Schon der Titel dieses Buches lässt die Leidenschaft erahnen, die diese Verse prägen. „Aus Glut geschnitzt“ heißt der Gedichtband von Dinçer Güçyeter.
Bild: (c) Michael Flötotto
Liebste! werden wir es wagen barfuß zu laufen über dieses Feuer
Schon der Titel dieses Buches lässt die Leidenschaft erahnen, aus denen diese Verse geschmiedet sind. Es sprühen die Funken in diesen Zeilen: „Aus Glut geschnitzt“ hat Dinçer Güçyeter seinen inzwischen dritten Gedichtband genannt. Sie sind ganz offenbar einem Herzen und Hirn entsprungen, das glüht, das brennt, das sich manchmal auch verbrennt:
Auf einem trockenen Kastanienzweig hat mich der Morgenwind vergessen mein aufgebraustes Dichterherz bleibt die Brücke über alle Flüssen
Nicht mehr/weniger als diese Gedichte – das stellt Dinçer Güçyeter als denkbar knappste Selbstvorstellung auf dem Buchumschlag seinem Portraitfoto zur Seite. Was auch sagen will: Hier, in diesen Zeilen, steckt mein ganzes Ich, mit Herzblut geschrieben, aus Glut geschnitzt.
Es ist keine sachlich-nüchterne Lyrik, sondern Poesie – manchmal zart, manchmal brachial, manchmal verletzlich und gewalttätig zugleich. Und natürlich drehen sich viele der Verse um eine der elementarsten, wenn nicht gar die elementarste menschliche Leidenschaft: Die Liebe.
welche Erinnerung ich auch aufschlage deine zitternde Handschrift flickt die Gegenwart die Sonne küsst meine Brust mit aufgerissenen Lippen
Mag sein, dass diese Zeilen an eine Geliebte gerichtet sind. Es mag aber auch sein, sie sind eine Widmung an die Mutter, den Vater. Denn Güçyeter wechselt immer wieder die Sichtweise, die Perspektive, den Adressaten in diesem Gedichtband, der vor allem auch eine Reminiszenz an das verlorene Paradies der Kindheit ist. Beeindruckend der Tonfall im Gedichtreigen „Konzert für Kinder und Nächte“, anrührend die Erinnerungen „an den Jungen, den Jungen mit der grünen Strickjacke“ – der Junge, in Deutschland geboren, der hier selbst zum Vater wird, in diese Kultur hineinwächst und dennoch den Samen der anderen Kultur mit den Eltern eingepflanzt bekam. Diese doppelte Prägung machen auch die Faszination der Gedichte aus: Da hat einer keine Scheu, fast schon ornamentale Sprachgewinde zu knüpfen, da pocht das Erbe der Märchenerzähler an die Tür, das dann wiederum durchbrochen wird durch alltägliche Szenerien, durch ein ganz und gar prosaisches Bild.
der verirrte Pfau klopft in der Morgendämmerung ans Fenster jeder weiß: eine Brotdose kostet hier 3 Überstunden aber dafür …
Dinçer Güçyeter, der 1979 in Nettetal zur Welt kam, hat anatolische Wurzeln: Seine Eltern kamen als Arbeitsmigranten nach Deutschland. Ihnen hat der Dichter mit diesem Band ein Denkmal gesetzt – voller Liebe für die Mutter, voller Respekt, wie sie ihr hartes Arbeitsleben bewältigte. Im Ringen und in der Abgrenzung, aber auch mit Hingabe an den Vater, der in manchen Bildern fremd und distanziert erscheint.
keiner will es glauben, aber… der Tod eines Vaters ist die zweite Geburt des Sohnes
Und so rührt es auch sehr an, wenn der Schreibende seinem eigenen Sohn etwas auf den Weg mitgibt:
höre auf deinen Papa: sei ein Schmetterling, finde die Blütenlichter nimm nicht den gleichen Weg, aber höre auf den verlorenen Dichter (…) warte nicht auf bessere Zeiten, nie auf das milde Wetter springe auf den Schlitten, spalte den Schneesturm ruhe nie im süßen Apfel, die Messer sind scharf
„Sei Schnitt, sei Schlitz, sei Wunde“: Die Verse von Dinçer Güçyeter sind dies. Viel Anerkennung bekam dieser auch optisch augenfällige und außergewöhnliche Gedichtband von Gerrit Wurstmann bei Signaturen:
„Hör zu“, fordert uns der Dichter auf, und was er zu erzählen hat, ist oft erschütternd. Seine Verse sind ein Brennglas auf die Untiefen der Realität; das Schöne findet sich nur als Wunsch, Fantasie, Erinnerung, hier und da blitzt oder glüht es auf zwischen all den Schrecken von Flucht, Ausbeutung und Gewalt, denen als Kontrapunkt die unschuldige Naivität des kindlichen Blicks entgegengesetzt wird.
Es wäre schön, wenn der Dichter noch viele Zuhörer fände: Denn auch wenn man die Lyrik von Dinçer Güçyeter nicht auf diesen einen Kern reduzieren kann, so ist sie doch auch ein Zeugnis jener Ausdrucksform, jener Sprache, die erst zwischen dem Zusammenkommen zweier Kulturen wächst und uns bereichern kann. Immer wieder fühlte ich mich beim Lesen an den berühmten Satz von Max Frisch erinnert: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“
Menschen, die ein großes Stück ihrer alten Heimat, ihrer Kultur, ihrer Tradition mitbringen und wie in einem Granatapfelkern verschlossen ihren Kindern einpflanzen – und daraus entsteht eine wunderbare Sprache, die beide Welten in sich vereint.
Nicht unerwähnt darf bleiben, dass das Buch auch optisch ein Schmuckstück ist. So wird auf dem “Rosinante Literaturblog” geschwärmt:
“Überhaupt hat man das Gefühl in einem Märchenbuch zu blättern. Das ist auch der phantastischen Bebilderung dieses farbenprächtigen Bandes geschuldet. Kunstvolle Collagen, Fotos von Yavuz Arslan und Ornamente auf türkisem Grund inszenieren das Zusammenfließen der Magie geträumter Möglichkeiten und den Gesichtern des Alltags in ganz herausragender Weise. Aber sie hüten sich davor zu erschrecken.”
D`accord!
Informationen zum Buch:
Dinçer Güçyeter Aus Glut geschnitzt Elif Verlag, 2017 ISBN 978-3-946989-09-7
“Das Gefängnis ist die Schule der türkischen Literatur”: Schon Yaşar Kemal, Sabahattin Ali und Aziz Nesin bezahlten für ihr Schreiben einen hohen Preis.
Bild: (c) Michael Flötotto
„Es gibt keinen Zweifel – das Gefängnis ist die Schule der türkischen Gegenwartsliteratur.“
Yaşar Kemal – verhaftet, gefoltert, verurteilt
Auch der kurdische Schriftsteller Yaşar Kemal (1923 – 2015), von dem das Zitat stammt, ging durch diese Schule: Schon als 17jähriger wurde er wegen eines Gedichtes verhaftet. Insgesamt saß Kemal drei Mal in türkischen Gefängnissen ein, wurde gefoltert, überwacht und bespitzelt. Und selbst, nachdem er in den 1970er Jahren für den Literaturnobelpreis im Gespräch war, blieb der Schriftsteller, der sich politisch links engagierte, nicht unangetastet: Er wurde unter anderem wegen seiner Kritik an der Kurden-Politik der Türkei 1996 wegen Volksverhetzung zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt.
Die Opposition türkischer Schriftsteller gegen das jeweilige Regime hat (bis heute) Tradition. Auf der Homepage des Unionsverlages, bei dem Yaşar Kemals Bücher in deutscher Übersetzung erschienen sind, ist dazu ein Text des Schriftstellers zu lesen:
„Opposition ist eine türkische Tradition. Und wenn man die Geschichte der türkischen Literatur näher untersucht, dann findet man in ihrem Zentrum die Bauernliteratur, oder vielmehr die Volksliteratur. Anatolien war schon immer ein rebellisches Stück Land, seit dem 13. Jahrhundert ist hier die Kette der Revolten nicht abgebrochen. Aus diesen Aufständen sind immer auch Künstler herausgewachsen.
Die Schriftsteller meiner Generation stehen in dieser Traditionslinie. Sogar Hikmet, der aus einer Aristokratenfamilie des Osmanischen Reiches stammt, fand den Weg mitten ins Herz Anatoliens: Er saß siebzehn Jahre für seine Überzeugung im Gefängnis, und dort hat er seine Lyrik entwickelt, im Kontakt mit den Menschen Anatoliens, mit Dieben, Mördern, kleinen Gaunern, mit Unterdrückten aller Art, mitten im Volk und seinem riesigen Schatz an Erfahrungen.
Das ist wohl eines der überraschendsten Merkmale der Schriftsteller meiner Generation. Es gibt praktisch keinen, der nicht durchs Gefängnis gegangen ist. (…) Es gibt keinen Zweifel – das Gefängnis ist die Schule der türkischen Gegenwartsliteratur.“
Mehmed, mein Falke – ein Meilenstein der türkischen Literatur
Der Zyklus um Mehmed, jenen anatolischen Bauernjungen, der gegen einen ausbeuterischen Großgrundbesitzer rebelliert, der zum Aufständischen, zum Vorbild und zum Mythos wird, war meine erste Berührung mit der türkischen Literatur. „Mehmed mein Falke“ las ich in Jugendjahren mit einer ähnlichen Begeisterung wie ich sie für andere mitreißende Abenteuerromane hatte. Als eine Art türkischen „Robin Hood“ oder auch „Kohlhaas“, ohne den politischen Kontext zu ahnen.
Erst später begriff ich, warum das 1955 erschienene Buch – das seither um die Welt ging – vor allem für die Türkei ein Meilenstein war. Kemal brachte die anatolische Sprache (was an der deutschen Übersetzung natürlich nicht absehbar ist) und anatolische Themen in die türkische Literatur. Vor allem aber zeichnete er mit diesem Epos, das zugleich poetisch und gewalttätig ist, ein unverstelltes Bild der bitteren Armut der Landbevölkerung in Anatolien, der Unterdrückung und der Ungleichheit, benennt die materielle und sozial Kluft zwischen den Klassen in der Türkei, soziale, aber auch rassistische und religiöse Schranken, die bis heute bestehen.
In seinen Erinnerungen (Der Baum des Narren. Mein Leben. Im Gespräch mit Alain Bosquet, Unionsverlag 1999) sagte Kemal über Mehmed:
„Als ich jung war, glaubte ich, dass es auf dieser Welt Menschen mit einer »Verpflichtung« gibt. Später begriff ich, dass die Welt voller aufrührerischer Schicksale ist, wie das des Scheichs von Sakarya. Für mich war die Welt vor allem das Werk dieser Aufständischen; sie drückten die Quintessenz unserer Menschheit aus. Sie hatten unser Universum verändert, um es uns in seinem jetzigen Zustand zu übergeben. Sie werden es auch in Zukunft verändern, sie werden uns helfen, dem Bösen zu widerstehen, und uns in eine menschlichere Welt führen. Es sind Männer, die in den Kampf zogen, Menschen, die den Kampf aufnahmen, obwohl sie wussten, dass sie alles, auch ihr Leben, verlieren würden; sie kämpfen, obwohl ihr Scheitern vorhersehbar ist, und sie gehen ihrem Schicksal entgegen: dem Schicksal der Besiegten.“
Auf „Mehmed mein Falke“ folgten in diesem Zyklus noch drei weitere Romane: „Die Disteln brennen“ (1969), „Das Reich der Vierzig Augen“ (1984) und „Der letzte Flug des Falken“ (2003). Freilich ist der erste Roman dieser Reihe nicht nur der bekannteste, sondern auch der beste der Mehmed-Bücher. Aber auch wenn es manchmal etwas Geduld braucht und Beharrungsvermögen, so lohnt es sich doch, lesend das Schicksal Mehmeds durch alle vier Teile zu begleiten.
Sabahattin Ali – der türkische Gorki
Für Yaşar Kemal war der 20 Jahre vor ihm geborene Sabahattin Ali sowohl in literarischer Hinsicht als auch in Haltungsfragen ein Vorbild: Ali (1907 – 1948), der „türkische Gorki“, ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Türkei. Und doch sollte es bis 2014 dauern, bis sein Romanerstling „Yusuf“ (1937) in deutscher Sprache erschien – obwohl der Roman als sein Meisterwerk gilt, wie die Übersetzerin Ute Birgi in ihrem Nachwort zur deutschsprachigen Ausgabe beim Dörlemann Verlag schreibt.
Schon vor Kemal stellte Ali die Landbevölkerung in den Mittelpunkt seiner Werke, deren Traditionen, vor allem aber deren Leben in Armut und Unterdrückung. Und wie sein literarischer Nachfolger im Geiste zahlte er dafür einen hohen Preis: Der sozialkritische Schriftsteller landete – wie Kemal – für ein Gedicht im Gefängnis. Allerdings verlief sein Schicksal weitaus tragischer: Ali und Aziz Nesin, von dem hier noch die Rede sein wird, wurden als Herausgeber einer satirischen Zeitung verhaftet, aber ohne Anklage wieder freigelassen. Daraufhin beschloss der Schriftsteller, aus der Türkei zu fliehen – und wurde am 2. April 1948 an der türkisch-bulgarischen Grenze ermordet. Bis heute ist umstritten, ob es sich um einen Raubmord handelte oder der türkische Geheimdienst verantwortlich war.
„Bis die Umstände dieses Todes endlich offengelegt werden, wird sich der Verdacht halten, dass die erwähnten und ähnliche unbekümmerte Äußerungen des wegweisenden Schriftstellers und Stilisten zu seinem schrecklichen Ende beigetragen haben. Ein großer Verlust für die Weltliteratur – gemildert nur durch das tröstende Überleben seiner Werke, mit denen Sabahattin Ali sein Ideal, das Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen, den Menschen auch in Zukunft ans Herz legen wird“, so Ute Birgi in ihrem Nachwort zu „Yusuf“.
„Yusuf“ ist ein Roman, den ich Lesern empfehle, die die stille, poetische Traurigkeit, die diesem Buch innewohnt (die zugleich aber auch einer harten, brutalen Welt beigesellt ist) zu schätzen wissen. Eine Liebesgeschichte voller Melancholie, eine Liebe gegen alle Widerstände, ein gebrochener und dennoch strahlender Held:
„Er (Sabahattin Ali) legte großen Wert auf den inneren Zustand seiner Figuren, die oft etwas Zerrissenes charakterisiert“,
betont Maike Albath in ihrer fundierten und umfangreichen Besprechung des Buches, in der sie auch umfassend auf die Person des Schriftstellers eingeht.
Aziz Nesin – Literatur und Knast
Wenn von den dezidiert politischen Autoren der Türkei dieser Generation die Rede ist, dann darf der oben erwähnte Aziz Nesin (1915 – 1995) nicht ungenannt bleiben. Auch er, flapsig ausgedrückt, war wie Kemal und Ali ein „Knastbruder“, der wegen seiner Haltung und politischen Gesinnung mehr als fünf Jahre im Gefängnis war, über 200 politische Prozesse über sich ergehen und ständige Anfeindungen ertragen musste.
“In der ganzen Welt gibt es nur wenige Autoren, die so viele Feinde haben wie ich. Gegen diese Feinde unterstützten mich stets meine Leser. Sie zeigten sich solidarisch mit mir, gegen die Polizei, gegen die Regierungen, gegen die politische Unterdrückung und gegen Klatsch und Tratsch.”
Im Gegensatz zu Kemal und Ali schrieb Nesin weitaus satirischer, direkt und brachial, manchmal auch obszön. Ein Gefängnisdialog aus seinem bekanntesten Roman „Surnâme“:
„Gnädiger Herr“, fragte einer, „welche Hinrichtungsmethode ist eigentlich die beste?“ „Weiß ich nicht“, antwortete er. „Die Staaten halten das verschieden, man darf sich nicht einmischen. Bestimmt ist unsere Art, am Galgen zu hängen, die lustigste, wenn auch nicht die menschlichste.“ „Lustig? Was findest du lustig am Strick?“ „Es kommt auf die Nebenwirkungen an. Unser verstorbener Lehrer an der juristischen Fakultät erzählte uns, man habe bei Prüfung der Wäsche eines Aufgeknüpften gewisse verklebte Stellen gefunden (…).“
Surnâme – Festgedicht im Todestrakt
Im Grunde dreht sich in diesem Buch – schon der Titel ein satirischer Seitenhieb, ist doch eine „Surnâme“ eigentlich ein Festgedicht, um die Sultansfamilie zu preisen – alles um Sex, Blut, Gewalt, Tod. Ein harmloser Barbier kommt, durch die Umstände Opfer und Täter zugleich geworden, in ein türkisches Gefängnis und wird in dessen System Tag für Tag zerrieben und zerbrochen, bis ihn die Todesstrafe ereilt. Satirisch überspitzt und gnadenlos ehrlich – so wurde der 1976 erschienene Roman in der sogenannten „Zwischenputschzeit“ zu einer Abrechnung mit der türkischen Scheindemokratie und einem deutlichen Protest gegen die Todesstrafe.
Sie kamen aus dem Gefängnis, sie schrieben im Gefängnis, sie schrieben über das Gefängnis – aber immer schrieben sie, diese großen alten Männer der türkischen Literatur, trotz und gegen alle Widerstände. Und ihre Werke wurden gelesen, wurden von Erzählern durch die Kaffeehäuser der Türkei getragen, sind im Gedächtnis verankert. Ihre Bücher überlebten.
Das macht Mut, gerade in den heutigen Zeiten.
Die Bücher Yaşar Kemals liegen im Unionsverlag in deutscher Übersetzung vor.
Von Sabahattin Ali erschienen beim Dörlemann Verlag „Yusuf“ und „Die Madonna im Pelzmantel“.
Von Aziz Nesin gibt es mehrere Bücher in deutscher Übersetzung antiquarisch. Der Unionsverlag bietet auf seinen Seiten viele Informationen über den Schriftsteller.
Zwischen Tradition und Moderne: Die Türkei ist ein zerrissenes Land. Und Schriftsteller wie Hikmet, Edgü und Pamuk bewegen sich oftmals zwischen diesen Polen.
Bild: (c) Michael Flötotto
„Wäre der Reisende am Fenster nicht so müde von der Fahrt gewesen und hätte er etwas mehr auf die wie Flaumfedern vom Himmel fallenden Flocken geachtet, dann hätte er womöglich den starken Schneesturm, der da aufzog, gespürt und gefühlt, dass er sich auf eine Reise machte, die wohl sein ganzes Leben verändern würde, und wäre umgekehrt.“
Orhan Pamuk, „Schnee“, 2002
Zwischen dem Erbe des Osmanischen Reiches und dem Streben nach einer modernen Republik, zwischen den historischen und religiösen Bindungen an die arabische Welt und der Annäherung an den Westen, zwischen Reformverfassung, Demokratisierung, aber auch Militärputschen und Autoritarismus, zwischen Ost und West: Seit einem Jahrhundert ist die Türkei im Grunde ein zerrissener Staat, eine Nation, die sich vielleicht immer noch (er-)finden muss – und sich derzeit leider in einer Rückwärtsbewegung befindet. Die türkische Literatur, auch sie ist ein Abbild dieser Entwicklungen, seit 1923 die türkische Republik unter Atatürk ausgerufen wurde – traditionelle Erzählformen mischen sich mit modernen poetischen Experimenten, biographisches Schreiben mit fiktivem Erzählen.
Dazu drei Beispiele aus der Literatur: Ein autobiographischer Roman, der von den turbulenten Tagen des Aufbruchs und vom Glauben an Utopien, an Veränderungen und an die Schönheit des Lebens handelt. Eine parabelhafte Erzählung, die einen Vertreter der Moderne und der Stadt in eine Reise in das Innere des Landes und in sein eigenes Ich sendet. Und das Werk eines Literaturnobelpreisträgers, das zeigt, dass Liebe, Literatur und Fanatismus einander entgegenstehen – ein Roman, der den zerrissenen Zustand einer Gesellschaft schildert, die der Westen zu lange ignoriert hat.
Nâzim Hikmet, „Die Romantiker“, 1963: „Mensch, das Leben ist schön!“
Die Lebenserinnerungen von Nâzim Hikmet setzen 1924 ein. Der junge Dichter wartet versteckt in einer Hütte in Izmir nach einem Hundebiss die vierzig Tage Inkubationszeit ab – sich selbst beobachtend, ob er mit der Tollwut angesteckt wurde, zugleich aber auch eine intensive Innenschau abhaltend. Nâzim alias Ahmet ist ein in Moskau geschulter Kommunist, der in der jungen türkischen Republik gegen die Ausbeutung der Bevölkerung agitiert. Szenen aus dem bitterarmen Anatolien, Bilder erschossener Soldaten, hungernder Bauern, vollverschleierter Frauen wechseln sich ab mit den Erinnerungen an Moskau und Anuschka, seine große Liebe. Und obwohl die Revolution ihre Kinder frisst und die Liebe verrät: Am Ende steht das Bekenntnis: „Mensch, das Leben ist schön!“ Trotz der widrigen Lebensumstände – „Die Romantiker“ ist tatsächlich ein Buch der Lebenslust. Ein Buch, das Politik und Poesie vereint – denn nur ein Romantiker, der das Leben liebt, wirft sich so in den politischen Kampf für eine bessere Welt. Pragmatiker tun dies nicht.
Im Kanon der wichtigsten europäischen Bücher
„Die Zeit“ nahm den Roman in ihren Kanon der 70 wichtigsten europäischen Bücher der Nachkriegsliteratur auf. Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk schrieb dort über Hikmet, den romantischen Dichter, der leidenschaftlich liebte:
„Im Gegensatz zu so manchem realistisch angelegten politischen Roman jener Epoche verläuft die Handlung in den Romantikern keineswegs eindimensional. Es kommt zu zahlreichen Zeit- und Ortssprüngen, gewöhnliche Rückblenden wechseln sich mit dadaistischen Brüchen ab (…). …lauter einzelne Szenen, die ineinander übergehen und sich durch die einfache Sprache mit ihren kurzen, wie Pinselstriche hingeworfenen Sätzen zu dem Gesamteindruck eines vollkommenen lyrischen Gedichts aus der Feder eines zwar leidenden, aber von der Schönheit des Lebens durchdrungenen Poeten verdichten. Bewundernd denkt sich der Leser, dass man, um die Dinge des Alltags so treffend festzuhalten, das Leben wohl besonders lieben muss und dass man, um das Leben so sehr zu lieben, wohl lange im Gefängnis gewesen sein muss.“
Bedenkt man, wie in der Türkei derzeit Menschen des Wortes – Journalisten und Schriftsteller – verfolgt werden, hat auch das Nachwort von Peter Bichsel wieder ganz aktuellen Stellenwert:
„Wer hingeht und alles anschaut und alles beschreibt und die Leiden des Lebens sieht und sagt: „Mensch, das Leben ist schön.“ So einer ist ein Verräter. Er spricht aus, was Millionen seit Jahrhunderten als Wissen in ihren Herzen tragen – ein revolutionärer Satz – Poesie und Politik könnten dasselbe sein. Es gibt Gründe, weswegen Politiker in aller Welt die Poeten als Romantiker bezeichnen. Ihre Alternative heißt Realismus, und Realismus heißt für sie, das Leben nicht anschauen, das Leben nicht bewundern.“
Ferit Edgü, „Ein Winter in Hakkari“, 1977: „Wenn eure Welt die Welt der Vernünftigen ist, so lasst mich wahnsinnig werden.“
Ist schon Hikmets biographischer Roman durch das Sprunghafte seiner Erzählstruktur eine Herausforderung an die Konzentration des Lesenden, so ist es dieses Werk – ein Beispiel experimenteller Literatur aus der Türkei – um ein Vielfaches mehr. Ein Einstieg in das Hochgebirge der Sprache: Lyrische Einsprengsel, Parabeln, Briefe, Anekdoten wechseln sich ab, erfordern Konzentration auf den Weg, den man durch den Schnee bei Hakkari nimmt.
Archaische Lebensumstände
Die Rahmenhandlung ist jedoch denkbar einfach: Ein Lehrer kommt in ein abgeschiedenes Dorf in der Türkei, in dem die Menschen unter fast archaischen Umständen leben. In dem unzulänglichen Gebiet fühlt der Mann sich wie in einem Gefängnis – doch fern ab vom städtischen Trubel, weit weg von seinen Freunden und einer namenslosen Geliebten findet er wieder zu sich selbst. Nach einem Jahr und einem langen harten Winter verlässt er Hakkari wieder.
„Als man ihm mitteilt, er könne wieder gehen, wohin er wollte, hat er vergessen, daß dieser Ort sein Gefängnis war.“
Ob der Lehrer strafversetzt wurde oder in eine Art freiwilliges Exil ging – es bleibt unklar. Ebenso verbleiben auch andere Erzählstränge im Parabel- und im Märchenhaften, so die Geschichte des rätselhaften Buchhändlers, der dem Fremden eine alte Landkarte überlässt und dann mit seiner Familie unter mysteriösen Umständen verschwindet.
Alles in allem ein bedrückendes, bedrohliches Szenario, das auch eine Metapher für die politische Situation in der Türkei sein könnte – sich aber ebenso dieser rein politischen Interpretation entzieht. Ein anspruchsvolles Buch, eines, das nachwirkt – weil man sich fragen könnte, wo einen selbst ein Winter in Hakkari führen würde. So schrieb Anne Frederiksen in der Zeit:
„Aus der realen Gegend Hakkari – klar, kalt und karg – wird schließlich ein locus amoenus, von dem aus der Erzähler eine neue Reise beginnt: „Dann kommen wir auf eine Ebene. Auf eine sattgrüne Ebene, auf eine Ebene, bedeckt mit weißen Blumen, deren Namen ich nicht weiß.“
War Hakkari nur ein Innehalten, ein Atemholen, um sich für etwas Neues zu öffnen? Die Vermutung liegt nahe, wenn man die Aufforderung an uns, die Leser, die die Reise nach innen begleitet haben, weiterdenkt:
„Reisender, wenn du dich eines Tages in deinem Weg irrst, versuche nicht, deinen alten Weg wiederzufinden, suche dir einen neuen Weg.“
Die Erzählung erschien in deutscher Übersetzung beim Unionsverlag, ist derzeit jedoch vergriffen.
Orhan Pamuk, „Schnee“, 2002: „Der Mensch lebt, verfällt, vergeht.“
Der Dichter Ka, der sich in jungen Jahren als Student politisch engagierte, kehrt aus seinem Frankfurter Exil in die Türkei zurück. Ka wird gebeten, über eine befremdliche Selbstmordserie in seiner Geburtsstadt in der anatolischen Provinz zu schreiben: Einige junge Frauen, denen die Vollverschleierung beim Besuch der Universität verweigert wurde, nahmen sich das Leben. Kaum in seiner Heimat angekommen, begegnet Ka nicht nur seiner Jugendliebe, sondern auch einem durchgeknallten Theaterschauspieler, der eine Revolte im echten Leben inszeniert, radikalen Islamisten, aufrührerischen jungen Kurden, kämpferischen Kommunisten, traditionellen Kemalisten, korrupten Provinzpolitikern, dem Militär, der Geheimpolizei und etlichen anderen Akteuren mehr. Die Stadt ist ein Gemisch aus verschiedenen Gesinnungen und Völkern, Türken, Kurden, Aserbeidschaner, Tscherkessen, und viele mehr.
Bitterböses Szenario um einen weltfremden Dichter
In der Kleinstadt, die durch einen Schneesturm von der Außenwelt abgeschnitten ist, überschlagen sich die Ereignisse, werden Aufständische gefoltert und ermordet, entfaltet sich ein bitterböses Szenario – das Pamuk jedoch mit mildem Humor wie eine Provinzposse inszeniert, in deren Mittelpunkt der weltfremde Dichter steht: Während um Ka herum die Kämpfer fallen, setzt er sich nieder, um – nach langer Schreibblockade – wie im Fieber unzählige Gedichte zu verfassen, berauscht von den Ereignissen, vor allem aber durch die intensive Leidenschaft zu seiner schönen Geliebten.
Natürlich geht das Ganze für den Dichter nicht gut aus – er entkommt zwar der Stadt und dem Schneesturm, der lange Arm des Terrors, das Gedächtnis des Hasses holen ihn jedoch in Frankfurt wieder ein.
„Schnee“ ist tatsächlich ein Roman, der die Vorgänge in der Türkei mit erklären hilft. Hilal Sezgin schrieb über das Buch in der „Zeit“:
„Es ist stets Orhan Pamuks großes Ärgernis, ja beinahe schon sein Fluch gewesen, dass alle Welt seine Romane als politische Kommentare zu lesen versuchte (…).Doch einmal, dieses einzige Mal, hat Pamuk tatsächlich einen politischen Roman geschrieben: Schnee. Er erschien im Original 2002, im Deutschen 2005. Ka nennt sich die Hauptfigur; kar heißt im Türkischen der titelgebende Schnee; und dieser legt sich in den Tagen, in denen die Geschichte irgendwann in den 1990er Jahren spielt, über Kars – eine 75000 Einwohner zählende Stadt im Südosten der Türkei. Wenn man bei dieser Reihung von Ks Kafkas Josef K. assoziiert, liegt man nicht falsch, und beim Lesen kommt einem wiederholt das Attribut »kafkaesk« in den Sinn. Der Roman erzählt eine Art politischer Groteske, bei der ein verliebter Dichter die Aufklärung einer politischen Verschwörung unternimmt.“
Literaturnobelpreis für Pamuk
Ich muss gestehen, ich habe mich mit anderen Romanen des türkischen Literaturnobelpreisträgers auch schon trefflich gelangweilt. „Schnee“ dagegen hielt mich in seinem Bann: Da Absurde der Situation, das Groteske, der schwarze Humor, aber auch die zauberhaft-melancholische Liebesgeschichte und vor allem die poetischen Auslassungen über den Schnee helfen auch über einige Längen des – wie bei Pamuk immer – umfangreichen Werkes hinweg.
Doch in erster Linie ist „Schnee“ ein ganz offen politischer Roman, der verdeutlicht, wie verworren die gesellschaftliche Situation in der Türkei ist, welche widerstreitenden Mächte dort walten. So sieht sich ein Kommunist plötzlich in der Lage, mit den Islamisten gegen das Militär zu paktieren – nichts ist einfach in diesem Szenario:
„Die Frage ist die: Muß ich jetzt als ein Kommunist, ein Anhänger der Moderne, ein säkularer, demokratischer Patriot zuerst der Aufklärung vertrauen oder dem Willen des Volkes? Wenn ich vor allen Dingen an Aufklärung und Verwestlichung glaube, muß ich diesen Militärputsch gegen die Islamisten unterstützen. Andernfalls, wenn der Wille des Volkes unbedingt Vorrang hat und ich ein Demokrat ohne Wenn und Aber geworden bin, dann muß ich gehen und meine Stellungnahme setzen.“
Mein Fazit: „Schnee“ erklärt nicht Erdogan. Aber das Buch erklärt ein Stück weit mit, warum sich offenbar so viele Menschen in der Türkei in komplizierten Zeiten für so einfach scheinende Lösungen, wie sie scheinbar starke Männer an der Staatsspitze versprechen, begeistern können.
Sait Faik war ein Volksdichter und ein Flaneur. Mit seinen Erzählungen, meist in den Kaffeehäusern Istanbuls entstanden, erneuerte er die türkische Literatur.
Bild: (c) Michael Flötotto
“An Sommersonntagen wirkt Istanbul wie ausgestorben. Durch Beyoğlu schleppen sich nur wenige Passanten, ein paar Kindern schlüpfen in ein Kino. Betäubt von der Hitze gehen in ihren schwarzen Kleidern zwei Frauen von der Kirche nach Hause. Hinter der Scheibe eines Kaffeehauses dösen weltentrückte Rentner. So ist Istanbul am Sonntag eben. Aber passen Sie auf, ich führe Sie an einen Ort, da werden Sie sich amüsieren. Moment mal, wohin sollen wir, wo wir doch auch in kühle Fluten tauchen oder süß unter Kiefern schlummern könnten? Das wäre natürlich möglich, aber es gibt in Istanbul einen Ort, der heißt Yüksekkaldirim, und den besuchen zu dieser Stunde heimwehkranke Rekruten, Lehrlinge, Pastetenbäcker, anatolische Köche und arme Schlucker, die nicht an den Strand können, oder eben Istanbuler, die mit Kieferwäldchen und Meeresstränden nichts anfangen können oder ihrer einfach überdrüssig sind. Musik gibt es dort ganz umsonst. Eisgekühlte Limonade kostet nicht fünfundsiebzig Kuruş, sondern nur siebeneinhalb. Und für zehn Kuruş bekommen Sie auf schönen Tellern ein Kirschsahneeies, wie es in Beyoğlu selbst um eine halbe Lira nicht zu haben ist.”
Sait Faik Abasiyanik, „Geschichten aus Istanbul“
Als Sait Faik Abasiyanik 1954, erst 48 Jahre alt starb, nahm an seiner Beerdigung eine große Menschenmenge teil. Die Anteilnahme wundert nicht: „Sait Faik“, wie er liebevoll vom Volksmund genannt wurde, war ein Volksdichter, ein Menschen-Erzähler. Seine Erzählungen und Kurzerzählungen, Miniaturen eines Spaziergängers und Kaffeehausbesuchers, kreisen zum größten Teil um die „kleinen“, einfachen Leute und ihre einfachen Freuden. Mit ihnen bummelt er durch die Metropole, dokumentiert einem Fotografen gleich das städtische Leben.
Tee und Simit
Eigentlich würde ich in die Überschrift gern auch noch den Käse aufnehmen, aber angesichts der Freundschaft zwischen Tee und Simit soll der Käse lieber im Hintergrund bleiben. Den Sesamkringel und den Tee genießen wir oft gemeinsam, doch wann sind schon alle drei beisammen?
Istanbul ist des Dichters Kosmos
Die scheinbare Kunstlosigkeit dieser Geschichten – oft nur zwei, drei Seiten lang – hat mich nach und nach gefangen genommen. Zunächst ist sie ungewohnt, diese Simplizität der Sätze und Geschichten – aber mit jeder weiteren Erzählung taucht man ein in diesen Kosmos des Sait Faik, sieht ein buntes Istanbul durch viele geöffnete Fenster.
Sait Faik zeichnet ein Portrait der Metropole in ihrer ganzen Vielfalt: Ein weltoffenes, kosmopolitisches Istanbul zur Zeit der Modernisierungspolitik unter Atatürk. Zweimal war ich Ende der 1990er-Jahre selbst in der Stadt am Goldenen Horn – viel zu kurz, um mit wirklichen Kenntnissen aufzuwarten. Aber diese Mischung aus Okzident und Orient, das Mit- oder wenigstens gute Nebeneinander der Kulturen und religiösen Auffassungen, die Energie, die die Stadt ausstrahlte – das hat mich fasziniert. Und so las ich nun die Istanbuler Erzählungen auch mit einem guten Schuss Wehmut und Sorge: Wer weiß, wieviel von diesem Istanbuler Charakter unter Erdogan verloren geht?
Erneuerer der türkischen Literatur
Auch Sait Faik ließ sich in seiner Kurzprosa stark von westlichen Vorbildern beeinflussen und gilt, so Gerhard Meier, als einer der Erneuerer der türkischen Literatur. Obwohl er 2010 von türkischen Schriftstellern in einer Umfrage zum besten türkischen Erzähler gewählt wurde, scheint er mir in Deutschland relativ unbekannt – viele der in diesem Buch enthaltenen Geschichten wurden überhaupt das erste Mal ins Deutsche übersetzt. Dabei sind sie nicht nur aus Gründen des „Lokalkolorits“ interessant: Ob „Kaffeehaus Eftalikus“, ob „Das Grammophon und die Schreibmaschine“, oftmals kreisen die Erzählungen auch um das Erzählen an sich, um die Bedingungen des und dem Zwang vom Schreiben.
Das Kaffeehaus als Zentrum
Sait Faik, der „Fotograf mit dem Stift“, soll oft, durch eine Straßenszene angeregt, sich sofort im Kaffeehaus niedergesetzt und losgeschrieben haben:
„Entbehren Sait Faiks Kurzgeschichten manchmal einer allzu stringenten Logik, dann mag das darauf zurückzuführen sein, dass er nicht zu den Schriftstellern gehörte, die akribisch an einem Werk feilen. Er lebte gewöhnlich in den Tag hinein, nicht wenige seiner Erzählungen nahmen ihren Anfang in einem Kaffeehaus. Irgendeine Beobachtung dient als Aufhänger, und man meint förmlich zu sehen, wie Sait Faik an seinem Tisch zu Stift und Papier greift, um eine Eingebung festzuhalten und daran weiterzuspinnen. So spontan, wie seine Erzählung einsetzt, so unvermutet kann sie enden.“
Die scheinbare Kunstlosigkeit, die Einfachheit der Worte und Sätze, dieses spürbar impulsive Dahin-Erzählen: Es hat mich anfangs irritiert, aber mit jeder Erzählung mehr fand ich in den Rhythmus von Sait Faik, ein Rhythmus des Flaneurs, des Bummelanten durch die Istanbuler Straßen.
Für den Mann, der dem Volk auf den Mund schaute, war das Schreiben Sucht und Erlösung zugleich. Sait Faik war selbst ein Getriebener, dem Alkohol verfallen, der in der Literatur ein Ventil fand:
„Ich hatte mir geschworen, nicht mehr zu schreiben. Wo doch das Schreiben nichts weiter ist als eine Sucht. Unter den ehrbaren Menschen hier wollte ich in aller Ruhe den Tod erwarten, was sollte ich da mit Sucht und Eifer? Allein es ging nicht. (…) Hätte ich nicht geschrieben, ich wäre verrückt geworden.“
Informationen zum Buch:
Sait Faik Abasiyanik Geschichten aus Istanbul Übersetzt von Gerhard Meier Manesse Verlag, 2012 ISBN: 978-3717522881
John Dos Passos war gerade mal 25 Jahre alt, als er eine Reise in die Länder des Nahen Ostens unternahm. “Orient-Express”: Ein politischer Reisebericht.
Bild: Michael Flötotto
„Nehmen Sie nur mich“, rief der Sajjid mit schriller Stimme. „Als Kind habe ich die Europäer für eine überlegene Rasse gehalten (…) Ich habe alle Länder gesehen, habe ihre Propaganda gehört. Ich habe gesehen, welche Schmiergelder sie bezahlen und mit welchen Methoden sie kämpfen, all die hochzivilisierten, vornehmen Völker Europas, und ich weiß, was ich weiß. (…) Erst haben wir die Briten gemocht, weil sie besser sind als die Russen, doch nun gibt es keinen Druck von Russland, und die Briten haben sich verändert. (…). Europa ist unser Lehrmeister, Europa gibt uns Waffen“.
John Dos Passos, Orient-Express
John Dos Passos war gerade mal 25 Jahre alt, als er eine Reise in die Länder des Nahen Ostens unternahm. Jung an Jahren, aber reich an Erfahrung: Einen Weltkrieg hatte er bereits miterlebt, zwei Romane verfasst, mit einem davon, „Three Soldiers“, schon eine gewisse Reputation erlangt. Von einem Schriftsteller wie diesem ist kein klassischer Reisebericht zu erwarten – dazu war John Dos Passos zu sehr auch politischer Denker und Sozialrevolutionär. Er verknüpft malerische Szenerien mit politischem und historischem Hintergrund, verbindet die Rolle des Journalisten, der die Geschehnisse mit dem distanzierten Blick des außenstehenden Beobachters aufzeichnet, mit der des Romanciers.
Von Istanbul bis Damaskus
Der Romantitel ist leicht irreführend: Der Roman „Orient-Express“ nimmt eigentlich dort erst richtig Fahrt auf, wo der legendäre Luxuszug endete, in Istanbul. Noch die Bilder vom „Coney Island aller Coney Islands“, Venedig, auf der Netzhaut, landet der junge Autor 1921 in der Metropole. Von dort geht es weiter mit Schiff, Zug, zu Fuß und auf dem Kamel über Tiflis, Eriwan, Teheran, Bagdad bis zum Schlusspunkt Damaskus. Die Reise führt ihn in durch die Türkei, Georgien und Armenien, den Iran (Persien), Irak und Syrien.
John Dos Passos erlebt eine Region, ja einen halben Kontinent im Umbruch, am Siedepunkt: Die Kolonialmächte feilschen um die Vorherrschaft, die russischen Bolschewisten annektieren Landstriche und greifen eisern durch, die türkisch-griechischen Feindseligkeiten erreichen einen neuen traurigen Höhepunkt, der Genozid an den Armeniern, der von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen worden wäre, hätte es damals nicht schreibende Reisende wie John Dos Passos gegeben. Zwischen all diesen Polen ringen die Völker des Orients um ihre Autonomie – ihnen gibt der Amerikaner eine Stimme.
Abscheu vor Orientklischees
Er wird zum Chronisten des Umbruchs, der Zeitenwende, der Massaker, des Flüchtlingselends, der Hungersnöte, aber auch der Schönheit des Orients. Dies hält er in nüchternen Alltagsbetrachtungen fest, fast schon ängstlich bemüht, nicht in die Haltung der „Okzidentalen“ zu verfallen, für die „der Orient“ vor allem eine riesige Projektionsfläche ist. Einerseits schreibt Dos Passos mit „Abscheu vor den ganzen romantischen Orientklischees, von denen es ja selbst im Orient wimmelt“, finden sich andererseits auch Passagen wie die folgende – als „Randepisode“ gekennzeichnet, begibt sich Dos Passos damit selbst in Distanz, doch bleibt eben auch nicht frei vom Schwelgen im Exotischen:
„Als Randepisode ist dieser verblassende Orient noch immer sehr schön. Der unbeschreiblich weiche, federnde Gang eines zweihöckerigen Kamels, die alten Männer mit karminroten Bärten, die mächtigen Turbane, weiß, blau, schwarz, grün auf rasierten Schädeln, Knaben mit Käppchen, unter denen das lockige Haar nach Troubadourart hervorquillt, die gespenstisch verhüllten Frauen, die turmhohen Filzhüte, die bunten Teppiche, die Gewänder aus papageiengrüner Seide, die Bäume von grellem Mangangrün auf gelben Hügeln, dahinwirbelnde Wasserläufe, weiße Esel, die türkisfarbenen Kuppeln, die weißen Mohnfelder.“
Auf dem Pass Taqhe Gara im Irak
Poetischen Passagen wie diese finden sich im Wechsel zu einer kühlen Beobachterhaltung, der Distanz des Reporters. „In den letzten Jahren hat die Geschichte diese Region abermals heimgesucht in Gestalt dreier gnadenloser Armeen. Während des Weltkriegs haben Türken und Russen hier gegeneinander gekämpft. 1918 kamen die Briten in ihrem Feldzug um Öl hierher und bauten die Straße, genauer gesagt, erneuerten sie“, beschreibt Dos Passos den Weg auf dem Pass Taqhe Gara in den Irak. „Das hat dazu geführt, dass hier kaum noch ein Clan oder Dorf steht, dass die Wüste, Schauplatz der gossen Aufmärsche der Geschichte, das ganze Agrarland aufgefressen hat und dass man während einer Tagesreise in einem klapprigen Ford nichts zu essen findet, außer, mit viel Glück, eine Schale saurer Milch im Zelt kurdischer Nomaden.“
Erstmals in deutscher Übersetzung
Erstaunlicherweise liegt dieser ungewöhnliche Reisebericht eines großen Schriftstellers erst seit Frühjahr 2013 in deutscher Veröffentlichung vor, übersetzt durch Matthias Fienbork. Dabei ist diese Reportage in Romanformat beziehungsweise dieser Roman im Reportagestil, betrachtet man die Ereignisse im Nahen Osten, nicht nur hochaktuell, sondern vermutlich auch zeitlos: Die Sünden der Vergangenheit, die Wunden, die kolonialistische Fremdmächte geschlagen haben, die Zerrissenheiten zwischen den Ländern selbst erscheinen in naher Zeit kaum heilbar.
Informationen zum Buch:
John Dos Passos Orient-Express Verlag Nagel & Kimche, 2013 ISBN: 978-3-31200-552-9