Akwaeke Emezi: Süßwasser

Ein beeindruckender Debütroman, der in mehrerer Hinsicht zeigt, wie es ist, über Grenzen zu gehen und mit Dämonen zu leben.

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Schon während ihrer KIndheit in Nigeria ist Ada nie allein: Die „Brüderschwestern“ sind immer in ihr. Bild von Etinosa Yvonne auf Pixabay

„Vorhin, als wir sagten, sie sei wahnsinnig geworden, haben wir gelogen. Sie war immer bei Verstand. Es ist nur so, dass sie mit uns kontaminiert war, mit einem göttlichen Parasiten, der viele Köpfe hatte, der brüllte im Marmorzimmer ihres Kopfes. Jeder kennt die Geschichten von hungrigen Göttern, von ignorierten Göttern, von verbitterten, betrogenen und rachsüchtigen Göttern. Darin besteht die oberste Pflicht: Füttere deine Götter. Wenn sie (wie wir) in deinem Körper leben, finde einen Weg, werde kreativ, zeig ihnen das Rot deines Glaubens, deines Fleisches; beruhige die Stimmen mit dem Wiegenlied eines Altars. Es ist nicht so, als könntest du vor uns fliehen – wo solltest du schon hinrennen?“

Akwaeke Emezi, „Süsswasser“

Jeder von uns trägt Dämonen in sich. Meist schrecken wir vor ihnen zurück, verscheuchen sie. Wer will schon gerne mit seinen dunklen Seiten konfrontiert werden?

Manchmal nehmen diese Stimmen, die uns etwas einflüstern, die uns belagern, jedoch auch überhand, ergreifen das Regiment. Und einige wenige Male tragen sie vielleicht dazu bei, dass wir gewisse Dinge unbeschadet überstehen. So haben Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung häufig traumatische Kindheitserfahrungen gemacht, die eine junge Seele zerbrechen könnten: Die Krankheit, die uns scheinbar Gesunden wie eine Belastung erscheint, kann unter Umständen auch der Schutz sein vor einer Realität, die anders nicht zu ertragen wäre.

Ein kraftvoller Debütroman

Ada jedenfalls, die Protagonistin in diesem kraftvollen Debütroman, ist mit ihren inneren Stimmen immer im Dialog, ringt mit ihnen, braucht sie aber auch, um Phasen der Haltlosigkeit und Entwurzelung zu überstehen. Wenn die Welt außerhalb zu ungeheuerlich wird, dann stehen ihr ihre „Brüderschwestern“, die „Ungeheuer“ in ihrem Innern, bei. Ebenso aber treiben sie sie auch dazu, über ihre Grenzen zu gehen, Menschen von sich zu stoßen, sich selbst und andere zu verletzen.

Ada zeigt die klassischen Symptome einer jungen Frau mit Borderline-Störung: Sie ritzt sich, hat Phasen, in denen sie sich zum Skelett herunterhungert, trinkt, nimmt Drogen, stürzt sich wahllos in sexuelle Abenteuer. Das Buch entwickelt sich langsam, beginnt mit der Kindheit Adas in Nigeria: Schon hier sind die inneren Stimmen da, lauern förmlich auf das traumatische Ereignis, das ihnen Raum gibt. Die Autorin und Videokünstlerin Akwaeke Emezi, selbst wie ihre Hauptfigur von nigerianisch-tamilischen Wurzeln (der Roman trägt wohl auch autobiographische Züge) erzählt dies aus verschiedenen Perspektiven. Mal übernimmt Ashughara, der laute, energische Dämon die Regie in Adas Innerem, mal der ruhigere Saint Vincent.

Eine Vergewaltigung am Beginn des Traumas

Zum Ausbruch kommen die Geister, als Ada, getrennt von ihrer Familie, in einem amerikanischen College von einem Freund über Wochen hinweg vergewaltigt wird – das Ereignis, das alles auslöst, das sie ins Schleudern bringt. Wie sie allmählich und Jahre später zu einem annäherndem Gleichgewicht und einer Selbstwahrnehmung, die nicht von Dämonen bestimmt ist, gelangt, das erzählt dieses Buch.

Dennoch: „Süßwasser“ ist mehr als eine sprachlich gelungene, halbfiktive „Krankheitsgeschichte“. Es ist ein literarischer Befreiungsschlag auf mehreren Ebenen. Ein Manifest der Selbstbestimmung trotz einer psychischen Störung – die, auch dies wird deutlich, eben nicht nur aus den selbstzerstörerischen Phasen besteht, sondern auch Kreativität, Tiefe, Gestaltungskraft auslöst.

Die ver-rückte Frau als Monster

Anne Haeming hob diesen Aspekt in ihrer Besprechung bei „Spiegel online“ hervor:

„Das Schema, mit dem Emezi hantiert, ist seit Charlotte Brontës „Jane Eyre“ fest in der Literatur verankert: „die Verrückte auf dem Dachboden“, die Frau als Monster. Lange die gängige Lesart von weiblichen Figuren, die nicht der wie auch immer definierten Norm entsprechen. Ganz zu schweigen vom Hysterie-Gaga, mit dem Generationen von Frauen stigmatisiert wurden.

Dieses Stigma begannen Autorinnen des 20. Jahrhunderts aufzubrechen, allen voran Toni Morrison in „Menschenkind“, Margaret Atwood mit „Alias Grace“, Leslie Marmon Silko in „Ceremony“, aber auch schon Virginia Woolf in ihrem metamorphotischen „Orlando“: Sie zeigen Frauen mit fragmentierten Identitäten, die entweder vielstimmig auf ihr erlebtes Trauma antworten, sich so ins Überleben retten oder ihre innere Vielfalt nicht als Abweichung begreifen. Sondern als bereichernd.“ 

Man kann den Roman jedoch auch lesen als Dokument einer Auseinandersetzung mit einem Leben, das geprägt ist von verschiedenen kulturellen Identitäten: Auf der Suche nach einem wirtschaftlichem Auskommen verschlägt es Adas Eltern um die halbe Welt. Die Wurzel- und Heimatlosigkeit von Wirtschaftsemigranten schlägt sich in den Seelen ihrer Kinder nieder – auch am amerikanischen College erlebt Ada, wie es ist, trotz maximaler Anpassung nie ganz dazuzugehören, schon durch Geburt und Hautfarbe irgendwie „anders“ zu sein.

Dies alles kleidet Emezi in eine Sprache und einen Stil, den man – in Anlehnung an die südamerikanische Tradition – einem magischen Realismus afrikanischer Herkunft zuordnen könnte.

Informationen zum Buch:

Akwaeke Emezi
Süßwasser
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Anabelle Assaf und Senthuran Varatharajah
Eichborn Verlag, 2018
ISBN: 978-3-8479-0646-9

Homepage der Künstlerin: https://www.akwaeke.com/

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

16 Gedanken zu „Akwaeke Emezi: Süßwasser“

  1. Liebe Birgit,
    ein wenig hat uns Freud vom Stigma der histerischen Frau befreit. Sicher, die Emanzipation war noch in den kleinsten Anfängen aber immerhin.
    Das Buch gibt es auch als Hörbuch. Ich werde es, wenn ich meine Liste abgearbeitet habe, hören. Im Moment entspanne ich mich bei Suters Alemen. Leider ist es so entspannend, dass ich schon nach 10 Minuten tief und fest schlafe 😉
    Liebe Grüße sendet dir Susanne

    1. Liebe Susanne, als psychiatrisches Krankheitsbild gibt es die Hysterie ja glücklicherweise nicht mehr. Aber oft genug werden Frauen, die zu ihrer Meinung stehen, noch als hysterisch bezeichnet im Versuch, sie mundtot zu machen – sei es in Partnerschaften oder in der Öffentlichkeit. Es ist noch ein weiter Weg. Liebe Grüße Birgit

      1. Ja, liebe Birgit, die Wortwahl von „hysterischen Frauen“ hat sich tief in das Gedächtnis der Menschen eingeprägt. Meinst du, dass es zum Teil daran liegt, das unsere Stimmen höher als die von Männern sind?

      2. Liebe Susanne, die Stimme spielt wohl auch eine Rolle – aber vielleicht, weil wir seit Jahrhunderten darauf trainiert sind, tiefere Stimmen öffentlich zu hören und das dann als den Standard zu empfinden.

      3. Da hast du Recht, liebe Birgit. Es sind gerade diese Dinge, die die Emanzipation so erschweren, denn sie sind von der Biologie nunmal nicht zu ändern. Einen schönen Freitag von Susanne

  2. Treffliche Besprechung, Birgit! Ich habe das Buch ganz ähnlich gelesen und bin riesig begeistert von dieser Sprache. Senthuran Varatharajas Übersetzung trägt da sicher dazu bei. Er hat ja selbst einen sprachlich beeindruckenden Roman geschrieben.
    Viele Grüße!

    1. Liebe Marina,
      danke – ich freue mich schon auf Deine Besprechung. Der Roman hat die Aufmerksamkeit verdient. Varatharaja kenne ich nicht als Autoren, da werde ich mich mal kundig machen. Ein schönen Abend, Birgit

  3. fein, dass ich hier eine besprechung bei dir finde. das buch habe ich vor gut vierzehn tagen schon gekauft, zusammen mit tomas espedal, den ich derzeit noch lese (hast du von ihm schon etwas gelesen? er schreibt so unfassbar gut – ich bin sehr angetan und begeistert davon). liebe grüße, gute woche dir.

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