Djuna Barnes: Nachtgewächs

Ein Werk voller dunkelschöner Sätze, das sich einem vielleicht nie ganz erschließt. Aber auch ein Buch, das man nicht mehr vergisst. Ein Klassiker der Moderne.

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„Zum Teil haben die Toten das Böse der Nacht verschuldet, zum anderen Teil Schlaf und Liebe. Für was ist der Schläfer nicht alles verantwortlich! Welcherart Umgang pflegt er, und mit wem? Mit seiner Nelly legt er sich nieder und findet sich schlafend im Arm seines Gretchens wieder. Tausende kommen an sein Bett, ungebeten. Und dennoch: wie erkennt man die Wahrheit, wenn sie nicht unter den Anwesenden weilt? Mädchen, die der Schläfer niemals begehrt hat, streuen ihre Gliedmaßen um ihn unter des Morpheus Fuchtel. So sehr ist der Schlaf zur Gewohnheit geworden, daß mit den Jahren der Traum seine eigenen Grenzen verzehrt und das Geträumte ihm zu lieber Gewohnheit wird; ein Gelage, wo Stimmen sich mischen, einander lautlos bekämpfen. Der Schläfer ist Eigentümer eines unerforschten Landes.“

Djuna Barnes, „Nachtgewächs“

Es ist ein im mehrfachen Sinne traumhaftes, schlafwandlerisches Buch, dieses Nachtschattengewächs der Literatur. Bis heute gilt es manchen als Zumutung, als unlesbar, während es für andere schon ikonographischen Charakter einnimmt. Eines ist gewiss: Den bewussten Leser stellt dieser Roman vor Herausforderungen. Schon T. S. Eliot, der die Veröffentlichung des Romans unterstützte, gestand Schwierigkeiten beim Lesen ein. Zwar ist die Rahmenhandlung, wenn man von einer solchen sprechen möchte, denkbar einfach: Mann liebt Frau, Frau verlässt ihn für eine andere Frau, und auch diese wird am Ende verlassen. Ein Arzt von zweifelhaftem medizinischem Status wird in diesem Liebesreigen der Beichtvater für das ganze, überschaubare literarische Personal dieses Buches.

Barnes verehrte James Joyce

Doch wie diese im Grunde kaum ungewöhnliche Geschichte erzählt wird, dies markiert in der modernen Literatur einen Meilenstein, einen Umbruch. So wie „Ulysses“ von James Joyce (den Djuna Barnes übrigens überaus verehrte und dem sie in mehreren Essays ein Denkmal setzte)  als Werk eines männlichen Schriftstellers für den Aufbruch in die Moderne steht, so tut dies „Nachtgewächs“ als Werk einer Frau: Wagemutig, stilistisch einzigartig, hermetisch, verschlossen, assoziativ, mit konventionellen Erzählregeln brechend.

Kein Buch, das sich einfach so weglesen lässt, auch kein Buch, das häufig weggelesen wird. Bernhard Wördehoff sinnierte 1991 in „Die Zeit“ über Bücher und ihr Schicksal:

„Landläufig und simpel, daß libelli ihre fata haben. Aber auch richtig, wie sich immer wieder zeigt. Zum Beispiel bei Djuna Barnes. Anders als Terentianus Maurus wird die amerikanische Dichterin (1892 bis 1982) in jedem besseren Literaturlexikon erwähnt, aber es wird auch gleich hinzugefügt, es ermangele ihr an einem bedeutenden Lesepublikum. Das wollen wir mal dahingestellt sein lassen. Aber viele Leser hatte sie leider trotz ihres Ranges in der modernen Literatur nie, auch in Europa nicht, wo sie lange Zeit gelebt hat.“

Tatsächlich ist der Stil der Amerikanerin auch zu eigenartig (im besten Sinne), als dass er der geländegängigen Literatur zugeschlagen werden könnte. Man kann „Nachtgewächs“ trotz seines schmalen Umfangs nur langsam und peu à peu lesen, in kleinen Portionen, einen Großteil der Sätze immer wiederlesend, um sie verstehen zu wollen und ich gestehe offen, manches habe ich auch dann noch nicht verstanden.

Nachtgewächs stellt Ansprüche

Jeanette Winterson schreibt dazu im Nachwort zur Suhrkamp-Ausgabe:

„Nachtgewächs stellt Ansprüche. Man wird in die Prosa hineingezogen, weil sie narkotisiert, aber man kann nicht über sie hinweglesen. Diese Sprache will nicht informieren, sie will Bedeutungen entfalten. Das Buch enthält weit mehr als seine Fabel, die schlicht ist, oder aus seine Gestalten, die großartige Gaukelbilder sind.“

Die Begegnungen der Menschen in diesem Roman finden zu einem großen Teil nachts statt, im Schatten der dumpfen Lichter und des Kerzenscheins entblößen sie sich, entfalten ihre Seele. Und so sind ist der Roman auch durchwegs geprägt durch lange Passagen mündlicher Rede, Monologe, in denen die Grenzen zwischen Tag und Nacht, Wachen und Traum, Leben und Tod überschritten werden.

(…) „nun sehe ich, daß die Nacht auf die Identität eines Menschen wirkt, auch wenn er schläft.“ „Ah“, rief der Doktor, „laß einen Menschen sich niederlegen in das große Bett, und seine Identität ist nicht mehr die seine, sein Vertrauen hat ihn verlassen, seine Bereitschaft ist umgewandelt und gehorcht einem anderen Willen. Sein Schmerz ist wild und gnadenlos.“

Eine Reise ins Unterbewusstsein

Tag und Nacht, Bewusstsein und Unterbewusstsein: „Nachtgewächs“ ist nicht zuletzt auch ein psychoanalytisches Buch, in dem die Protagonisten so assoziativ erzählten, als stünde die Dachkammer des Doktors nicht in Paris, sondern in der Berggasse in Wien und als sei das alte Bett des Arztes eine Couch. Der Roman, eine Reise in das Unterbewusste.

Djuna Barnes (1892 – 1982) schrieb sich damit selber eine gescheiterte Liebesbeziehung von der Seele. 1919 – in jenem Jahr, in dem auch der Roman einsetzt – war die Amerikanerin wie so viele andere Künstler nach Paris gekommen, wo sie einige Jahre später die Bildhauerin Thelma Wood (1910 – 1970) kennenlernte. Die beiden Frauen waren für ihre leidenschaftliche Beziehung berühmt-berüchtigt, vor allem Wood suchte immer wieder die Flucht in andere Affären und in den Alkohol. Nach der Trennung wurde Djuna Barnes von Peggy Guggenheim unterstützt, in deren Villa schrieb sie „Nachtgewächs“, unverkennbar auch eine Verarbeitung des Geschehenen. Darüber hinaus hinterließ auch die Kindheit und Jugendzeit von Barnes ihre Spuren (hier findet sich eine kurze Biographie). Noch nicht einmal 18 Jahre alt, wird Djuna von ihrem Vater an einen Verwandten „ausgeliehen“, Vergewaltigungen, die ihr ihr Leben lang nachgehen.

Ende der Freundschaft zu Thelma Wood

Thelma Wood wies ihre Darstellung in der Figur „Robin“ brüsk zurück, das Buch, so sagte sie später, habe ihr Leben ruiniert. Die beiden Frauen sollen bis zu ihrem Lebensende kein Wort mehr gewechselt haben. Und auch Djuna Barnes brachte ihr Roman außer literarische Anerkennung wenig Glück: 1940 kehrte sie nach New York zurück und hauste über vierzig Jahre verarmt und vergessen in einem Miniappartement.

Verena Auffermann schreibt in „Leidenschaften: 99 Autorinnen der Weltliteratur“:

„Spötter behaupten, Djuna Barnes habe mit ihrem feingestochenen Stil, der bombastisch und theatralisch, aber auch kalt und messerscharf sein kann, keine Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten, Essays und so weiter verfasst, sondern lauter erste Sätze.“

In der Tat könnte man „Nachtgewächs“ auch zu seinem persönlichen Zitate-Almanach machen:

„Jugend ist Ursache. Wirkung ist Alter.“
„Sein Gesicht, ein längliches, volles Oval, litt an einer fortschreitenden Schwermut.“
„Liebe wird zur Ablagerung des Herzens.“
„Leiden ist Verfall des Herzens.“
„Liebe ist die erste Lüge. Weisheit die letzte.”

Solche Petitessen findet man ohne Zahl in diesem Werk. Und zugleich Sätze, so dunkelschön, nach denen man Bilder malen möchte. Und selbst wenn einen „Nachtgewächs“ verwirrt und vielleicht auch unschlüssig zurücklässt: Vergessen wird man diese seltsame Pflanze der Literatur nie mehr.

Der Roman, vom großen Wolfgang Hildesheimer übersetzt, ist beim Suhrkamp Verlag zu erhalten.

Informationen zum Buch:

Djuna Barnes
Nachtgewächs
Suhrkamp Taschenbuch, 2023
ISBN: 978-3-518-38695-8

Isaac B. Singer: Feinde, die Geschichte einer Liebe

Ein Mann und drei Frauen – und ein Roman, der zeigt, dass der Feind der Liebe vor allem eine grausame Welt mit einem unerbittlichen Gott ist.

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„Ich schäme mich nicht zu gestehen, daß ich zu jenen zähle, die sich einbilden, Literatur könne neue Horizonte und Perspektiven erschließen – philosophische, religiöse, ästhetische und auch soziale. Die Geschichte der alten jüdischen Literatur kannte keinen Unterschied zwischen Dichter und Propheten. Nicht selten wurde unsere alte Dichtung zum Gesetz, zum Leben selbst.“

Dies sagte Isaac Bashevis Singer (1904-1991) in seiner Rede in Stockholm, als er 1978 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Wie die Literatur ins Leben eingreifen kann – davon später mehr. Vorab nur dieses: Unter all den Büchern Singers, die ich gelesen habe – „Max, der Schlawiner“, „Die Familie Moschkat“, „Jakob, der Knecht“ – und seinen Erzählungen ist mir der Roman „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ das liebste. Und dies nicht aus rein literarischen Gründen, aber auch.

„Feinde, die Geschichte einer Liebe“, das ist eigentlich die Geschichte dreier Lieben und im Mittelpunkt ein entscheidungsschwacher, wankelmütiger, aber dennoch liebenswerter Held, den man gerne an die Hand nehmen würde, um ihm bei seinen Irrungen und Wirrungen zu begleiten. New York, 1949: Herman Broder, ein polnischer Jude, hat den Holocaust überlebt, weil ihn Yadwiga, das christliche Dienstmädchen seiner Familie auf dem Dachboden eines Bauernhauses versteckte. Nach Ende des Krieges erfährt er, dass seine Ehefrau Tamara erschossen wurde, auch die beiden Kinder wurden ermordet, kein Mitglied seiner Familie überlebte. Mit Yadwiga emigriert er in die USA, er heiratet sie aus Dankbarkeit und Pflichtgefühl. Das Drama dieser Ehe: Sie liebt ihn, immer schon, er sie nicht. Zuviel trennt das analphabetische polnische Mädchen und den gebildeten Mann, der sich jetzt als Ghostwriter für einen Rabbi durchschlägt – um dem engen Heim zu entkommen, gibt er sich Yadwiga gegenüber als Büchervertreter aus.

„Jedesmal, wenn er fortging, verabschiedete sie sich von ihm, als regierten die Nazis in Amerika und sein Leben wäre in Gefahr. Sie legte ihre heiße Backe an die seine und bat ihn, sich vor den Autos in acht zu nehmen, seine Mahlzeiten nicht zu vergessen und daran zu denken, sie anzurufen. Sie hing an ihm mit der Ergebenheit eines Hundes. Herman neckte sie oft, nannte sie albern, aber das Opfer, das sie ihm gebracht hatte, konnte er nie vergessen. So wie sie offen und ehrlich war, war er unaufrichtig und in Lügen verstrickt. Trotzdem, Tag und Nacht hielt er es nicht aus bei ihr.“

Denn da ist Mascha, die komplizierte, nervöse Geliebte, eine Überlebende wie er, eine Sheherazade, der er von Kopf bis Fuß, vom Scheitel bis zur Sohle ergeben ist.

„In Schifrah Puahs Zimmer war es jetzt dunkel, und immer noch saß Mascha auf dem Stuhl in Hermans Zimmer und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Herman wußte, daß sie irgendeine ungewöhnliche Geschichte für ihr Liebesspiel vorbereitete. Mascha verglich sich mit Sheherazade. Das Küssen, das Liebkosen, das leidenschaftliche Liebemachen war immer begleitet von Geschichten aus den Ghettos, den Lagern, ihrem eigenen Wandern durch die Ruinen Polens.“

Mit Mascha und ihrer Mutter in der Bronx führt Herman ein Doppelleben, von dem Yadwiga langsam ahnt. Doch vollends verwirrend und unhaltbar wird die Situation, als die totgeglaubte Ehefrau Tamara in New York erscheint – fast einer Gespenstererscheinung gleich, ein Dybbuk. Sie möchte Herman nicht zurück – doch diesen stürzt Tamaras Auftauchen in weitere, noch tiefere Gewissensbisse. Zusätzlich katalysierend wirkt auf Herman, dass sowohl die momentane Ehefrau als auch die Geliebte schwanger werden – nichts fürchtet der Vater, der seine Kinder verlor, mehr, als ein neues Kind in diese chaotische Welt zu setzen, in dieses fragile Leben, das stets vom Zusammenbruch bedroht ist. Tamara, die sich selbst für geisteskrank hält, erweist sich am Ende als die Lebenstüchtigste. Sie baut sich eine neue Existenz auf, nimmt Yadwiga und deren Kind zu sich. Mascha nimmt sich das Leben. Und Herman verschwindet – irgendwo, spurlos.

„Mehrere Male hatte Tamara Hermans Namen in die Vermißtenspalten der jiddischen Presse setzen lassen, aber ohne Erfolg. Tamara glaubte, daß Herman sich entweder umgebracht hatte oder sich einer amerikanischen Version seines polnischen Heubodens versteckte. Eines Tages machte der Rabbi Tamara die Mitteilung, das Rabbinat habe wegen der Massenvernichtung die Beschränkungen gelockert, so daß verlassene Frauen ein zweites Mal getraut werden könnten.
Tamara hatte erwidert: „Vielleicht in der nächsten Welt – mit Herman.“

So endet das Buch.

Weit mehr als eine tragisch-komische Erzählung von einer Menage zu viert, weit mehr als eine Geschichte vom Vergehen, von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe. Es ist ein Roman, der vor allem auch die Feinde der Liebe zwischen den Zeilen benennt – eine grausame, chaotische Welt, ein unerbittlicher Gott, die Begrenztheit der Menschen.
Dazu: Die Schuld der Überlebenden. Während Hermans Situation zwischen den Frauen immer unhaltbarer wird, wendet sich der Ton des Romans, vom Komischen zunehmend mehr in das Tragische, wird zu einer Betrachtung der Situation überlebender Holocaust-Opfer. Ein Buch der Verluste – die Familie, die geliebten Menschen verloren, die Heimat, die Zuversicht, den Glauben, nicht nur den Glauben an Gott, sondern auch den Glauben an das eigene Vermögen, an die eigene Kraft, ein Verlust, der Herman und auch Mascha zu wankelmütigen, neurotischen Menschen werden lässt. Immer auf der Flucht, auch vor sich selbst.

„Die Bibel, der Talmud und die Kommentare unterwiesen den Juden in einer Strategie: Fliehe das Böse, verbirg dich vor der Gefahr, vermeide Kraftproben, geh den zornigen Mächten des Universums so weit wie möglich aus dem Wege. Der Jude hat nie verächtlich auf den Fahnenflüchtigen herabgeblickt, der sich in einem Keller oder auf einem Dachboden verkroch, während draußen in den Straßen Armeen aufeinanderprallten.
Herman, der moderne Jude, hatte dieses Prinzip um einen Schritt erweitert: Er hatte sogar den Halt des Glaubens an die Thora aufgegeben. Er betrog nicht nur Abimelech, sondern auch Sarah und Hagar. Herman hatte kein Bündnis mit Gott geschlossen und hatte keine Verwendung für Ihn. Er wollte nicht, daß sein Same so zahlreich werde wie der Sand im Meer. Sein ganzes Leben war ein Spiel der Verstohlenheit (…).“

Isaac Bashevis Singer ist in meinen Leseraugen ein ganz Großer – nur wenige können das, diesen schmalen Grat zwischen Tragik und Komödie beschreiten, in ein Buch beides packen, ja, eigentlich die ganze Welt: Das Lachen, das Schmunzeln, die Freude, die Trauer, das Weinen, das Unglücklichsein. Vielleicht – mit solchen Kategorisierungen möchte ich jedoch eher zurückhaltend sein – ist dieses „verschmitzt-melancholische“ tatsächlich ein Charakteristikum der jüdischen Literatur. E. Michael Salzer schrieb über Singer: „Nie zuvor gab es bei den sonst eher langweiligen Nobelfeiern so viel zu lachen (…). Und allein die Begründung, die Isaac B. Singer für sein hartnäckiges Festhalten an seiner Sprache, in der er schrieb, lieferte: „Ich schreibe gerne Gespenstergeschichten und nichts gefällt Gespenstern mehr, als eine sterbende Sprache. Je sterbender die Sprache, desto lebendiger sind die Geister. Gespenster lieben Jiddisch und so viel ich weiß, sprechen sie es auch alle.“

„Feinde, die Geschichte einer Liebe“ erschien 1966 unter dem Titel „Sonim, die Geschichte fun a Liebe“.

James Joyce: Die Katzen von Kopenhagen

Von einer ganz unvermuteten Seite zeigt sich hier der Schöpfer von “Ulysses”: Als verspielter, neckischer Großpapa mit viel Humor.

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LEIDER!
KANN ICH DIR KEINE KOPENHAGENER KATZE SCHICKEN,
WEIL ES IN KOPENHAGEN KEINE KATZEN GIBT.

James Joyce, der liebevolle Opa: Ganz begeistert bin ich von einem Brief, den der Schriftsteller vermutlich 1936 aus Dänemark an seinen Enkel Stephen James schickte. Er teilt dem Vierjährigen auf eine recht skurrile, lyrisch-versponnene Art und Weise mit, warum er ihm keine Katze aus Kopenhagen schicken kann – mit Süßigkeiten gefüllte Katzen waren zu dieser Zeit ein beliebtes Geschenk.
Statt über Süßigkeiten schreibt Joyce seinem Enkel aus Kopenhagen über dänische Polizisten, die den ganzen Tag im Bett liegen und Buttermilch trinken, über rote Jungs auf roten Rädern, die den Job der Polizisten erledigen – und kommt ganz am Schluss auf eine geniale Idee. Aber die wird hier nicht verraten…

Schließlich mussten auch die Joyce-Anhänger viel Geduld haben, bis „Die Katzen von Kopenhagen“ erscheinen durften: Es dauerte bis 2012, bis die rechtlichen Voraussetzungen für die „Welturausgabe“ geklärt waren. Das Kinderbuch zeigt den augenzwinkernden, humorvollen Joyce, wie er auch im „Ulysees“ aufblitzt und dem Harry Rowohlt mit seiner Übersetzung den passenden Ton gibt. „Die Katzen von Kopenhagen“ erschien beim Hanser Verlag. Die Illustrationen von Wolf Erlbruch (2003 für sein Lebenswerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet) stehlen dem skurrilen Text beinahe die Schau – so richtig schöne, dicke Buttermilch-Katzen und faulenzende Polizisten, die als Illustrationen auch für sich stehen können.


Informationen zum Buch:

James Joyce
Die Katzen von Kopenhagen
Übersetzt von Harry Rowohlt
Hanser Verlag, 2013
ISBN 978-3-446-24159-6

#MeinKlassiker (31): Bernhard Rusch spaziert mit James Joyce durch Dublin

Bernhard Rusch ist Autor, Zeichner, Verleger, ein Multitalent. Und ein Spaziergänger, der mit James Joyce durch Dublin streift.

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Autor, Zeichner, Verleger und noch einiges mehr: Bernhard Rusch ist ein Multitalent. Ein Portrait von ihm findet sich hier auf dem Blog paperwork, ein Einblick in seine Arbeiten unter Elwood.

Bernhard Rusch ist zudem Kopf der Vereinigung und Herausgeber des gleichnamigen Magazins applaudissiment.

Beim Blick in das wunderbar gemachte Magazin hätte ich bei Bernhard eher vermutet, als Klassiker kommt ein dadaistisches Manifest oder etwas aus der Zeit des Expressionismus. Doch er überraschte mich mit Joyce! Here we go:

Ich sitze im Zug. Und sinniere über einen Klassiker: Die Dubliner von James Joyce. Und höre zur Einstimmung die Pogues.

Es handelt sich bei dem Buch um eine Sammlung von Kurzgeschichten, die – wen wundert`s bei dem Titel – alle in Dublin spielen. Wie ja alles, was Joyce geschrieben hat.

Es ist das am leichtesten zu lesende seiner Bücher. Was aber nicht bedeutet, dass es sich um leichte Kost handelt.

Der Autor entführt uns ins Dublin um 1900 herum. Um uns mit den Abgründen der menschlichen Seele bekannt zu machen.

Die Orte und Typen dürften ihm aus eigener Erfahrung bekannt gewesen sein. Er verfolgte keine folkloristischen Absichten. Und hatte auch nicht vor, seiner Heimatstadt ein Denkmal zu setzen. Sondern verwendete die Stadt und ihre Einwohner als Rohstoff, mit dem er vertraut war.

Plots sucht man in diesen Geschichten wie seinen späteren Werken vergeblich. Im Kern sind es Geschehnisse, die man in der Kneipe oder auf der Straße austauscht. Nach dem Motto: Hast du schon gehört…

Joyce bezeichnete seine Dubliner als Karikaturen. Das sind sie wohl. Damit auch sein bitterstes Buch. Nicht so verspielt oder humoristisch wie Ulysses und Finnegans Wake. Vielmehr sehen wir die Schattenseiten. Wie Pädophilie. Selbstmord aus enttäuschter Liebe. Oder Kindesmisshandlung als Reaktion auf eigene Unfähigkeit.

Andererseits ist in diesem Buch – wie Souppault richtigerweise feststellt – schon sein ganzes Werk angelegt. Inhaltlich das Panoptikum der menschlichen Seelen. Und stilistisch diese unablässige Suche nach dem richtigen Ausdruck. Der passenden Struktur. Dem einzelnen Wort.

Es sind musikalische und zutiefst lyrische Stücke entstanden. Sie steigern die Empfindung der Realität durch Weglassungen. Sie verzichten auf Erklärungen. Und wirken daher unmittelbar.

Irland steht dabei nicht im Vordergrund. Aber die wenigen eingestreuten „irischen“ Themen strahlen auf das ganze Buch aus. Und geben ihm damit eine klare regionale Heimat.

Und Joyce wird ungewollt zu einer Art Heimatschriftsteller. Dessen Werk zurückstrahlt in die Realität. Und die Wahrnehmung Irlands und der Iren bis heute mit beeinflusst.

Letztendlich sollte man es aber einfach von der besonderen Stimmung einfangen lassen. Die hervorgerufen wird durch das Unabänderliche. Der Alkoholiker verhält sich, wie ein Alkoholiker es eben tut. Und für die Eifersucht des Ehemanns auf eine verstorbene Jugendliebe seiner Frau gibt es keine Lösung. Es geht darum, trotzdem weiterzuleben. Gut oder schlecht.

Und am Schluss fällt Schnee über ganz Irland. Als Zeichen des Trosts.

Bernhard Rusch
https://ttr-verlag.jimdo.com/

Lesezeichen von: Walter Kappacher

Ein Blick in Walter Kappachers Gedankenwelt und in das Programm eines bibliophilen Verlages: Die “Notizen” erschienen bei Ulrich Keicher.

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„Die berühmte Fotografie, auf der Marilyn Monroe sommerlich karg bekleidet auf einem Gestell auf einem Kinderspielplatz James Joyce` Ulysees liest, offensichtlich in der Erstausgabe – wahrscheinlich das Exemplar von Arthur Miller, ihrem damaligen Ehemann -: Es wäre leicht, darüber zu schmunzeln, aber wie viele von den ‘Intellektuellen’ haben den Roman zu Ende gelesen? Das Bemühen, der Versuch des Autors Miller, seine Geliebte teilnehmen zu lassen an seiner Welt, hat etwas Rührendes.“

Zwar unterstellt der 1938 in Salzburg geborene Walter Kappacher der Schauspielerin mit diesem Zitat – wie viele andere wohl auch – sie habe nicht aus eigenem Antrieb zum Ulysees gegriffen, auch schwingt ein wenig Altväterliches in diesen Worten mit … aber gerade dieses ist es, was auch den „Notizen“ des Büchner-Preisträgers, die in einem schmalen, schön gestalteten Band unter dem Titel „Marilyn Monroe liest Ulysees“ erschienen sind, etwas Rührendes gibt.

Das aus dem Verlag Ulrich Keicher stammende Heft ist ein Sammelsurium von Textminiaturen, im Grunde in der Art eines Tagebuchs, in dem sich Gedankenblitze verschriftlicht finden, Banales, Profanes neben gescheiten Aphorismen, Zitate anderer Schriftsteller, Betrachtungen über das Schreiben, die Kunst, Kulturkritik, das Dasein als Dichter, das Leben an sich.

Aus all dem formt sich ein Bild: Kappacher, ein Gescheiter, aber auch einer, der dem Traditionellen verhaftet ist, ein wenig ein Gestriger, ein Scheuer, manchmal griesgrämig, manchmal ganz menschenfreundlich, ein „Typ“ eben.

Die Notizen, so schreibt Matthias Bormuth im Nachwort, „sind ungeschminkte, scheinbar beiläufige Beobachtungen, denen der Autor ihre unauffällige Gestalt beläßt. (…) Ihren poetischen Elan schöpfen sie nicht zuletzt aus dem tiefen Staunen, das sich mit den Erfahrungen wirklicher Schönheit verbindet.“ Bormuth fordert auf, einzutreten in diesen Kosmos, aber auch zu widersprechen, „wenn der Autor im Abseits der Zeit diese betrachtet und die Poesie als schöpferischen Notausgang preist.“

 Einige Fundstücke, die zum Eintreten und zum Widerspruch auffordern könnten:

„Für das Universum hat die Erscheinung ‘Mensch’ bei weitem nicht die Bedeutung, wie für uns jene einer Eintagsfliege.“ 

„Man sagt nicht mehr ‘ist in Ordnung’, sondern ‘passt’. Die Menschen verwandeln den Rhythmus ihrer Sprache, gleichen ihn dem primitivsten Beat der Rock- und Popmusik an. Tam-tam-tam. So tönt es aus den Autoradios.“ 

„Ein guter Mensch – denkt man dabei nicht unwillkürlich: Aber ob der bei Verstand sein kann?“

Bereichert werden die Notizen durch ebenso melancholische anmutende Fotografien: Walter Kappacher hält seit Jahren das Schilf und das Eis an einem Uferabschnitt des Grabensees im Salzburger Land fest, einige dieser Bilder sind im Heft zu finden.

“Marilyn Monroe liest Ulysses”. Notizen, Fundstücke und 13 Fotografien. Mit einem Nachwort von Matthias Bormuth. 40 Seiten. Format 14 x 23 cm. Fadenheftung, broschiert.

Es lohnt sich auch ein Blick auf das weitere Programm des Verlages, der ein Ein-Mann-Betrieb eines Bibliophilen ist: Seit 1983 gibt Keichel schön gestaltete Editionen und Bücher in kleinen Auflagen heraus: http://www.verlag-ulrich-keicher.de/