Alexander Häusser: Noch alle Zeit

Alexander Häusser ist einer der Autoren, die die Kunst der poetischen Stille beherrschen. Ein leiser Roman, der dennoch die Lebensfreude feiert.

„Edvard saß vor dem Telefon und in ihm zogen und zerrten die Erinnerungen. Wenn du vergessen willst, hatte seine Mutter einmal gesagt, dann geh mit dem Strom auf dem Deich entlang. Der Fluss nimmt alle Erinnerung mit und trägt sie fort. Geht man gegen den Strom, kommt alles zurück, und was längst vergessen schien, taucht plötzlich wieder auf.“

Alexander Häusser, „Noch alle Zeit“


Das ist das Problem mit Edvard: Obwohl bereits um die 60, hat er kaum Erinnerungen, die des Erinnerns wert wären. Ein ungelebtes Leben. Als Kind wird er eines Tages mit der Tatsache konfrontiert, dass ein Mensch, in diesem Fall der Vater, scheinbar über Nacht verschwinden kann. Das Leben dieses Mannes, selbst seine einzige Beziehung zu einer Frau, wird dominiert von der Sorge um die Mutter, die in seinen Augen die „Automatenkrankheit“ hat.

„Manchmal sprang sie an und funktionierte, als hätte man eine Münze eingeworfen“.

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Bild von Manolo Franco auf Pixabay

Meistens funktioniert sie jedoch nicht. Das und Edvards eigene Zaghaftigkeit führen dazu, dass das Mutter-Sohn-Gespann ein einsames Leben führt, ohne nennenswerte Kontakte zur Außenwelt. Die Koordinaten ändern sich erst mit dem Tod der Mutter: Edvard wird mit einem unerwarteten Erbe konfrontiert, durch das er erfährt, dass der Vater durchaus noch lange lebte und der Familie regelmäßig Geld zukommen ließ. Und plötzlich geht Edvard gegen den Strom, spürt seiner Vergangenheit, seinen Erinnerungen, dem Lebensweg seiner Eltern nach.

Die Suche führt nach Norwegen

Seine Spurensuche führt ihn nach Norwegen, wo der Vater als Soldat stationiert gewesen war und eine neue, andere Liebe gefunden hatte, deren Anziehungskraft so groß war, dass er Frau und Kind hinter sich ließ. Edvard begegnet auf seiner Reise der Berliner Journalistin Alva, die ebenso wie er auf der Suche ist: nach Halt, nach Geborgenheit, nach Zugehörigkeit. Der ältere, lebensunerfahrene Mann und die fast drei Jahrzehnte jüngere Frau bilden ein ungleiches Gespann, das während der Reise an magische Orte Norwegens voneinander lernt, was Menschen verbinden kann: einander Stütze und Hilfe sein.

Alva, zurück in Berlin, reflektiert die hinter ihr liegenden Wochen:

„Alva steckte sich Songbird in die Ohren und öffnete ihre Arbeitskladde. Lemskos Blume lag gepresst zwischen den Seiten. Ein Beweisstück mehr, dass sie tatsächlich auf dieser Reise gewesen war, dass ihr nicht nur eine Geschichte blieb. Eine Geschichte, die man sich erzählen würde und von der irgendwann niemand mehr sagen könnte, ob sie wirklich wahr ist. Weil es ein Wunder gewesen war, dass sie Edvard getroffen hatte.“

Beide erkennen – wenn auch Edvard reichlich spät – dass sie „noch alle Zeit“ der Welt haben, ein neues Leben zu beginnen und sie erkennen, was dazu gehört:

„Und sie dachte: ich muss nicht mehr suchen, was ich brauche. Ich brauche mich.“

Poetische Naturbeschreibungen

Das ist leise, sehr zurückgenommen erzählt, mit einer Sensibilität, die die Brüche, das Unausgesprochene und das Unerreichbare in diesen Biographien sichtbar macht. Auch wenn Peter Henning in seiner großartigen Besprechung im Deutschlandfunk von einem „Desillusionierungsroman“ spricht, so ist dies zugleich auch ein Buch, das Hoffnung macht: Dass „noch alle Zeit“ bleibt, ein Leben zu leben. Und nicht zuletzt verlockt einen dieser Roman mit seinen poetischen Naturbeschreibungen, einmal selbst die Magie Norwegens zu erleben.

Peter Henning würdigt den Schriftsteller, der sich mit seinen ruhig-poetischen Romanen Zeit lässt:

„Alexander Häusser zählt zu jenen Autoren, die nicht nach Markt und Moden schielen. Seine Produktion vollzieht sich in der Regel quälend langsam, dauert – wie im vorliegenden Fall – mitunter acht Jahre und länger, und steht damit den Rhythmen der Branche, die von einem Autor alle zwei Jahre ein Buch einfordert, zuwider. Gleichwohl ist mit dem vorliegenden Roman ein ganz besonderer Autor neu und wieder zu entdecken. Einer vom Schlage der Christoph Meckel und Klaus Böldl – also der Großen Stillen im Land. Ein Schriftsteller, dessen Arbeiten konsequent versammeln was wirklich bedeutende Literatur ausmacht:  Genauigkeit, Beharrlichkeit und die Weigerung, sich vorschnell zufrieden zu geben.“


Informationen zum Buch:

Alexander Häusser
Noch alle Zeit
Pendragon Verlag 2019
Gebunden mit Lesebändchen, 280 Seiten, PB, Euro 24,00
ISBN: 978-3-86532-655-3

Weitere Besprechungen finden sich bei Leseschatz und Dieter Wunderlich.

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

7 Gedanken zu „Alexander Häusser: Noch alle Zeit“

  1. Den ersten Satz hast du hervorragend herausgesucht, liebe Birgit, ich habe mir gerade das Buch in der Online Bibliothek aus eBook vorbestellt und bin schon gespannt.
    Ich würde gerne auch gegen den Strom laufen, manche Erinnerungen gehen verloren, die man doch gerne behalten möchte.
    Einen sonnigen Tag aus Berlin von Susanne

    1. Liebe Susanne,
      das SPiel mit den Erinnerungen ist ein zweischneidiges, wie der Roman zeigt: Edvard entdeckt auch vieles, worin er sich getäuscht hat. Täuschungen, die er hinter sich lassen muss, um weiterleben zu können. Ich bin gespannt, wie dir das Buch gefällt. Liebe Grüße, Birgit

      1. Liebe Birgit,
        gestern war ich bei der Online-Bibliothek an der Reihe und konnte mir das Buch ausleihen. Leider bin ich noch nicht zum Lesen gekommen, sehe mich aber schon im Bett mit meinem iPad mit der Buchseite liegen.
        Liebe Grüße nach Augsburg von Susanne

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