#MeinKlassiker (29): „Ich wollte nur mal Danke sagen“ – Ulrike Schäfer über Marie Luise Kaschnitz

Die Autorin Ulrike Schäfer bekennt: „Wenn ich nur eine einzige Schriftstellerin nennen dürfte, die mich geprägt hat, dann wäre es Marie Luise Kaschnitz.“

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Bild von Couleur auf Pixabay

Mit ihrem Erzählband „Nachts, weit von hier“, der 2015 beim Verlag Klöpfer & Meyer erschien, hat mich die Schriftstellerin Ulrike Schäfer gefangen: Mich begeisterte diese zurückgenommene, ruhige Art ihres Schreibens, ich mochte die Art des Erzählens, die Raum lässt. Und so war ich sehr gespannt auf ihre Klassikerin – aber auch nicht sehr überrascht, als der Name Marie Luise Kaschnitz fiel: Das passt sehr gut, kam mir spontan in den Sinn, auch eine, die nichts auserzählen musste und dennoch eine ganz eigene Wirkung entfaltet in ihren Erzählungen.
Wer sich in Ulrike Schäfers Texte einlesen will, der findet hier mehr davon: http://www.ulrike-schaefer.de/.

Ulrike Schäfer über ihre Klassikerin:

Wenn ich nur eine einzige Schriftstellerin nennen dürfte, die mich geprägt hat, dann wäre es Marie Luise Kaschnitz. Und wenn ich, stellvertretend für alle ihre Texte, nur einen einzigen nennen sollte, dann wäre es “Das dicke Kind”.

Es war Ende Januar, bald nach den Weihnachtsferien, als das dicke Kind zu mir kam.

Dieser erste Satz, wenn ich ihn heute lese, entwickelt noch den gleichen Sog wie damals, den ich bei so vielen ihrer Kurzgeschichten empfand.

Ich hatte in diesem Winter angefangen, an die Kinder aus der Nachbarschaft Bücher auszuleihen, die sie an einem bestimmten Wochentag holen und zurückbringen sollten. […] Das dicke Kind kam an einem Freitag oder Samstag, jedenfalls nicht an dem zum Ausleihen bestimmten Tag.

So einfach, so alltäglich. Fast alles normal, und ich spüre: Das dicke Kind kommt wie eine Heimsuchung. Ich spüre überhaupt eine Menge, was da gar nicht steht und doch mitschwingt. Satz um Satz zieht es mich weiter.

Es ist kaum möglich, den Inhalt der Geschichte wiederzugeben, ohne sie vollkommen zu banalisieren. Das dicke Kind, zunehmend lästig, ja verabscheut und schließlich gehasst, treibt die Ich-Erzählerin zum See, zum gefährlichen Eis bei Tauwetter, macht sie zur Zuschauerin eines Kampfes und einer Verwandlung und lässt sie schließlich selbst verwandelt zurückkehren.

An meinen Heimweg an diesem Abend erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur, daß ich auf unserer Treppe einer Nachbarin erzählte, daß es noch jetzt ein Stück Seeufer gäbe mit Wiesen und schwarzen Wäldern, aber sie erwiderte mir, nein, das gäbe es nicht.

Was auch immer es ist, das mich an ihrem Ton so anzieht: Diese Lakonie gehört unbedingt dazu. Nein, das gäbe es nicht. Was du erlebt hast, kann so nicht gewesen sein. Und ist es doch, in einer anderen, tieferen Dimension.

Überhaupt die Tiefe: Sie ist da, aber nicht auserzählt. Kaschnitz’ Geschichten sind klar und genau und eröffnen zugleich einen Raum. Ich mag diese Klarheit, ich mag die Schlichtheit und Prägnanz ihrer Sätze, die Dichte ihrer Geschichten. Das Ungesagte. Es ist nicht die einzige Art zu erzählen, die mich begeistert, berührt und beeindruckt, aber sozusagen die erste, die ursprüngliche. Vielleicht gibt es das für jede Leserin, jeden Leser? Dass eine bestimmte Weise zu erzählen so etwas wie ein Wiedererkennen auslöst? Etwas Derartiges jedenfalls empfand und empfinde ich bei ihren Geschichten (und habe es ein zweites Mal bisher nur bei Marlen Haushofers “Die Wand” empfunden).

Wenn ich jetzt die Taschenbücher von damals auf dem Tisch liegen sehe – Wohin denn ich, Jennifers Träume, Seid nicht so sicher, Steht noch dahin, Der alte Garten, Lange Schatten -, dann bin ich voller Dankbarkeit. Nicht nur für das intensive Leseerlebnis – ich habe die Bücher vermutlich alle mehrmals gelesen -, sondern auch weil ihre Prosa auf mich einen zweifachen Sog ausübte. Ich wollte schon schreiben, bevor ich Kaschnitz gelesen habe, aber mit ihr hat dieser Wunsch einen Anker in der wirklichen Welt gefunden, an dem ich mich auch viele Jahre später, als ich es endlich, endlich ernsthaft versuchte, noch festhalten konnte. Meine ersten tastenden Schreibversuche waren Kurzgeschichten, nicht aus einem rein praktischen, schreibökonomischen Grund, aus dem viele Prosaautoren zunächst Kurzgeschichten schreiben. Für mich war diese Form von Anfang an mehr als eine Fingerübung, etwas anderes als die Durchgangsstation zur “Königsdisziplin” Roman. Ich wollte diese Form verstehen, ich wollte sie durchdringen, mich in ihr ausdrücken können, weil sie für mich selbst eine Königsform ist. Wer hat mich das gelehrt?

Einige Jahre nach diesen tastenden Anfängen, aber noch immer mitten im Anfang begriffen, verfolgte ich eine Podiumsdiskussion in Kloster Irsee zum Thema “Muss Literatur innovativ sein?” – eine Frage, die mir große Sorge bereitete, wie ich überhaupt umstellt war von Sorge, was das Schreiben betrifft. Zu den Diskutanten gehörte Dagmar Leupold. Sie sagte etwas, das für mich ebenfalls zum Anker wurde: Sie stelle sich Literatur ja nicht so linear vor, sondern eher als einen Raum, in dem es verschiedene Orte gebe, zu denen man sich dazugesellen, sich zugehörig fühlen könne. Mir leuchtete das unmittelbar ein, und ich hatte diesen Raum sofort bildlich vor mir: eine Art Cocktailparty der Literaturgeschichte, in einer ruhigen Ecke Marie Luise Kaschnitz mit Marlen Haushofer ins Gespräch vertieft.

An diesen Raum denke ich oft. Gerne phantasiere ich mir dann einen befreundeten Kellner herbei, der bei dieser Party serviert und der mir unter der Hand eine Einladungskarte organisiert hat. Unter Beschwichtigungen – ”Das merkt schon keiner!” – schiebt er mich beherzt und illegal ins Getümmel. Da stehe ich nun unter all den Honoratioren und fremdle vor mich hin. Und denke mir irgendwann: Ja wenn du schon mal da bist … Atme ein paar Mal tief durch, schlängle mich an Thomas Mann, Goethe & Co. vorbei, stehe schließlich vor ihr und flüstere sehr verlegen: Ich wollte nur mal Danke sagen.

Ulrike Schäfer
http://www.ulrike-schaefer.de/

Franz Kafka: Briefe an Felice Bauer

Franz Kafka und Felice Bauer: Eine Beziehung, geprägt von Annäherung und Flucht. Vielsagend sind Kafkas „Briefe an Felice Bauer“.

Franz Kafka-Denkmal in Prag. Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Brief an Felice Bauer, 21.,22. und 23. Juni 1913

21.VI 13

Liebste, auch das und vielleicht das vor Allem berücksichtigst Du in Deinen Überlegungen nicht genug, trotzdem wir schon viel darüber geschrieben haben: daß nämlich das Schreiben mein eigentliches gutes Wesen ist. Wenn etwas an mir gut ist, so ist es dieses. Hätte ich dies nicht, diese Welt im Kopf, die befreit sein will, ich hätte mich nie an den Gedanken gewagt, Dich bekommen zu wollen. Was Du jetzt zu meinem Schreiben sagst, kommt nicht so sehr in Betracht, Du wirst, wenn wir zusammen sein sollten, bald einsehn, daß, wenn Du mein Schreiben mit oder wider Willen nicht lieben wirst, Du überhaupt nichts haben wirst, woran Du Dich halten könntest. Du wirst dann schrecklich einsam sein, Felice, Du wirst nicht merken, wie ich Dich liebe und ich werde Dir kaum zeigen können, wie ich Dich liebe, trotzdem ich Dir dann vielleicht ganz besonders angehören werde, heute wie immer. Langsam werde ich ja zerrieben zwischen dem Bureau und dem Schreiben (das gilt auch für jetzt, trotzdem ich seit 5 Monaten nichts geschrieben habe) wäre das Bureau nicht, dann wäre freilich alles anders und diese Warnungen müssten so streng nicht sein, so aber muß ich mich doch zusammenhalten, so gut es nur geht. Was sagst Du aber liebste Felice zu einem Eheleben, wo, zumindest während einiger Monate im Jahr, der Mann um ½ 3 oder 3 aus dem Bureau kommt, ißt, sich niederlegt, bis 7 oder 8 schläft, rasch etwas ißt, eine Stunde spazieren geht, dann zu schreiben anfängt und bis 1 oder 2 Uhr schreibt. Könntest Du denn das ertragen? Vom Mann nichts zu wissen, als daß er in seinem Zimmer sitzt und schreibt? Und auf diese Weise den Herbst und den Winter verbringen? Und gegen das Frühjahr zu den Halbtoten an der Tür des Schlafzimmers empfangen und im Frühjahr und Sommer zusehn, wie er sich für den Herbst zu erholen sucht? Ist das ein mögliches Leben? Vielleicht, vielleicht ist es möglich, aber Du mußt es doch bis zum letzten Schatten eines Bedenkens überlegen. Vergiß dabei aber nicht andere Eigenheiten, die mit dem Vorigen zusammenhängen, aber außerdem in unglücklichen Anlagen begründet sind. Seit jeher war es mir peinlich oder zumindest beunruhigend einen Fremden oder selbst einen Freund in meinem Zimmer zu haben, nun hast Du jedenfalls Menschen gerne, vielleicht auch Gesellschaften (…)

22. VI 13

Aber selbst wenn und solange ich bleibe, also im günstigsten, vergleichsweise günstigsten Fall, werden meine Frau und ich arme Leute sein, welche diese 4588 K sorgfältigst werden einteilen müssen. (…) Du hast schon mehrmals irgendein Leid erwähnt, das Ihr früher zuhause erlitten und ertragen habt. Was war das für ein Leid? Kann man daraus vielleicht die Tragfähigkeit für anderes Leid schließen?

23. VI 13

Nur auf das, was ich jetzt schreibe mußt Du hören, Felice, nur auf das mußt Du antworten, aber auf alles, nicht nur auf die Fragen. Dafür aber verspreche ich Dir aber, wenn Du das tust und in welchem Sinne immer, an Deine Eltern, wenn ich um Dich bitte, nur ganz kurz zu schreiben. Es ist wirklich nur unsere Sache, aber Du mußt ihr gerecht werden.

Franz

„Aber Du mußt ihr gerecht werden“: Da ist einer, der fordert im Namen der Liebe sehr viel ein – und das, nachdem er seitenweise zuvor über die Gründe schreibt, warum es besser wäre, ihn nicht zu heiraten. Die Briefe von Franz Kafka an Felice Bauer – ihre an ihn sind unglücklicherweise nicht erhalten – sie sind einfordernd und fordern, bedrängend und drängend einerseits und zugleich Zeugnisse eines, der lieben will und sich der Liebe doch nicht ganz anvertrauen mag. Ein Brief vorwärts, zwei Telegramme zurück. Sehen werden sich die beiden in diesen Jahren nur wenige Male – die Höhenflüge der Liebe, die Abstürze: Alles findet auf dem Papier statt, nicht im Leben.

Franz Kafka lernte die Berlinerin Felice Bauer im August 1912 kennen, wenig später beginnt der Briefwechsel, eine wahre Briefflut, die mit manchen Unterbrechungen bis 1917 dauert. Als Kafka an Tuberkulose erkrankt, ist das für beide wohl wie eine Erlösung von einer nicht „lebbaren“ Liebe, sie trennen sich.

Der S. Fischer Verlag hat die „Briefe an Felice Bauer“ und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe Kafkas neu herausgebracht, das Buch liegt inzwischen auch als Fischer Taschenbuch vor. Ein guter Einstieg für jene, die sich der Kafka`schen Gedankenwelt nähern möchten – denn auch in den Briefen zeigt sich, wie sich Leben und Werk verknüpften: Felice Bauer leiht den Heldinnen seiner Werke – der Frieda Brandenfeld, dem Fräulein Bürstner bis hin zur Frieda des Schloßromans – nicht nur die Initialen ihres Namens.

Hans-Georg Koch, der die Briefe neu editiert und kommentiert hat, schreibt in seinem Nachwort:

„Briefe schreiben, und nicht nur einen, sondern gleich mehrere am Tag? (…) Vielleicht wären Felice Bauer und Franz Kafka, die in ihrem Hunger nach Mitteilungen einander in nichts nachstanden, in der heutigen Zeit völlig den Möglichkeiten des beständigen elektronischen Austauschs verfallen. Die dichte Abfolge ihrer Briefe unterscheidet sich jedenfalls kaum von SMS- oder E-Mail-Bombardements. Das Warten auf Antwort war allerdings eine größere Geduldsprobe, und gerade angesichts drängender Fragen schrieb Kafka oft bereits den nächsten Brief (…),

Dieses Schreiben mehrmals am Tag, bei dem man nicht weiß, ob überhaupt eine Antwort kommen kann, aber auch dieses vor und wieder zurück, was den Inhalt anbelangt – eigentlich kann sich jeder, der sich binden und doch nicht binden will, und das trifft heute auf viele zu, gut in Kafkas Lage hineinversetzen. Dieser ständige Sinneswandel, das Herantasten und dann doch wieder Fliehen, weil jedes Wort zu viel dann doch wieder zu nahe hingeführt hat zu etwas, wozu man sich letztlich nicht imstande sieht – auch unter diesem Aspekt ist die Korrespondenz zwischen Felice Bauer und Franz Kafka einer heutigen Fernbeziehung via Internet ziemlich ähnlich.“

Dieses vor und wieder zurück – auch die Autorin Marie Luise Kaschnitz schreibt darüber bereits 1967 im Spiegel:

„Dieser ewige innere Widerspruch ist qualvoll — ein pathologischer Sonderfall ist er nicht. In jedem Zueinander- und Voneinanderwegstreben Liebender ist etwas von dem Kafka-Felice-Schicksal, das hier durch die beschwörende Kraft von Kafkas Sprache, durch seine besondere Ungeduld und Trauer, vor allem durch sein künstlerisches Gewissen eine so ungeheure Steigerung erfährt.“

Wie Felice das ausgehalten hat? Ganz einfach: Sie liebte ihn. Als sie sich 1956 aus einer materiellen Notlage heraus von den Briefen trennen musste (sie verkaufte sie für 8000 Dollar, später wurden sie für 605 000 Dollar versteigert), sagte sie: „Mein Franz war ein Heiliger.“