Wilhelm Genazino: Aus der Ferne. Auf der Kippe

Postkarten, Bilder, Fotos – alles birgt für Wilhelm Genazino Anregungen. Kurze Bildbetrachtungen voller Gehalt, ein Streifzug durch die Wunderkammer Genazinos.

charlie-chaplin-2754312_1280
Bild von Momentmal auf Pixabay

„Wenn dieses Bild aufscheint, am Ende von „Modern Times“, sind die Zuschauer erleichtert, daß Charlie und die schöne junge Frau endlich zusammengefunden haben. Nach hundert Fehlschlägen leuchtet ihnen die Utopie des Glücks, der sie nun, auf einer von allen Niederlagen gereinigten Straße, entgegengehen. In unserer Begeisterung übersehen wir, daß sich in diesem Schlußbild noch eine andere, viel verstecktere Hoffnung zu Wort meldet, eine Sehnsucht, die wir vielleicht deswegen nicht bemerken, weil unser Innerstes ihr Scheitern schon lange ahnt. Erst eine Postkarte wie diese hier, die das Schlußbild einfriert und es damit für ein beliebig langes Betrachten freigibt, läßt uns mehr sehen als das Offenkundige. Das Paar – der haarsträubende Trottel, dem es gegen alle Wahrscheinlichkeit gelungen ist, eine wundervolle Frau für sich einzunehmen – erinnert uns an all die Menschen, die wir außerhalb des Kinos kennen und die sich oft verzweifelt anstrengen, richtige Paare zu sein. Vermutlich gibt es auf der ganzen Welt nicht ein einziges Paar, das wirklich zusammenpaßt, und vielleicht kann es auch keines geben. Jedem einzelnen von ihnen haftet etwas Falsches an, etwas sanft Erzwungenes oder heiter Gelähmtes, jene nicht tilgbare Spur von Überredung und Gewalt, ohne die wir unser Leben nicht aufbessern können. An dieser wunden Stelle setzt Charlie die verborgene Utopie an. Er zeigt uns zwei in ihren Äußerlichkeiten kraß auseinanderstrebende Menschen, die trotzdem ein Paar sind. Ein Paar freilich, das keinen Versuch unternimmt, einander passend zu machen, worin es sich von allen „Paaren“ der Wirklichkeit unterscheidet. Kurz bevor wir aufatmend das Happy-End beklatschen, sehen wir die traumhafte Utopie einer Annäherung ohne Verähnlichung. Eine Utopie ist dann echt, wenn sie uns an etwas Unwirkliches wie an etwas Wirkliches glauben läßt. In dieser für das Bewußtsein kaum erträglichen Fallhöhe liegt die fast läppische Größe dieses Schlußbilds.“

Wilhelm Genazino: Auch aus einer kurzen Bildbetrachtung macht er einen Text voller Welt. „Aus der Ferne. Auf der Kippe“ beinhaltet Texte zu Fotos und Postkarten, die der Spaziergänger Genazino auf Flohmärkten, in Trödelläden und bei seinen Streifzügen erstand.

Informationen zum Buch:

Wilhelm Genazino
Aus der Ferne. Auf der Kippe
dtv Verlag, 2012
ISBN 978-3423141260

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

4 Gedanken zu „Wilhelm Genazino: Aus der Ferne. Auf der Kippe“

    1. Das stimmt – ein Chaplin und ein Keaton, dem er in diesem Buch auch einen sehr schönen Beitrag widmet!

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.