätze birgt, die sich einprägen.

Bild: Birgit Böllinger, https://pixabay.com/de/photos/graffiti-streetart-malerei-wand-4795074/

Die kleine Frau schreibt

Erst muss man alles aufzeichnen,
dann kann man sich aufzeichnen durch einen Satz,
der etwas ins Fließen bringt,
was vorher feststand.

Ich bin die kleine Frau,
ich glaube an die Macht des Mondes,
an Ebbe und Flut.
Aber mehr noch an die Worte,
die alle Spuren verwischen,
sobald sie entstehen.

Elke Engelhardt, „Sansibar oder andere gebrochene Versprechen“

Sich selbst definieren, sich selber finden mit den unzulässigen Mitteln der Sprache – das scheint mir ein Leitmotiv zu sein in diesem außergewöhnlichen Gedichtband. Eine Poesie, der die Macht der (Ent-)Täuschung innewohnt: Sätze, die so klar und nüchtern im Stil zu sein scheinen, und mit denen dennoch alle Spuren verwischt werden.
Beispielgebend dafür ist Sansibar, Protagonist im ersten Zyklus:

Es sollte ein Roman ohne Worte werden
aber voller Gedanken
Der Ehrgeiz packte mich
es schüttelte mich
Es ging mir nicht gut
Ich war kurz davor einen Satz in mein Heft zu schreiben
einen Satz der alle Worte zum Blühen gebracht hätte
und was blüht ist vergänglich

Was blüht, ist vergänglich, was gesagt ist, kann heute wahr sein und morgen ein gebrochenes Versprechen: Eine Dichterin im Ringen mit der Unzulänglichkeit, der Unzuverlässigkeit der Sprache. Ein Ringen, das funkelt, das Sätze birgt, die sich einprägen:

Der Tod, sagt meine Mutter, ist eine schnell
heilende Wunde. Die Narben, die er hinterlässt,
sind Sache der Lebenden.

So klar die Sprache von Elke Engelhardt erscheint, so viele Geheimnisse tragen Sansibar, die kleine Frau und die lyrische Stimme im dritten Zyklus, „Die Lumpen meiner Erinnerung“, mit sich herum. Man möchte mehr davon lesen, wohlwissend, dass man den Geheimnissen eines Menschen mit den Mitteln der Sprache wohl nie auf den Grund kommen wird.

Informationen zum Buch:

Elke Engelhardt
Sansibar oder andere gebrochene Versprechen
Elif Verlag, 2020
134 Seiten, Klappenbroschur, 18,00 €
ISBN 978-3-946989-32-5

Joachim Ringelnatz – Einsiedlers heiliger Abend

Mein Weihnachtsgruß mit Joachim Ringelnatz.

Ich hab’ in den Weihnachtstagen –
Ich weiß auch, warum –
Mir selbst einen Christbaum geschlagen,
Der ist ganz verkrüppelt und krumm.

Bild von Pexels auf Pixabay

Ich bohrte ein Loch in die Diele
Und steckte ihn da hinein
Und stellte rings um ihn viele
Flaschen Burgunderwein.

Und zierte, um Baumschmuck und Lichter
Zu sparen, ihn abend noch spät
Mit Löffeln, Gabeln und Trichter
Und anderem blanken Gerät.

Ich kochte zur heiligen Stunde
Mir Erbsenuppe und Speck
Und gab meinem fröhlichen Hunde
Gulasch und litt seinen Dreck.

Und sang aus burgundernder Kehle
Das Pfannenflickerlied.
Und pries mit bewundernder Seele
Alles das, was ich mied.

Es glimmte petroleumbetrunken
Später der Lampendocht.
Ich saß in Gedanken versunken.
Da hat’s an der Tür gepocht.

Und pochte wieder und wieder.
Es konnte das Christkind sein.
Und klang’s nicht wie Weihnachtslieder?
Ich aber rief nicht: “Herein!”

Ich zog mich aus und ging leise
Zu Bett, ohne Angst, ohne Spott,
Und dankte auf krumme Weise
Lallend dem lieben Gott.

Joachim Ringelnatz

Das Gedicht von Ringelnatz stammt aus dem Jahr 1933 – wohl für viele Menschen das schwerste Weihnachten der Vorkriegszeit. Wer wachen Sinnes war, konnte ahnen, was knapp ein Jahr nach der Machtergreifung Hitlers noch alles auf die Menschen zukommen würde.

Insofern sind die Vergleiche, die dieser Tage gezogen werden, völlig absurd: Wir leben in keiner Diktatur, aber wir leben mit einer Pandemie. Das ist schwer, insbesondere für viele an Weihnachten, die vielleicht getrennt von ihren Liebsten und Familien feiern müssen. Aber es ist ein hoffentlich einmaliges und vorübergehendes Geschehen – und keinesfalls vergleichbar mit der Situation 90 Jahre zuvor.

Dennoch kann vielleicht jetzt gerade ein Ringelnatz helfen: Trauer und Humor liegen bei ihm immer eng beisammen. Und die Botschaft: Mach das Beste daraus …

Ich wünsche allen, die hier mitlesen, trotz der Umstände ein schönes Weihnachtsfest, alles Liebe und einen guten Rutsch in das Neue Jahr! Bleibt gesund!

Birgit Böllinger

Matthias Engels: wir alle strahlen

Matthias Engels nimmt einen mit seinem neuen Gedichtband „wir alle strahlen“ mit auf eine Reise durch Innen- und Außenräume, geprägt von Melancholie und Lebenslust zugleich.

Bild von chulmin park auf Pixabay

TOTGESAGTER PARK (HERBST I)

der himmel bemüht sich
um möglichst beiläufiges blau
und allgemein weiß das wetter
nicht so genau wohin
ohnehin und her
ist`s schweres gehen
bei all dem grün-
schnitt

und all das welke geht mit
es ist kein geheimnis wohin
immer du schreitest
begleiten dich saat und keimnis
ist der garten schoß
und offener sarg
zugleich

Matthias Engels, „wir alle strahlen“

Gedichte lehren einen das genaue Hinschauen. Schon Stefan George sprach die explizite Aufforderung aus „komm in den totgesagten park und schau“ und Jahrzehnte später spinnt Matthias Engels diesen Gedanken weiter. Der 1975 am Niederrhein geborene Schriftsteller stellt sich mit seinem jüngsten Lyrikband in eine große Tradition, weckt Assoziationen zu George, Benn, Trakl, Rilke und ist dabei jedoch auch ganz und gar gegenwärtig, ein Kind seiner Zeit.

du sagst: Herrgottnochmal
der sommer war sehr klein
und der herbst nicht mehr
lassen wir den winter nicht rein
und hoffen dass er draußen
nichts anstellt

Auszug aus „Dein Traum muss durch die Wand“.

„wir alle strahlen“ nimmt einem beim Lesen gefangen durch eine eigenartigen Wechsel von Melancholie und Lebenslust, Saat, Keimnis und offener Sarg zugleich. Da wandert ein lyrisches Ich durch Landschaften und Städte (ein schönes Bild: die stadt trägt schuhe/aus mörtel und geröll), durch Innenräume und Außenwelt und lässt den Leser teilhaben an seiner sensitiven Beobachtungsgabe, die Auge und Ohr hat selbst für den „aufprall der trockenen blätter/auf den gehwegplatten“.

Es bedarf eben eines Poeten, um „die romantik von mono/blocksessel und filterkaffee“ zu würdigen.
Das sind Gedichte, die das Sehen, das Hinsehen und die Würdigung des Alltäglichen zelebrieren und in wunderbare Bilder verwandeln:

die sonne von lamellen
in feine streifen aufgeschnitten
in dieser stunde sind alle getigert

Informationen zum Buch:

Matthias Engels
wir alle strahlen
edition offenes feld, Dortmund, 2020
Hardcover, Schutzumschlag, 68 Seiten, 15,50 €
ISBN 9783751952613

Gerd Baumann: Das Schaf des Pythagoras

„Das Schaf des Pythagoras“ ist ein Gedichtband, der mit viel Verspieltheit, skurillen Einfällen und einem heiter-gelassenen Blick auf die Welt amüsiert.

Bild von 165106 auf Pixabay

Hochintressant

Alles kommt, wie`s kommen muss,
alles gießt sich hin im Fluss,
ich wart, im Regen, auf den Bus
und geh, wenn er nicht kommt, zu Fuß.

Gerd Baumann, „Das Schaf des Pythagoras“

Lyrik muss für mich nicht immer hermetisch, symbolgeladen, verschlüsselt und mit Metaphern überfrachtet sein. Mein schlichtes Gemüt ergötzt sich durch aus an gehobenem Blödelsinn, da bricht dann durch, dass auch ich der Generation entstamme, die mit Heinz Erhardt sozialisiert wurde.

Und so können mich auch die verrückten, verspulten Gedichte des bayerischen Musikers und Lyrikers Gerd Baumann herrlich amüsieren: Da wird mit viel Witz und Hintersinn den großen Fragen der Menschheit nachgegangen, beispielsweise: „Was, wenn Ich nicht mehr Ich wäre, sondern Du!“. Am Ende möchte man das Du denn doch Du sein lassen. Oder warum einer den Moment, den man Leben nennt, „knetet“, dichtet und singt? Das liegt auf der Hand: „denn, wenn`s heißt: Jetzt ist`s gewesen/ gibt`s Musik und was zu lesen“.

Baumann unterhält mit seinen schrulligen Einfällen mal mit ironischen Kurzzeilern, mal gereimt, mal in freien Rhythmen, und mittendrin stößt man sogar auf eine ausgewachsene Ballade: Die „Malade Ballade vom unbekannten Mann“. Eines haben die Gedichte, trotz unterschiedlicher Form, jedoch immer gemeinsam: Sie sind, auch bei ernsteren Themen, selbst dann, wenn es politisch wird, von einer wohltuenden Leichtigkeit. Ein Beispiel:

Hase, du bleibst hier
Chemnitz, Sommer 2018

Fast wär er hinterhergesprungen
dem einen, vielgehassten, dunklen
Fremder, der hier einfach eingedrungen,
doch so blieb`s beim Augenfunkeln

und beim wohlvertrauten Grölen
mit seiner Glatzen-Clique, die seit Jahren
was man ja wohl noch sagen darf
sagt, und – eben – unverhohlen grölt.

Doch plötzlich duckt und zuckt der Nazi
wie ein gut gezähmtes Tier,
da ein Stimmchen ihn zur Ordnung ruft:
Hase, du bleibst hier.

Ein besonderes Faible scheint der Autor für Schafe zu haben, diese oft als dumm verpönten Tiere. Da gibt er dann den Wolf im Schafspelz und schmuggelt vollkommene Nonsense-Vierzeiler in den Gedichtband und das Langgedicht „Hintersinnige, hommage-artige Ansprache eines gerissenen Schafs an einen aus Schafsicht vermeintlich idealen Schäferhund, der am Ende nur scheinbar enttäuscht ist und besonnen, aber krude reagiert.“

Zum Autor:

Gerd Baumann studierte in München und Los Angeles Gitarre und Komposition. Er hat unter anderem die Musik für Filme von Regisseur Marcus H. Rosenmüller geschrieben, betreibt das Plattenlabel „Millaphon Records“ und den Musik-Club „Milla“ in München.

Zum Zeichner:

Martin Klett ergänzt die skurillen Gedichte durch witzige, in der Form reduzierte Illustrationen. Er studierte Design in München und ist Inhaber der Agentur „Perfect Accident“.

Zum Buch:

Gerd Baumann
Das Schaf des Pythagoras
edition lichtung im lichtung verlag, 2020
Gedichte, mit Illustrationen von Martin Kett, 2020, Hardcover, 96 Seiten, 14,90 Euro
ISBN 978-3-941306-98-1

Isabella Krainer: Vom Kaputtgehen

Die Biographie eines österreichischen „Jedermenschen“, von der Wiege bis zur Bahre, durchschreitet Isabella Krainer mit ihrem Gedichtzyklus „Vom Kaputtgehen“.

Bild: Michael Flötotto

lebenswahrheit

freunde
die menschen
unter den
leuten

Isabella Krainer, „Vom Kaputtgehen“


Die Biographie eines österreichischen „Jedermenschen“, von der Wiege bis zur Bahre, durchschreitet Isabella Krainer mit ihrem Gedichtzyklus, der im Innsbrucker Verlag Limbus erschienen ist. Dort bietet die Reihe „Limbus Lyrik“ zeitgenössische Poesie in schöner Optik – die Bücher bestechen durch ihr Äußeres und die Reihe hält etliche Entdeckungen bereit.

„Vom Kaputtgehen“ ist der erste Lyrikband der 1974 geborenen Kärtnerin Isabella Krainer, deren Texte nach Selbstauskunft zwischen „Politsprech und Dialektlandschaft“ pendeln. Und der Titel ist Programm: Ein glückliches Leben ist dem Jedermann, der Jederfrau, deren Lebenslauf in den vier Kapiteln „gehschule“, „marschbefehl“, „laufpass“ und „endspurt“ beschrieben wird, nicht beschieden.

Das verdeutlichen schon die Anfänge:

freiheit wäre übertrieben

neun monate
fluchtwasser

und plötzlich
auf bewährung
draußen

Man muss aufmerksam lesen, um den Witz, die Wortspielereien wahrzunehmen. Die Gedichte, meist kurz, knapp und pointiert, wären manches Mal eher als Aphorismen zu bezeichnen, manches Mal sind sie allzu plakativ. Doch hinter dem manchmal all zu Offensichtlichen tun sich weitere Ebenen und tiefe Abgründe auf – Krainers Gedichte sind auch „gradmesser“ eines gesellschaftlichen Zustands. Durch den Ansatz, entlang eines Lebens zu schreiben, bekommt der Band in sich etwas Rundes, Geschlossenes, das nicht von ungefähr mit den mahnenden Worten einer Seherin endet: schau so gern beim leben zu – anstatt ein eigenes Leben zu leben.

Richtig stark ist die Lyrikerin dort, wo sie zur Mundart greift:

söba schuid

wennst es nimma
aushoitst
weilst di damit
aufhoitst
dass dir olles
aufhoist
bis dann amoi
umfoist


Informationen zum Buch:

Isabella Krainer
Vom Kaputtgehen
Limbus Verlag Innsbruck, 2020
Gebunden mit Lesebändchen, 96 Seiten, 15,00 Euro
ISBN 978-3-99039-170-9

Homepage der Autorin: https://isabellakrainer.com/

Norbert Hummelt: Sonnengesang

In seinen „Sonnengesang“ flicht Norbert Hummelt die Ahnung vom Vergehen des Sommers, den Kreislauf aus Blühen und Vergehen bereits mit ein.

Bild: Michael Flötotto

es ist geschehen u. war kein traum du in
dem immer dunkleren raum wie du für

mich die tarot-karten legst … da ist der mann
wieder mit den drei stäben u. du findest

den gehängten nicht u. es kann gar keine
zukunft geben aber die amsel singt abends (…)

Norbert Hummelt, Auszug „dämmerung“
Aus: „Sonnengesang“


Es ist Juni, als sie sich begegnen, sie wie ein flüchtiger Kohlweißling, der später allenfalls noch eine Windschutzscheibe streifen wird. Und bereits in der Juni-Dämmerung zeichnet sich die Nicht-Zukunft der beiden ab, die kurze, intensive Liebe eines Sommers. In diesem „Sonnengesang“ sind Herbst und Winter bereits eingeflochten, neigt sich alles einem melancholischen Ende zu, ein kurzes Aufbäumen, Bemühen noch – „meine wunde war noch einmal zugegangen“ – und doch über allem das Bewußtsein von Endlichkeit:

im beinhaus zu hallstatt den 3ten august
faßte ich mir an den eigenen Schädel

so seltsam war er mit haut überzogen … oben
wuchsen haare u. selbst augen standen noch

heißt es im sechsten und letzten Zyklus in dem Gedicht „vanitas“.

„Sonnengesang“ – das ist auch das erste Zeugnis der italienischen Literatur, das gleichnamige Gebet des Franz von Assisi, in dem er Gott und die Schöpfung preist. Und so verwebt auch Norbert Hummelt Elemente der Liebes- und Naturlyrik, singt gewissermaßen mit einem melancholischen Unterton freilich, die Sonne an.

Carsten Otte betont in seiner Besprechung beim SWR:

„Mögen sich Rhythmus und Binnenreim in den ersten Zeilen noch nicht aufdrängen, auch weil der Zeilensprung den semantischen Zusammenhang aufbricht, lässt sich aber schon im Eröffnungsgedicht eine Art poetisches Programm erkennen. Hier stellt sich ein lyrisches Ich vor, das von der Natur gerufen wird, um Flora und Fauna zu preisen, und zwar in einer Formensprache, die dem historischen Rondo näher ist als der lyrischen Moderne.“

Und doch sind es die modernen Elemente, die dem Reigen aus Begegnung und Abschied, Blühen und Vergehen ein Quäntchen Hoffnung eingeben:

(…) mein engel hatte mich verlassen.

aber das licht kam von der raumstation, die sich am himmel
über mir bewegte, rascher als der mond u. heller als ein stern.


Informationen zum Buch:

Norbert Hummelt
Sonnengesang
Luchterhand Verlag, 2020
Hardcover mit Schutzumschlag, 96 Seiten, 20,00 €
ISBN: 978-3-630-87630-6

Alain Lance: Rückkehr des Echos

Ein wacher Geist, eine kritische Stimme: Alain Lance ist einer der großen französischen Lyriker. Volker Braun besorgte eine gelungene Auswahl seiner Gedichte.

Bild von 二 盧 auf Pixabay

Jedem Leben ist Honig und Galle bereitet, und
Jeglicher rudert allein seinem Ende entgegen, aber
Die Wasser mögen noch anderen Fahrgästen singen
Die in den Wipfeln die entschlossenen Schwärme sehn
Im steten Verblühen der Jahreszeiten.

Aus „Donau oberhalb von Budapest“, aus dem Französischen übersetzt von Volker Braun.

Alain Lance, „Rückkehr des Echos“


Ob nun in den erst 2019 erschienenen „Fantȏmémoires“ oder in dem bereits 1974 herausgekommenen Gedichtband „Les Gens perdus deviennent fragiles“: Da schlägt uns eine Stimme entgegen, die wahlweise zornig, bitter, ironisch und immer auch politisch ist. Und bis ins hohe Alter hinein frisch klingt: Der 1939 geborene Alain Lance beobachtet die Welt mit wachem Blick und hadert mit ihr und dem menschlichen Treiben. „Europa geht aus dem Leim“ konstantiert er beinahe umgangssprachlich in seinem Gedicht „2017“ und schreibt unter dem Titel „Es brennt“ nur einige wenige melancholische Zeilen:

Kaum August schon fällt
Das Blattwerk in Schauern
sollen wir trauern
Um die untergehende Welt?

Man täte diesem Dichter jedoch unrecht, würde man ihn allein auf das Politische reduzieren. Volker Braun, verbindet eine beinahe lebenslange Freundschaft zu dem Franzosen, der sich auch in mannigfaltiger Weise um die deutsch-französischen Kulturbeziehungen verdient gemacht hat. Als Herausgeber hat Volker Braun eine gute Auswahl an Gedichten aus dem Werk seines Freundes getroffen, die dessen Entwicklung aufzeigen. Im Nachwort betont Braun auf ein Zitat von Gérard Noiret hin, der Lance als einzigen politischen französischen Dichter bezeichnet:

„So lese ich ihn nicht, das macht ihn nicht aus, es ist noch immer der robuste, turbulente, anspruchsvolle Geist des Quartier Latin: dieser erstaunlichen irdischen Mischung vom Leben. Nicht nur Résistance, sein Naturell lässt ihn immer wieder Renaissance erleben, wie das Gedicht für Renate wunderbar zeigt.“

Tatsächlich bietet dieser gelungene Auswahlband eine Mischung aus direkter politischer Lyrik ebenso wie Gedichter voller surrealer Bilder und gar dadaistischen Sprachspielereien. Und dazwischen eine Botschaft an den Freund V. B.:

Schreib über Bäume
Es ist kein Verbrechen mehr


Angaben zum Autor:

Alain Lance, geboren 1939 in Bonsecours/Normandie, studierte Germanistik in Paris und Leipzig. Von 1985 bis 1991 leitete er das Institut français in Frankfurt a. M., im Anschluss das Institut français in Saarbrücken und danach bis 2004 das Pariser Literaturhaus Maison des écrivains et de la littérature. In seinem 2009 veröffentlichten Buch Deutschland, ein Leben lang (2012, Matthes & Seitz) beschreibt er anekdotenreich seinen Lebensweg als Vermittler zwischen den Kulturen. Bereits 1977 erschien eine erste Auswahl seiner Gedichte auf Deutsch, schon damals herausgegeben und nachgedichtet von Volker Braun (zusammen mit Paul Wiens). Alain Lance ist neben seiner schriftstellerischen Arbeit auch als Übersetzer tätig, oft gemeinsam mit seiner Frau Renate Lance-Otterbein, u. a. von Volker Braun, Franz Fühmann, Ingo Schulze und Christa Wolf.


Bibliographische Angaben:

Alain Lance
Rückkehr des Echos
Herausgegeben von Volker Braun
Mit Nachdichtungen von Volker Braun, Richard Pietraß, Gabriele Wennmer, Simon Werle und Ludwig Harig.
Faber & Faber, 2020
ISBN 978-3-86730-171-8

Marcus Hammerschmitt: Der Brief des Nachtportiers

Kraftvolle Gedichte, die einschlagen mit Wucht. „Der Brief des Nachtportiers“ ist wie gemacht für schlaflose Nächte.

Bild von M. Maggs auf Pixabay

Psalm

Ich gehe unter Blüten,
denn so ist es sicher.

Fällt mich dort ein Raubtier an,
ein Heiliger mit seinem Glück,
die Zähne werden stumpf,
das irre Lächeln schwindet,
der Blütenschnee macht sie ermatten.

Auch Borke, Rinde, Federvieh.
Alles was sich weiß und rosa
in die Lüfte windet. So sänftigt
die Natur das Gift des hohen Säugetiers.

Es duftet. Es ist weich.
Federn, Blüte, Haargesichte.
Wir hätten was zu essen
und fühlten uns geliebt.
Das gute Ende der Geschichte.

Marcus Hammerschmitt, „Psalm“ aus
„Der Brief des Nachtportiers“


Vielleicht sind dies die passenden Gedichte für Tage wie diese, in denen Sicherheiten schwinden und es keine Eindeutigkeiten mehr gibt. Alles wirkt „klassisch halb“, wie Marcus Hammerschmitt eines seiner Kapitel nennt. „Manchmal ist alles beseelt“, doch diese Momente sind selten. Meistens ist nichts, wie es scheint, und jedes Ding hat seine zwei Seiten:

„Ich trag ihn rum und zeig ihn vor,
den köstlich verrotteten Jahrgang.“

Die Zyklen in diesem Gedichtband führen in die Ferne, in das mauretanische Zouerate unter anderem, und führen zurück in die Heimat, die „Verschränkung“ ist. Dazwischen Fein- und Grobalchemie und „Sexy Science“. Eine große thematische Bandbreite, die unter dem Mikroskop jedoch wiederkehrende Themen offenbart – wie der Mensch sich Natur aneignet, wie er versucht, eine ungezähmte Materie zu bändigen, die sich ihm aber immer wieder aufs Neue entzieht. So heißt es in dem Gedicht „Der Mond ist auf“:

„Die Nacht erzwingt den Wald.
Der Wald erzwingt die Gedanken.
Scherenschnitte erzwungen.“

Sprachlich sind diese Gedichte einfach kraftvoll, das sind Metaphern, die erst einmal einschlagen mit einer eigenartigen Wucht und dann Gedankenströme freisetzen. „Der Brief des Nachtportiers“ erzwingt keine Scherenschnitte, sondern Lesenächte, in denen man die Zeilen gedanklich wiederkäut, enträtselt, weiterschreibt. Wunderbar!


Der Autor, Schriftsteller, Journalist und Fotograf, gibt Selbstauskunft auf seiner Homepage: http://marcus-hammerschmitt.de/

„Der Brief des Nachtportiers“ ist sein erster Lyrikband, veröffentlicht bei der „Edition Monhardt“, wo 2016 auch sein Erzählband „Waschaktive Substanzen“ erschien.


Informationen zum Buch:

Marcus Hammerschmitt
Der Brief des Nachtportiers
Edition Monhardt, 2019
Gedichte, 84 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, Lesebändchen, 21,00 Euro
ISBN 978-3-9817789-6-0

Trailer zum Gedichtband: https://www.youtube.com/watch?v=7PjtSmmsy0E