Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz

Mit „Berlin Alexanderplatz“ (1929) von Alfred Döblin zieht der Expressionismus im epischen Erzählen ein. Ein Wendepunkt des deutschen Romans.

Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin ist der deutsche Großstadtroman.
Bild von Thomas Wolter auf Pixabay

Von Osten her, Weißensee, Lichtenberg, Friedrichshain, Frankfurter Allee, türmen die gelben Elektrischen auf den Platz durch die Landsberger Straße. Die 65 kommt vom Zentralviehhof, der Große Ring Weddingplatz, Luisenplatz, die 76 Hundekehle über Hubertusallee. An der Ecke Landsberger Straße haben sie Friedrich Hahn, ehemals Kaufhaus, ausverkauft, leergemacht und werden es zu den Vätern versammeln. Da halten die Elektrischen und der Autobus 19 Turmstraße. Wo Jürgens war, das Papiergeschäft, haben sie das Haus abgerissen und dafür einen Bauzaun hingesetzt. Da sitzt ein alter Mann mit einer Papierwaage: Kontrollieren Sie Ihr Gewicht, 5 Pfennig. O liebe Brüder und Schwestern, die ihr über den Alex wimmelt, gönnt euch diesen Augenblick, seht durch die Lücke neben der Arztwaage auf diesen Schuttplatz, wo einmal Jürgens florierte, und da steht noch das Kaufhaus Hahn, leergemacht, ausgeräumt und ausgeweidet, dass nur die roten Fetzen noch an den Schaufenstern kleben. Ein Müllhaufen liegt vor uns. Von Erde bist Du gekommen, zu Erde sollst Du wieder werden, wir haben gebauet ein herrliches Haus, nun geht hier kein Mensch weder rein noch raus. Ninive, Hannibal, Cäsar, alles kaputt, oh, denkt daran. Erstens habe ich dazu zu bemerken, dass man diese Städte jetzt wieder ausgräbt, wie die Abbildungen in der letzten Sonntagsausgabe zeigen, und zweitens haben diese Städte ihren Zweck erfüllt, und man kann nun immer wieder neue Städte bauen. Du jammerst doch nicht über deine alten Hosen, wenn sie morsch und kaputt sind, du kaufst neue, davon lebt die Welt.“

Alfred Döblin, „Berlin Alexanderplatz“, 1929

Atemlos und dabei sprachmächtig, Bilder, Szenen, Eindrücke, die im Cinemascope-Format vorüberrauschen, Gesprächsfetzen, die man im Vorübergehen aufschnappt, Gedanken, die in den Kopf schießen – das ist der Wort- und Bewußtseinsstrom, mit dem Alfred Döblin (1878-1957) den deutschen Roman revolutionierte.

Auch vor Alfred Döblin gab es ein Berlin in der Literatur. Da meist als Fassade, Studiohintergrund, Potemkinsches Dorf, Schauplatz, Verortungspunkt. Aber in „Berlin Alexanderplatz“ ist die Großstadt mehr als das – sie ist nicht nur der Ort, sie ist die Hauptfigur, die Handelnde, der lebendige, aktive und agierende Mittelpunkt, der städtische Mahlstrom, um den das Romangeschehen kreist.

Ein Meilenstein der literarischen Moderne

„Berlin Alexanderplatz“, 1929 erschienen, markiert einen Einschnitt in der deutschen Literatur. Expressionismus und literarische Moderne: Sie hatten nun endlich auch im epischen Erzählen ihren Platz gefunden. Abrupte Brüche im Satzbau, stakkatoartiger Rhythmus, ständige Wechsel der Erzählperspektiven, aber vor allem die Technik der Montage – Zeitungsschlagzeilen, Statistiken, Fahrpläne in den Text gestreut – dies alles macht „Berlin Alexanderplatz“ auch heute noch zu einem Leseabenteuer. Oder auch Leseungeheuer, je nach Perspektive.

Spürbar ist in Döblins Roman der Einfluss des Films, der sich als Kunstform langsam etablierte.

„In den Rayon der Literatur ist das Kino eingedrungen, die Zeitungen sind groß geworden, sind das wichtigste, verbreitetste Schrifterzeugnis, sind das tägliche Brot aller Menschen. Zum Erlebnisbild der heutigen Menschen gehören ferner die Straßen, die sekündlich wechselnden Szenen auf der Straße, die Firmenschilder, der Wagenverkehr. Das Heroische, überhaupt die Wichtigkeit des Isolierten und der Einzelpersonen ist stark zurückgetreten, überschattet von den Faktoren des Staates, der Parteien, der ökonomischen Gebilde. Manches davon war schon früher, aber jetzt ist wirklich ein Mann nicht größer als die Welle, die ihn trägt. In das Bild von heute gehört die Zusammenhanglosigkeit seines Tuns, des Daseins überhaupt, das Flatternde; Rastlose. Der Fabuliersinn und seine Konstruktionen wirken hier naiv. Dies ist der Kernpunkt der Krisis des heutigen Romans. Die Mentalität der Autoren hat sich noch nicht an die Zeit angeschlossen.

Der Schriftsteller nimmt mehrfach Bezug, auch in einer Besprechung zu James Joyces „Ulysees“ im Jahr 1928 („Ulysees“, 1922 und „Manhattan Transfer“, John Dos Passos, 1925 – die beiden weiteren literarischen Großstadtmonumente, die mit „Berlin Alexanderplatz“ genannt werden müssen):

„Damit und soweit ist das Buch charakterisiert im Kern als ein biologisches, wissenschaftliches und exaktes. Der Mensch von heute ist kenntnisreich, wissenschaftlich, exakt; darum gibt der heutige Autor ein Buch, das sich neben die Wissenschaft setzt. Es unterscheidet sich nur dadurch von dem wissenschaftlichen, daß es ja ohne tatsächliches Subjekt ist. Immerhin, der Bloom und seine Frau sind typische Gestalten wie ein Pferd, eine Tanne, und darum ist auch ihre Beschreibung von exaktem Wert. Darum verläuft der ganze Vorgang real, selbst indem er nur »als ob« verläuft. In den sichersten Partien hat dieses literarische Werk völlig wissenschaftliche Haltung. Und dies nicht als Maske.“

Eine der kenntnisreichsten Besprechungen zu „Berlin Alexanderplatz“ erschien schon kurz nach der Veröffentlichung des Romans – 1930 durch Walter Benjamin. Besser kann dieses literarische Experiment kaum beschrieben werden:
http://www.textlog.de/benjamin-kritik-krisis-romans-doeblins-berlin-alexanderplatz.html

Auf den Spuren von Franz Biberkopf

Zweifelhaft und kryptisch ist für mich allein das Ende des Romans. Franz Biberkopf, der einarmige Bandit mit dem goldenen Herzen, der Überangepasste, der Naive, der sich Mitziehen lässt, als skeptischer, aber dennoch sozial integrierter kleiner Angestellter, der beobachtet, wie draußen marschiert wird, die Trommeln schlagen – „weiter ist hier von seinem Leben nichts zu berichten“, schreibt Döblin einen Absatz zuvor. Aber man ahnt es schon: Götterdämmerung über Babylon Berlin, es wird für den Biberkopf wieder kein gutes Ende nehmen.

Heute ist der Alexanderplatz längst schon mehrfach von der Geschichte überrollt, plattgemacht, auf Touristengaudi hochgebürstet, wieder ab- und hochgekommen. Es ist ein anderes Berlin als 1929. Aber immer noch ein Moloch, ein anderer Hexenkessel. 2012 wurde Jonny K. am Alex totgeschlagen. Mag der Alexanderplatz sich verändern. Der Mensch bleibt Mensch, im Guten wie im Schlechten.

Drehen wir noch eine Runde – ein letzter Streifzug um den Alex mit Günter Lamprecht, der den Franz Biberkopf in der Filmserie von Rainer Werner Fassbinder verkörperte:
http://www.deutschlandfunkkultur.de/berlin-alexanderplatz.1076.de.html?dram:article_id=175820