NASSIR DJAFARI: Der Großcousin

Als eines Tages sein Großcousin aus dem Iran vor seiner Tür steht, ändert sich das Leben des kosmopolitischen Unternehmers Abbe grundlegend. Der neue Roman von Nassir Djafari kreist um die Themen von Herkunft und Identität.

„Ich nahm den Brief in die Hand. Das Kuvert war aus dünnem Papier, hellblau mit rot-blau gestricheltem Rand, drei Briefmarken mit dem Konterfei Khomeinis, handschriftlich an mich adressiert. Drinnen befand sich ein dicht beschriebenes Blatt, auf dem sich die vertrauten persischen Schriftzeichen mit ihren vielen Punkten über und unter den Buchstaben aneinanderreihten. Ich verstand nichts.“

Nassir Djafari, „Der Großcousin“, Sujet Verlag, Mai 2024

Abbe ist ein Frankfurter Unternehmer und Kosmopolit, dessen berufliches Netzwerk die halbe Welt umspannt. Doch so sehr er es gewöhnt ist, Verhandlungen mit Partnern in Lateinamerika oder Südafrika zu führen – seine eigenen Wurzeln sind verschüttet. Sein Deutsch perfekt, sein Persisch lückenhaft. Das Land seiner Eltern ist nicht mehr seines. Bis eines Tages Reza vor der Tür steht, ein entfernter Verwandter aus dem Iran.

Der Besucher ist undurchschaubar, verwickelt sich in Widersprüche und verschwindet gleich wieder aus Abbes Leben, nur um einige Zeit später ebenso unvermittelt wieder aufzutauchen und um Hilfe zu bitten. Bald kreist Abbes Leben nur noch um dessen Probleme. Nach und nach erschließt sich ihm das Schicksal des jungen Mannes, und er beginnt, ihn und auch sich selbst besser zu verstehen.

Mit seinem neuen Roman „Der Großcousin“ lenkt Autor Nassir Djafari den Blick auf die Lebensumstände der jungen Generation im Iran: Ohne berufliche Perspektiven, unter ständiger Beobachtung des Regimes und seiner Sittenwächter. Rezas Fehler war es, die „falsche“ Frau zu lieben: Nur die Flucht nach Deutschland ermöglicht es dem jungen Paar, der Kontrolle von Staat und Familie zu entkommen. Zugleich aber ist der Roman auch eine Hommage an die persische Kultur, insbesondere an die unvergleichliche persische Lyrik.

Nassir Djafari erzählt in seinem dritten Roman von Herkunft und Identität, der Flucht vor der alltäglichen Gewalt eines despotischen Regimes, und über die Schwierigkeiten des Ankommens in einem neuen Land.


Zum Autor:

Nassir Djafari, 1952 im Iran geboren, lebt seit seinem fünften Lebensjahr in Deutschland. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre war er in verschiedenen Funktionen für die deutsche und internationale Entwicklungszusammenarbeit tätig. Er hat zahlreiche Artikel und Buchbeiträge über die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Länder des globalen Südens veröffentlicht und sich zu integrationspolitischen Themen geäußert. 2020 erschien sein Debütroman „Eine Woche, ein Leben“, 2022 sein zweiter Roman „Mahtab“, beide im Sujet Verlag.

Bild R . Pigagaite


Zum Buch:

Nassir Djafari
Der Großcousin
Sujet Verlag Bremen
ET: 2. Mai 2024
Softcover mit Klappen
255 Seiten, 19,80 €
ISBN 978-3-96202-136-8

Kontakt zum Verlag:
Sujet Verlag UG
Bornstraße 18
28195 Bremen
Tel.: +49 421 703737
E‑Mail: kontakt@sujet-verlag.de
https://sujetverlag.de/


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John Dos Passos: Orient-Express

John Dos Passos war gerade mal 25 Jahre alt, als er eine Reise in die Länder des Nahen Ostens unternahm. „Orient-Express“: Ein politischer Reisebericht.

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Bild: Michael Flötotto

„Nehmen Sie nur mich“, rief der Sajjid mit schriller Stimme. „Als Kind habe ich die Europäer für eine überlegene Rasse gehalten (…) Ich habe alle Länder gesehen, habe ihre Propaganda gehört. Ich habe gesehen, welche Schmiergelder sie bezahlen und mit welchen Methoden sie kämpfen, all die hochzivilisierten, vornehmen Völker Europas, und ich weiß, was ich weiß. (…) Erst haben wir die Briten gemocht, weil sie besser sind als die Russen, doch nun gibt es keinen Druck von Russland, und die Briten haben sich verändert. (…). Europa ist unser Lehrmeister, Europa gibt uns Waffen“.

John Dos Passos, Orient-Express

John Dos Passos war gerade mal 25 Jahre alt, als er eine Reise in die Länder des Nahen Ostens unternahm. Jung an Jahren, aber reich an Erfahrung: Einen Weltkrieg hatte er bereits miterlebt, zwei Romane verfasst, mit einem davon, „Three Soldiers“, schon eine gewisse Reputation erlangt. Von einem Schriftsteller wie diesem ist kein klassischer Reisebericht zu erwarten – dazu war John Dos Passos zu sehr auch politischer Denker und Sozialrevolutionär. Er verknüpft malerische Szenerien mit politischem und historischem Hintergrund, verbindet die Rolle des Journalisten, der die Geschehnisse mit dem distanzierten Blick des außenstehenden Beobachters aufzeichnet, mit der des Romanciers.

Von Istanbul bis Damaskus

Der Romantitel ist leicht irreführend: Der Roman „Orient-Express“ nimmt eigentlich dort erst richtig Fahrt auf, wo der legendäre Luxuszug endete, in Istanbul. Noch die Bilder vom „Coney Island aller Coney Islands“, Venedig, auf der Netzhaut, landet der junge Autor 1921 in der Metropole. Von dort geht es weiter mit Schiff, Zug, zu Fuß und auf dem Kamel über Tiflis, Eriwan, Teheran, Bagdad bis zum Schlusspunkt Damaskus. Die Reise führt ihn in durch die Türkei, Georgien und Armenien, den Iran (Persien), Irak und Syrien.

John Dos Passos erlebt eine Region, ja einen halben Kontinent im Umbruch, am Siedepunkt: Die Kolonialmächte feilschen um die Vorherrschaft, die russischen Bolschewisten annektieren Landstriche und greifen eisern durch, die türkisch-griechischen Feindseligkeiten erreichen einen neuen traurigen Höhepunkt, der Genozid an den Armeniern, der von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen worden wäre, hätte es damals nicht schreibende Reisende wie John Dos Passos gegeben. Zwischen all diesen Polen ringen die Völker des Orients um ihre Autonomie – ihnen gibt der Amerikaner eine Stimme.

Abscheu vor Orientklischees

Er wird zum Chronisten des Umbruchs, der Zeitenwende, der Massaker, des Flüchtlingselends, der Hungersnöte, aber auch der Schönheit des Orients. Dies hält er in nüchternen Alltagsbetrachtungen fest, fast schon ängstlich bemüht, nicht in die Haltung der „Okzidentalen“ zu verfallen, für die „der Orient“ vor allem eine riesige Projektionsfläche ist. Einerseits schreibt Dos Passos mit „Abscheu vor den ganzen romantischen Orientklischees, von denen es ja selbst im Orient wimmelt“, finden sich andererseits auch Passagen wie die folgende – als „Randepisode“ gekennzeichnet, begibt sich Dos Passos damit selbst in Distanz,  doch bleibt eben auch nicht frei vom Schwelgen im Exotischen:

Als Randepisode ist dieser verblassende Orient noch immer sehr schön. Der unbeschreiblich weiche, federnde Gang eines zweihöckerigen Kamels, die alten Männer mit karminroten Bärten, die mächtigen Turbane, weiß, blau, schwarz, grün auf rasierten Schädeln, Knaben mit Käppchen, unter denen das lockige Haar nach Troubadourart hervorquillt, die gespenstisch verhüllten Frauen, die turmhohen Filzhüte, die bunten Teppiche, die Gewänder aus papageiengrüner Seide, die Bäume von grellem Mangangrün auf gelben Hügeln, dahinwirbelnde Wasserläufe, weiße Esel, die türkisfarbenen Kuppeln, die weißen Mohnfelder.“

Auf dem Pass Taqhe Gara im Irak

Poetischen Passagen wie diese finden sich im Wechsel zu einer kühlen Beobachterhaltung, der Distanz des Reporters. „In den letzten Jahren hat die Geschichte diese Region abermals heimgesucht in Gestalt dreier gnadenloser Armeen. Während des Weltkriegs haben Türken und Russen hier gegeneinander gekämpft. 1918 kamen die Briten in ihrem Feldzug um Öl hierher und bauten die Straße, genauer gesagt, erneuerten sie“, beschreibt Dos Passos den Weg auf dem Pass Taqhe Gara in den Irak. „Das hat dazu geführt, dass hier kaum noch ein Clan oder Dorf steht, dass die Wüste, Schauplatz der gossen Aufmärsche der Geschichte, das ganze Agrarland aufgefressen hat und dass man während einer Tagesreise in einem klapprigen Ford nichts zu essen findet, außer, mit viel Glück, eine Schale saurer Milch im Zelt kurdischer Nomaden.“

Erstmals in deutscher Übersetzung

Erstaunlicherweise liegt dieser ungewöhnliche Reisebericht eines großen Schriftstellers erst seit Frühjahr 2013 in deutscher Veröffentlichung vor, übersetzt durch Matthias Fienbork. Dabei ist diese Reportage in Romanformat beziehungsweise dieser Roman im Reportagestil, betrachtet man die Ereignisse im Nahen Osten, nicht nur hochaktuell, sondern vermutlich auch zeitlos: Die Sünden der Vergangenheit, die Wunden, die kolonialistische Fremdmächte geschlagen haben, die Zerrissenheiten zwischen den Ländern selbst erscheinen in naher Zeit kaum heilbar.

Informationen zum Buch:

John Dos Passos
Orient-Express
Verlag Nagel & Kimche, 2013
ISBN: 978-3-31200-552-9