MeinKlassiker (38): Warum Transit für Sibylle Schleicher immer noch aktuell ist

Für die Schriftstellerin Sibylle Schleicher ist “Transit” ein Roman, den sie immer wieder liest. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen. Ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt. Ein Beitrag in der Reihe #MeinKlassiker.

Die Schauspielerin, Sängerin, Lyrikerin, Theater- und Romanautorin Sibylle Schleicher nennt sich selbst eine Fünfkämpferin, ist sie doch in Schielleiten, in einer Bundessportschule Österreichs, geboren.

Zuletzt erschien von ihr im Chronos Verlag das Stück: ‚In einem kühlen Grunde‘ – eine schwarze Komödie, die im Theater im Turm in Regensburg im April uraufgeführt wurde. Ihr letzter Roman „Die Puppenspielerin“, der im Alfred Kröner Verlag im Herbst 2021 erschienen ist, wurde im Dezember 2022 als Bühnenadaption in der Theaterei Herrlingen uraufgeführt. Mit Olivera Stosic-Rakic hat sie die künstlerische Leitung des Literaturprogramms beim Internationalen Donaufest 2024 inne.

Und trotz ihrer zahlreichen kreativen Verpflichtungen ist Sibylle Schleicher, die bei Ulm lebt, immer auch gesellschaftlich engagiert. So ist sie als Ehrenmitglied des Stiftungsrats: ‚Stiftung Erinnerung‘ kreativ für das Dokumentationszentrum Ulm tätig, aktiv für Theaterprojekte im professionell integrativen Theater Heyoka (Ulm) und engagiert sich ehrenamtlich für Asylsuchende.

Ihr Klassiker hat mit letzterem zu tun: „Transit“ von Anna Seghers – dies zeigt auch die Verfilmung durch Christian Petzold aus dem Jahr 2018 – ist (leider) zeitlos und aktuell. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen – ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt.


Ein Gastbeitrag von Sibylle Schleicher

Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land, fort aus diesem zusammengebrochenen Leben, fort von diesem Stern.“

Juni 2023. Griechenland. Am frühen Mittwochmorgen kentert ein hoffnungslos überladenes Flüchtlingsboot westlich der Halbinsel Peloponnes. Hunderte Männer auf dem Deck, Frauen und Kinder unter Deck – an die 750 Insassen. Menschen wurden gerettet, Leichen wurden geborgen. Es war das bisher schwerste Bootsunglück vor der griechischen Küste, sagt die Internationale Organisation für Migration. Einmal mehr geht der Streit um Schuld und Verantwortung los. Einmal mehr in diesen vergangenen Jahren. Und die, die gerettet worden sind, werden erfahren, wie wenig Chancen sie auf Asyl haben.

In der Woche davor höre ich im Radio Diskussionen um das Screening-Verfahren an den Außengrenzen. Nach wie vor geht es um Grenzsicherung und nicht um die Menschenrechte der schutzsuchenden Menschen. Das Screening bestimmt, welches Asylverfahren die geflüchteten Menschen bekommen. Sie selbst haben keine Rechtsmittel zur Verfügung. Sie zählen als ‚nicht eingereist‘, obwohl sie bereits eingereist sind. Sie sind gezwungen, in den Massenlagern an den Außengrenzen auf weitere Verfügungen zu warten. Illegale Pushbacks, bei denen die Schutzsuchenden gewaltsam an den Grenzen abgewiesen werden, sind an der Tagesordnung. Hinter all den statistischen Fakten und politischen Diskussionen stehen individuelle Schicksale, steht eine eigene Geschichte. Oft bleibt sie unerzählt. Nicht nur, weil die Betroffenen nicht fähig sind, darüber zu reden, auch, weil es an Zuhörern fehlt. Dabei würden uns diese Geschichten helfen, mehr zu verstehen, auch zu begreifen, wo unser Handeln ansetzen kann. Und immer wieder denke ich an Anna Seghers‘ ‚Transit‘.  

„Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, dass man nicht bleiben will.“

Winter 1940/41. Marseille. Flüchtlinge aus allen Ländern Europas treffen zu Tausenden in dieser Hafenstadt ein, um eine Schiffspassage irgendwohin zu ergattern, auf einem Schiff, das sie aus dem brennenden Europa der Nazis wegbringt. Unter ihnen der Ich-Erzähler, dessen wirklichen Namen wir nicht erfahren.

„Transit“ beginnt mit dem Ausgang der Geschichte. Der Ich-Erzähler hat erfahren, dass die „Montreal“ auf eine Mine lief und zwischen Dakar und Martinique untergegangen ist. Er sitzt in einer Pizzeria und lädt einen Gast auf Pizza und Rosé ein, um sich dessen Zuhörerschaft zu sichern. Er möchte „alles einmal von Anfang an erzählen.“ Wie er 1937 aus dem Konzentrationslager geflohen und über den Rhein geschwommen ist, wie ihn die Franzosen ohne Papiere in ein Arbeitslager bei Rouen internierten, wie er wieder entkommen konnte und 1940 in Paris landete. Die Deutschen marschierten gerade in Frankreich ein. Er lebt vorübergehend bei Freunden, der Familie Binnet. Durch einen Zufall gelangt er an den Koffer des toten Schriftstellers Weidel und verspricht, diese karge Hinterlassenschaft bei den Verwandten des Toten abzugeben. Das gelingt nicht und ehe er eine Lösung dafür findet, ist er wieder auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Mit einem auf den Namen Seidler gefälschten Pass verschlägt es ihn mitsamt Koffer, dessen Inhalt er mittlerweile genau kennt, nach Marseille.

Dort hat er Verbindung zur weiteren Binnet-Verwandtschaft und dort lernt andere Emigranten kennen, die alle nur so schnell wie möglich auswandern wollen. Es ist ein Hetzen nach den richtigen Papieren durch ein Labyrinth von Behörden. Dem neuen Seidler jedoch gefällt es in Marseille. Er würde gerne bleiben. Aber auch das ist nicht so einfach erlaubt. Bei einem weiteren Versuch, Weidels Koffer auf dem mexikanischen Konsulat abzugeben, hält man ihn selbst für Weidel, der um eine Ausreisegenehmigung ansucht. Er klärt den Irrtum nicht auf. Nimmt vielmehr Weidels Identität an. Während der eisigen Wintertage, in denen er seine Abreise vorbereitet, lernt er Marie kennen. Eine Frau, die mit einem Arzt zusammenlebt, gleichzeitig aber auf der Suche nach ihrem Mann rastlos durch die Cafés der Stadt streift. Seidler, mittlerweile Weidel, verliebt sich in sie und auch als er begreift, dass sie die Frau des Toten ist, zögert er zu lange, sie über das Schicksal ihres Mannes aufzuklären. Durch glückliche Fügungen erhält er eine Passage nach Übersee. Doch er gibt sie zurück. Er bleibt im Land. Marie hingegen kann er zur Ausreise mit dem Arzt auf der „Montreal“ bewegen. Die beiden kommen auf dem Weg in die erhoffte Freiheit ums Leben.

Transit steht bei Anna Seghers nicht nur für das Durchreisevisum. Transit steht für ein ganzes Durchgangsstadium verbunden mit einem ständigen Auf und Ab zwischen Hoffnung und Todesangst, verbunden mit dem Verlust von Würde und Solidarität. Die Flüchtlinge werden zu namenlosem Gesindel, das jederzeit herumgeschoben werden darf. Ihr Wert misst sich an ihren Papieren und ihrem Geld.

Anna Seghers, die selbst 1940 als jüdische Kommunistin mit ihren Kindern aus Paris flüchtet und 1941 in Mexiko landet, beschreibt nicht nur das einzelne Schicksal von Flucht und Exil des Ich-Erzählers. Sie greift viele Geschichten auf, flicht sie in den Roman ein, indem sie dem Protagonisten erzählt werden. Er, der in dieser Durchgangsphase keine eigene Identität mehr hat, sondern nur eine gefälschte und eine geliehene/gestohlene, bleibt dadurch trotzdem authentisch, auf dem Boden der Tatsachen, bei sich und gleichzeitig mitfühlend bei den anderen, noch fähig zu zuhören und mit zu leiden. Er hat Glück, dass er so etwas wie einen Familienanschluss bei den Binnets hat. Die soziale Wärme erdet ihn, lässt ihn seine Flucht reflektieren. Seghers bezieht mit der Familie Binnet das gewöhnliche Leben inmitten dieses chaotischen Treibens ein, lässt ahnen, wie es sein könnte, wenn alle Flüchtlinge Anschluss zu ansässigen Familien hätten. Sie beschreibt aber gerade durch diese beinahe freundschaftliche Vertrautheit auch die Einsamkeit und Fremdheit derer, die nur auswandern wollen, sich an nichts binden, weil sie ohnehin nicht bleiben. Es ist eine Welt, in der es keinen richtigen oder falschen Weg gibt. Nichts ist im Voraus berechenbar. Die rettende Schiffspassage kann einen auch in den Tod führen.

Anna Seghers mit Leserinnen. Bundesarchiv, Bild 183-47613-0003 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons

Mit ihrer direkten und klaren Sprache nimmt Anna Seghers uns unmittelbar mit in eine starke Bilderwelt. Der Leser ist quasi Gast des Erzählers in der Pizzeria, erlebt seine zermürbende Odyssee durch Städte und Ämter mit, friert mit ihm im kalten Regen und Wind, bangt mit ihm, dass er seine Papiere zur rechten Zeit bekommt – die Lagerentlassungspapiere, den Pass, das polizeiliche Führungszeugnis, das Ausreisevisum, das Transitvisum, das Einreisevisum usw.­– alles in der richtigen Reihenfolge, selbst wenn er weiß, dass es Papiere für einen Toten sind. Und schließlich hofft der Gast auf einen guten Ausgang, nicht nur für den Protagonisten, auch für alle anderen, die durch ihre einzigartigen Lebensgeschichten nahegerückt sind.  

„Welchen Zweck sollte das haben, Menschen zurückzuhalten, die sich doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben?“  

Herbst 2017. In einem Dorf bei Ulm. Im Asyl-Café. Die Asylsuchenden aus Afghanistan ducken sich, wenn ein Unbekannter ins Café kommt. Das zermürbende Warten auf endgültige Entscheidungen über ihren Asylantrag, lässt sie nicht schlafen. Sie trauen keinem mehr, reden über Suizid.  

Winter 2017. In einem Dorf bei Ulm. Neue Asylsuchende sind angekommen. Aber nicht aus einem anderen Land, nur aus einem Heim in der größeren Stadt. Ein junger Mann aus Ghana erzählt mir seine Geschichte. Seit zweieinhalb Jahren ist er im Land und immer noch ohne Papiere. Sein Haus in Ghana ist drei Mal abgebrannt. Auf dem Weg nach Europa ist das Schlauchboot untergegangen. Er ist einer der wenigen Überlebenden. Das Leben gerettet, die Papiere nicht. „Wer weiß, was an der Geschichte wahr ist“, sagen sie um ihn herum. Er kann nicht beweisen, dass er aus Ghana ist, wird dem Senegal zugeordnet. Er wartet auf den Übersetzer, der seine Sprache für die Ämter bestätigten soll. Inzwischen bewegt sich nichts. Junge Menschen ohne Perspektive, ‚verwarten‘ ihre lebendigsten Jahre.

Warten spielt auch in „Transit“ die nahezu größte Rolle. Warten vor dem Konsulat, in den Cafés, am Kai, im kargen Hotelzimmer. Ein zehrendes Warten, das alle Lebensenergie aus einem herausziehen kann. Warten, in das sich bisweilen Langeweile mischt, vor allem aber Angst und Ungeduld.

„Transit“ ist eine von vielen vergleichbaren Geschichten, die unsere Vergangenheit prägen und sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben. Eine Geschichte, die zeitlich im Zweiten Weltkrieg verankert ist, mit ihm und seinen politischen Auswirkungen zu tun hat, so gesehen eine unzeitgemäße Variante dieses Themas sein könnte. Denn dass das Thema Emigration selbst hochaktuell ist, muss man nicht weiter ausführen. Dass auch heute viel darüber geschrieben wird und wir mit den Schicksalen der Flüchtlinge in allen Medien konfrontiert werden, ist nicht zu bestreiten. Warum also so eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert ausgraben? Einerseits, weil Anna Seghers Sprache uns noch ganz direkt erreicht und ohne Larmoyanz oder Härte zu berühren vermag. Und anderseits, vielleicht gerade weil der Blickwinkel ein anderer ist, weil man sich durch die zeitliche Distanz viel eher Vergleiche anzustellen traut. Man wähnt sich in sicherem Abstand und kann plötzlich die Realität anders zulassen. Man hält es aus, die Nahaufnahmen anzuschauen. Und wie der Ich-Erzähler zu Mitgefühl findet, indem er zuhört, können auch wir zu einer größeren Durchlässigkeit und Empathie den aktuellen Geschehnissen gegenüber gelangen, sie in unser Leben einbeziehen und nicht außen vorlassen.  

„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben.“  

Mai 2023. Andau. An der Brücke. Es regnet, leichter Nebel liegt über dem Wasser. Außer uns ist heute keiner da. Das Wetter zu unwirtlich. Die Kälte kriecht unter unsere Jacken. Ich gehe langsam über die Brücke. Unter ihr der Einser Kanal. Im Hinterkopf eine leichte Ahnung, wie es 1956 gewesen sein könnte. Es ist nicht mehr die Brücke, über die mehr als 70.000 Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich gekommen sind, weil diese Brücke damals von den sowjetischen Truppen gesprengt wurde, aber viele Zeichen erinnern rundum an die Zeit. Internationale Künstler und Künstlerinnen säumen hier mit ihren Werken im Sinne des historischen Geschehens das Gelände mit ihren Objekten und Skulpturen. Vor und hinter der Brücke stehen Informations– und Gedenktafeln, Grenzsteine, Landesschilder. Im Regen nimmt man all die Zeichen nicht so genau wahr, denkt nur daran, wie sich die Menschenmengen über die Brücke geschoben haben, nachdem sie zuvor schon tagelang auf der Flucht waren. Warten, Chaos und Angst vor der Grenze zum Burgenland. Wie in Anna Seghers ‚Transit‘, denke ich wieder. Nur ganz anders. Aber dann doch nicht anders. Flucht und Migration, ein zeitloses Thema. Menschen fliehen, weil ihr Leben in Gefahr ist, sie fliehen vor Willkür, Gewalt und Zerstörung. Sie fliehen, weil sie Ihre Kinder nicht mehr ernähren können, weil sie Hoffnung haben auf ein besseres Leben. Niemand verlässt ohne einen wichtigen Grund sein zu Hause.

Über das Burgenland wurden die Flüchtlinge unter anderem weiter in die Steiermark gebracht und auf Flüchtlingslager verteilt. 116 Flüchtlingslager verschiedener Größen gab es 1956/57 in der Steiermark. Eines davon war Schloss Schielleiten im Bezirk Hartberg, eine der Bundessportschulen Österreichs. 105 Flüchtlinge fanden dort im Winter 1956 vorübergehend eine Bleibe. Mein Vater war zu dieser Zeit Verwalter dieses Betriebs. Damals sind Freundschaften entstanden, die unser aller Leben bis heute begleiten. Darüber will ich unter anderem in meinem neuen Roman: ‚Die Kinder von Schielleiten‘ (Arbeitstitel) erzählen.

Sibylle Schleicher
https://sibylleschleicher.de/


Buchausgaben:

Die Werke von Anna Seghers erscheinen im Aufbau Verlag.
Transit ist als Hardcover innerhalb der Werkausgabe erhältlich,
als Taschenbuch und Ebook.

Taschenbuch:
Anna Seghers
Transit
Aufbau Verlag, 2018
ISBN: 978-3-7466-3501-9

#MeinKlassiker (12): Das siebte Kreuz – ein Roman von aktueller Brisanz

Dagmar Eger-Offel ist davon überzeugt, dass “Das siebte Kreuz” zu den epischen Werken zählt, die nie an politischer Aktualität verlieren.

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Literatur im Fenster ist ein eingetragener Verein, der seit 2009 vielerlei Veranstaltungen im Bereich     Erwachsenenbildung organisiert. Das Projekt “Frauenakademie” und das Projekt “Studium Generale” sind Unterrichtsprogramme vom Baden-Württembergischen bzw. Bayrischen Volkshochschulverband. Darüber hinaus werden von dem Verein auch Schreibwerkstätten angeregt, Formate des offenen digitalen Lernens angeboten, und vieles mehr. Auf dem Blog des Vereins veröffentlicht dessen Vorsitzende, Dagmar Eger-Offel, ab und an auch Rezensionen, die stets mit feiner Feder verfasst sind. Ich habe sie gebeten, eine ihrer Besprechungen für die Reihe #MeinKlassiker um einige persönliche Worte zu ergänzen – weil auch mir dieser Roman ausgesprochen wichtig ist:

„Dieses Buch ist den toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands gewidmet.“

Anna Seghers’ umfangreicher Roman “Das siebte Kreuz” über die Verhältnisse im Hitler- Deutschland der späten dreißiger Jahre zählt zu den epischen Werken, die nie an politischer Aktualität verlieren. Ihre Widmung auf dem Vorsatzblatt ist gerade jetzt brandaktuell und zeigt, von welcher Brisanz die Thematik ist und von welcher Bedeutung, sich mit der Geschichte und der Literatur dieser Zeit auseinanderzusetzen.

Beinahe wäre eines der wichtigsten Bücher der Exilliteratur nie zur Veröffentlichung gekommen. Auf ihrer Odyssee von Paris über Madrid, Moskau, beendete sie 38/39 den Roman in Paris, flüchtete weiter über USA, Mexiko, Polen, USA, wo Das siebte Kreuz 1942, nachdem zwei Manuskripte verloren gegangen waren, erstmals erschien. Obwohl sie Deutschland bereits 1933, kurz nach Hitlers Machtergreifung verlassen und erst 1947 in Berlin wieder deutschen Boden betreten hat, konnte sie sich auf authentische Informationen von ehemals Inhaftierten aus dem KZ Sachsenhausen in ihrer Geschichte beziehen. Die Schicksale der politisch Inhaftierten werfen ein eindeutiges Licht auf die Struktur des Faschismus und seine Vollstrecker in den ersten Jahren des Nationalsozialismus. Und auf die Fähigkeit couragierter Menschen, diesem Machtgebaren zu jeder Zeit etwas entgegenzusetzen. Seine fesselnde Wirkung zieht der Roman nach wie vor aus der Botschaft, dass der Nationalsozialismus besiegbar sei.  Auch unter den Vorzeichen von Angst und Gewalt ist es die persönliche Haltung, die persönliche Entscheidung, die den Einzelnen zum Unbesiegbaren macht.

Es ist die Geschichte eines Ausbruchs von sieben Gefangenen aus einem KZ, von denen nur einer überlebt. Ein Entkommener wird zum Hoffnungsträger aller Antifaschisten und alle Helfer zu persönlichen Helden.

Anna Seghers knüpft vielerlei Assoziationsbilder in ihre Geschichte, sie nimmt Anleihen bei Homer, Dante und der Bibel, um durch die Kraft der Symbolik das Zeitlose des Geschehens zu unterstreichen. Was aber am meisten beeindruckt, ist die Vielschichtigkeit der vorgestellten Charaktere. Es gibt aus allen Gesellschaftsschichten, aus allen Milieus Verräter. Ihre Gründe sind so unterschiedlich wie ihr Verhalten. Die einen denunzieren aus Angst, die anderen aus blinder Unterwürfigkeit, andere, um beruflich überleben zu können, wieder andere unter sozialem Druck und manche aus reiner Bosheit. Es wird kein einseitiges Bild der Denunzianten gezeichnet. Die meisten unterliegen ihrer Angst und das Gefühl des Entsetzens darüber, wie schrecklich Zustände sind, in denen man niemandem trauen kann, prägt sich tief ein. Genauso vielfältig sind aber auch die Gründe derjenigen, die dem Flüchtenden auf irgendeine Art helfen oder beistehen wollen. Es sind Charaktere, die nach wie vor ihrer politischen Überzeugung treu im Untergrund gegen das Regime arbeiten. Es sind aber auch Menschen dabei, die direkt aus dem Herzen heraus hilfsbereit reagieren und sich gegen die eigene Angst auflehnen. Menschen, die erst in der Notwendigkeit, welche die Situation gebietet, ihre politische Dimension des Handelns entdecken. Die Varietät der Wege des Humanen ist der eigentliche Gewinn an der Lektüre dieses Buches. Trotz aller wahrhaft erschreckenden Einblicke die das Buch in niederes menschliches Gebaren auf Seiten derer, die vermeintlich am längeren Hebel sitzen, gewährt, ist es doch ein Mutmachbuch und es endet mit einem auf ewig gültigen Satz: „Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äußeren Mächte in den Menschen hineingreifen können, bis in sein Innerstes, aber wir fühlten auch, dass es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar.“

Das Buch habe ich erneut ausgegraben, weil es gerade jetzt wieder die gefährlichen Mechanismen einer faschistischen Einflussnahme unter die Lupe nimmt. Durch Populismus und Propaganda verblendete Menschen entziehen sich selbst und allen anderen den Blick auf das höchste Gut: die Freiheit. Und was mich wieder tief beeindruckt hat neben einer kunstvollen Komposition mehrerer Handlungsstränge ist vor allem die Komplexität der Charaktere. Anna Seghers gibt sich nirgends mit Stereotypen ab, sondern zeichnet Figuren, die sich durch ihre inneren Kämpfe ihrer Überzeugung immer wieder selbst vergewissern müssen. Was aber dann entsteht, geht weit über das Persönliche hinaus. Es ist die Kraft der Solidarität, die diese Menschen zu Unbesiegbaren macht.

Anna Seghers: Das siebte Kreuz. In Deutschland erstmals in Deutschland 1946 erschienen im Aufbau Verlag, Berlin. Neu erschienen ist 2015 im Aufbau Verlag, Berlin eine Ausgabe mit Originalillustrationen von 1942.

Dagmar Eger-Offel
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11 Bücher, die frau gelesen haben sollte, bevor …

In einer Liste der Welt-Redaktion von „11 Büchern, die du bis zu deinem 30sten lesen solltest“ ist KEINES einer weiblichen Autorin. Da muss ich dagegenhalten.

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Die Online-Kultur-Redaktion der Welt liebt derzeit offenbar Bücherlisten. Solche nach dem Motto „25 Bücher, die Sie gelesen ….blablabla“. Und das alles in einem locker-seichtem Unterhaltungston. Meist überfliege ich diese Art von Artikeln, doch einer der letzten dieser Art stieß in den sozialen Netzwerken auf viel Protest. Zurecht. Denn unter den „11 Büchern, die du bis zu deinem 30sten lesen solltest“ ist KEINES von einer weiblichen Autorin. Und das im Jahre 2016 – dass Frauen auch im Literaturbetrieb immer noch strukturell bedingte Benachteiligung erfahren, das ist hinlänglich bekannt. Aber man möchte doch meinen, dass es für die unter 30jährigen heute eine genügend große Auswahl an prägenden AUTORINNEN gibt? Und seit der „Zeit-Bibliothek der 100 besten Bücher“ (eine Frau auf der Liste) und dem männerlastigen Kanon Reich-Ranickis sind nun wirklich ein paar Jährchen vergangen …

Ich habe überlegt, welche 11 Bücher von Frauen ich gelesen habe, bevor ich 30 wurde (also vor 20 Jahren), die mich geprägt, beeinflusst, begeistert haben. Mir sind auf Anhieb zwei Dutzend und mehr eingefallen.

Aber ich beschränke mich mal auf die nachfolgenden elf Freundinnen – und stelle die Frage, welche Bücher von Schriftstellerinnen für euch bedeutend sind, in den Raum.

Virginia Woolf, Mrs. Dalloway, 1925: Zu sehen, wie im Laufe eines Tages die Fassade bröckelt, eine Frau sich und ihr Leben in Frage stellt, wie Verletzungen zu Tage treten – unter dem Eindruck dieses Romans überlegte ich mir kurz den Schwenk zu einem Psychologiestudium.

Anna Seghers, Das siebte Kreuz, 1942: Für mich eines der eindrücklichsten Bücher über Widerstand, Freiheitswillen vs. Diktatur. Und von Anna Seghers bin ich seither einfach nur beeindruckt.

Ilse Aichinger, Die größere Hoffnung, 1948: Wer sich selbst ein Visum gibt, wird frei. Einer der Schlüsselsätze, die hängengeblieben sind, auch drei Jahrzehnte später noch. Ein Buch, mit dessen spröder Sprache ich gerungen habe, das mir aber genau deswegen immer in Erinnerung bleibt.

Doris Lessing, Das goldene Notizbuch, 1962: Ganz zurecht eine „Bibel“ der Frauenliteratur – Doris Lessing beschreibt in diesem Roman ein Kernthema, den Versuch, Unabhängigkeit und den Wunsch nach Intimität zusammenzubringen. Da finden sich eigene Lebensthemen wieder.

Simone de Beauvoir, Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, 1968: Das war mein erstes Buch, das ich von de Beauvoir las (und danach holte ich mir alle weiteren), 15 Jahre war ich alt und saß fortan auf gepackten Koffern.

Toni Morrison, Sehr blaue Augen, 1979: Toni Morrison – eine von 14 Frauen, die bislang den Nobelpreis für Literatur erhalten haben …Ihr Romandebüt: So zornig, so wütend, so packend – auch eine Anklage gegen die Welt der Männer, insbesondere der weißen Männer. Schärfte meinen Blick für gewisse Strukturen.

Ingeborg Bachmann, Malina, 1980: Ihr einziger Roman endet mit dem Satz: „Es war Mord“. Ein weibliches Ich verschwindet. Eigentlich ein trauriges Buch – die Frau erliegt  der Utopie der Liebe. Faszinierende Sprache, aber so traurig wollte ich nicht werden.

Monika Maron, Flugasche, 1981: Der stark autobiographische Roman erzählt vom Mut einer Frau, die als Journalistin bei der Recherche über Umweltverschmutzung in Bitterfeld von der Partei unter Druck gesetzt wird. Ich las das mit großer Hochachtung, wollte mir ein Stückchen Mut abschneiden.

Christa Wolf, Kassandra, 1983: Die Seherin, die sich langsam freimacht von falschen Bindungen, die immer unbeirrbarer und aufrechter wird, auch wenn der Preis der Tod ist. Eines dieser starken Bücher, die zu Lebensbüchern, zu einer Art ethischen Richtschnur wurden.

Marguerite Duras, Der Liebhaber, 1984: Dieses Buch zu lesen war in meinem Abitur-Jahrgang ein „Muss“. Exotik, Erotik. Erst ein späteres Wiederlesen, auch unter dem Eindruck der Lektüre von „Der Schmerz“, eröffnete mir einen anderen Blick auf die Autorin. Der Preis der Selbstbestimmung wird mit persönlichem Leid bezahlt.

Giaconda Belli, Bewohnte Frau, 1988: „Die Fackel ist entzündet“ – dieser Roman über Widerstand, Liebe und die Emanzipation einer Frau führte bei mir zu einigen Semestern Studium der lateinamerikanischen Literatur und zu einer anhaltenden Begeisterung für die Lyrik der Nicaraguanerin.

Und wer waren die Schriftstellerinnen, die euer Leseleben prägten?

Irmgard Keun: Kind aller Länder

“Kind aller Länder” und “D-Zug dritter Klasse”: Zwei schwächere Romane von Irmgard Keun. Fast scheint es, als habe sie in der Emigration ihre Stimme verloren.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Wir haben so viele Gefahren, das alles ist so schwer zu verstehen. Vor allem muss ich lernen, was ein Visum ist. Wir haben einen deutschen Pass, den hat uns die Polizei gegeben. Ein Pass ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, dass man lebt. Wenn man den Pass verliert, ist man für die Welt gestorben. Man darf dann in kein Land mehr. Aus einem Land muss man `raus, aber in das andere darf man nicht `rein. Doch der liebe Gott hat gemacht, dass Menschen nur auf dem Land leben können. Jetzt bete ich jeden Abend heimlich, dass er macht, dass Menschen jahrelang im Wasser schwimmen können oder in die Luft fliegen.“

Irmgard Keun, „Kind aller Länder“, 1938


Der Pass, nach Brecht edelster Teil des Menschen, ein immer wiederkehrender Gegenstand in der Exilliteratur. Verzweifelt warten beispielsweise die Protagonisten in „Transit“ (Anna Seghers) oder „Die Nacht von Lissabon“ (Erich Maria Remarque) auf Papiere: Einen Pass, ein Visum, eine Bordkarte. Sie ermöglichen die Flucht, Flucht ohne eine Wiederkehr auf absehbare Zeit – am Ende egal wohin, nur weg vom brennenden Kontinent, in dem es für Juden, politisch Widerständige, Intellektuelle und andere Verfolgte kein Versteck mehr gibt. Papiere sind lebensrettend.

In dem 1938 von Irmgard Keun geschriebenen Roman „Kind aller Länder“ schlagen sich diese Themen nieder, das Herumirren durch ganz Europa, die Not der Exilanten, ständig auf der Jagd nach Papieren, Geld, einem neuen Unterschlupf. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Irmgard Keun, damals 33 Jahre alt und selbst schon seit Mai 1936 im Exil, schreibt aus der Sicht eines Kindes, der zehnjährigen Kully. In deren Eltern – dem haltlosen, leichtsinnigen Schriftsteller Peter und der Mutter, die im Exil zwischen Heimweh, Wunsch nach Bodenständigkeit (der Versuch, ein Heim in der Fremde zu imitieren, scheitert nicht nur an der politischen Situation, sondern auch an der Rastlosigkeit des Mannes), Pragmatismus und Tagträumerei schwankt – hat Keun, nicht unschwer zu erkennen, auch ihrem Geliebten Joseph Roth und sich ein literarisches Denkmal gesetzt, ihre Erfahrungen dieser Zeit verarbeitet.

„Mein Vater schreibt für unseren Lebensunterhalt. In Ostende hat er ein neues Buch geschrieben, das aber nicht fertig geworden ist, weil wir so viele Sorgen hatten. Wenn meine Mutter und ich meinen Vater mittags abholten, sahen seine Augen manchmal aus, als seien sie weit ins Meer geschwommen und noch nicht wieder zurück. Meine Mutter und ich können sehr gut schwimmen, aber die Augen von meinem Vater schwimmen noch viel weiter. Er hat uns auch oft fortgeschickt, weil er nicht essen wollte. Ein regelmäßiges Leben stört seine Arbeit und ekelt ihn an.“

Die Hetze der Flucht spiegelt sich in der Sprache wieder

Dieses ständige Gehetztsein, der Druck, an Geld zu kommen, gerade auch der Druck, der deshalb auf dem Schreiben lastet  – dies ist nicht nur ein Thema des Romans, sondern auch ein Thema, das sich hier offenbar in der Sprache von Irmgard Keun niederschlägt: Die Leichtigkeit des Erzählens, der schnodderige Ton, wie wir sie aus „Gilgi, eine von uns“ und „Das kunstseidene Mädchen“ kennen, sie wirken ausgerechnet, da Keun ein Kind als erzählende Figur wählt, da dieser Erzählton der „reflektierten Naivität“ stimmig wäre, nicht durchgehend schlüssig: Manches Mal klingt das Kind eine Spur zu altklug, manches Mal zu wenig kindlich-ängstlich in dieser bedrängenden Situation. Ähnlich wie die erwachsenen Protagonistinnen der Keun-Bücher plaudert das Mädchen Kully über die Alltagsnöte und ihre kindlichen Ängste hinweg:

„Mein Vater treibt ja immer wieder Geld auf. Er kommt auch immer wieder zurück. Ich glaube nicht, dass er uns vollkommen vergisst. Damals in Ostende hat er mich ja auch nicht vollkommen vergessen, nur beinahe.“

Erzählerische Struktur wirkt zerfahren

Verlustängste und Angst vor dem Krieg sind an solchen Stellen spürbar, werden dann aber unter diesem Erzählstrom, der Begegnungen, Anekdoten und nicht zuletzt zahllose Orte – Amsterdam, Brüssel, Prag und schließlich auch die USA sind Stationen dieser Hatz – aneinander reiht, begraben. Die Keun-Biografin Hiltrud Häntzschel wertete das Buch als „vergnügliche Lektüre“, die zugleich die Schrecken der Heimatlosigkeit dadurch potenzieren, weil die Leser eben mehr wissen als die Erzählerin, die noch das Urvertrauen eines Kindes in sich trägt. So könnte man das Buch lesen – doch dieses kindliche Geplauder wirkt auf Dauer eher etwas ermüdend denn vergnüglich, zudem, und das gesteht auch Häntzschel ein, wirkt der Roman „unfertig“, „zerfleddert“ am Ende. Das „Nichtmehrbewältigen der erzählerischen Struktur“ sei symptomatisch für Keuns Situation im Herbst 1938: Die Hetzerei von einem Ort zum anderen – sie findet nicht nur im Roman, sondern auch im Leben der Autorin statt. Und so wirkt auch der Erzählton: Gehetzt.

Dennoch gibt es von mir eine Leseempfehlung:

An vielen Stellen blitzen „Gilgi“ und „Doris“ auf und damit das erzählerische Temperament der Irmgard Keun.

„Und weiter hat sie gesagt: Ein guter Mann hat immer eine schlechte Frau – und ein schlechter Mann hat immer eine gute Frau. Das muss so sein. Ich finde es besser, eine gute Frau zu sein und einen schlechten Mann zu haben, denn mit einem guten Mann ist man auch nicht glücklich, aber mit einem schlechten Mann langweilt man sich wenigstens nicht.

Trotz der erzählerischen Schwächen: Das Experiment, das Exil und seine Konsequenzen aus der Sicht eines Kindes zu zeigen, hat Wirkung. Keun bringt bittere Wahrheiten, kindlich-süß verpackt, auf den Tisch – ganz nach dem Motto „Kindermund tut Wahrheit kund“.

„Es gibt auch Emigranten, die keine Dichter sind. Die Emigranten haben auch Vereine, wo sie sich ungestört zanken können. Viele Emigranten wollen sterben, und mein Vater sagt oft, es sei das beste und einzig Wahre, aber sie sind alle etwas unschlüssig und wissen nicht recht, wie sie es anfangen sollen, denn es genügt nicht, dass man einfach betet: Lieber Gott, lass mich bitte morgen tot sein.“

Eng an der eigenen Biographie

Und nicht zuletzt ist dieses wohl das engste an ihrer eigenen Biographie entlanggeschriebene Werk, das Einblick gibt in diese fatale Beziehung zwischen Irmgard Keun und Joseph Roth. Von daher für Anhänger der beiden Schriftsteller, die dieser „amour fou“ nachspüren wollen, eine Pflichtlektüre.

Das narrative Verfahren – Erzählen aus der Sicht eines Kindes – fand bereits im ersten „Exilbuch“ von Keun Anwendung: Noch in Deutschland geschrieben, veröffentlichte sie 1936 die Erzählungen um „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“ im holländischen Verlag Allert de Lange.


Irmgard Keun, „D-Zug dritter Klasse“, 1938

Wenn eine Schriftstellerin von Beginn an einen eigenen Stil, eine eigene Sprache gefunden hat, dann fällt es dem Leser mitunter schwer, ihr bei wesentlichen Veränderungen zu folgen. Doch allein daran lag es wohl nicht, dass dieser Roman mich wenig ansprechen konnte. Irmgard Keun, die sonst so Rasante, bummelt im „D-Zug dritter Klasse“ vor sich hin, die Erzählung quält sich voran. Mag sein, dass ihre private Situation Einfluss auf ihre Schreiben hatte: Irmgard Keun quälte sich noch mit der Trennung von Joseph Roth, das Leben in der Emigration war äußerst belastend, von Zukunftsängsten und Geldsorgen bestimmt.

Vielleicht musste gerade deswegen schnell „Nach Mitternacht“ ein neues Buch erscheinen – eine kurze Romanerzählung, die jedoch unfertig, beinahe fahrig wirkt. Warum auch immer, aber der „D-Zug dritter Klasse“ lässt vieles vermissen, insbesondere die gewohnte freche und naive und dabei doch so hellsichtige Erzählerinnenstimme. Der schmale Roman ist konventionell angelegt: Eine auktoriale Erzählstimme, ein nicht ganz neuer Plot – eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe deutscher „Reichsbürger“ im Zug nach Paris. Nach und nach treten die Reise- und Fluchtgeschichten, die privaten Irrungen und Wirrungen zutage.  Doch die Figuren bleiben unglaubwürdig, unausgegoren, ihre Motive wenig glaubhaft, fast schon parodistisch übertrieben.

Eine misslungene Emigrationsparodie?

Auch nutzte Irmgard Keun die politische Lage – 1938 gab es genügend existentielle Gründe, um aus Deutschland zu fliehen – kaum: Die Reisenden sitzen im Zug, weil sie ihr privates Leben in Sand gesetzt haben, sie flüchten vor ihren Lebensumständen. Dass in ihrer Heimat eine Diktatur wütet, dass ein Krieg heranzieht, dass Menschen verfolgt werden, ist dem Roman kaum zu entnehmen. Zwar werden die Ängste thematisiert, die mit einer Flucht in ein neues, fremdes Land, mit einem Neubeginn und mit dem Leben im Ungewissen verbunden sind, aber auch das wirkt seltsam unausgereift, flüchtig dahingepinselt. Die Keun-Biographin Hiltrud Häntzschel schreibt: „Fast mutet D-Zug dritter Klasse wie Spott auf die Emigration an; vielleicht lässt sich das Buch auch als – dann allerdings misslungene – „Emigrationsparodie“ lesen.“

Anna Seghers: Transit

Der 1944 erschienene Roman ist eine bewegende Darstellung dessen, was Exil und Flucht bedeutet. Und deshalb bis heute aktuell.

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Bild von Christo Anestev auf Pixabay

„All diese alten, schönen Städte wimmelten von verwilderten Menschen. Doch es war eine andere Art von Verwilderung, als ich geträumt hatte. Eine Art Stadtbann beherrschte diese Städte, eine Art mittelalterliches Stadtrecht, jede ein anderes. Eine unermüdliche Schar von Beamten war Tag und Nacht unterwegs wie Hundefänger, um verdächtige Menschen aus den durchziehenden Haufen herauszufangen, sie in Stadtgefängnisse einzusperren, woraus sie dann in ein Lager verschleppt wurden, sofern das Lösegeld nicht zur Stelle war oder ein fuchsschlauer Rechtsgelehrter, der bisweilen seinen unmäßigen Lohn für die Befreiung mit dem Hundefänger selbst teilte. Daher gebärdeten sich die Menschen, zumal die ausländischen, um ihre Pässe und ihre Papiere wie um ihr Seelenheil.“

Anna Seghers, „Transit“, 1944


Ich könnte aus diesem Roman so vieles zitieren – und alles wäre hochaktuell. Jedes Zitat weckt Assoziationen zur Jetzt-Zeit. Schiffe voller Flüchtlinge, die sinken. Das Warten in den Städten am Meer auf die nächste Möglichkeit zur Reise. Das Ringen um Papiere, Visen, Aufenthaltsgenehmigungen, die Erlaubnis zur Weiterreise. Flüchtlingsgespräche:

„Welchen Zweck soll das haben, Menschen zurückzuhalten, die doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben?“

„Mein Sohn, weil sich alle Länder fürchten, daß wir statt durchzuziehen, bleiben wollen. Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, daß man nicht bleiben will.“

Aber vor allem immer auch: Die Ungewissheit, wohin es einen verschlägt. Was werden wird, wenn man überlebt. Was übrigbleibt vom alten Leben. Was mit denen ist, die man verlassen musste.

„Dreimal bin ich geschlagen worden, dreimal gesteinigt, dreimal hab ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht zugebracht in der Tiefe des Meeres, in Gefahr gewesen durch Flüsse, Gefahr in den Städten, Gefahr in der Wüste, Gefahr auf dem Meere.“

„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wußten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben.“

„Und wenn mein Leben vorerst nichts sein sollte als ein Herumgeschleudertwerden, so wollte ich wenigstens in die schönsten Städte geschleudert werden, in unbekannte Gegenden.“

Anna Seghers hat den Roman in den Winter 1940/41 angesiedelt: Nach der Invasion der Deutschen im Sommer 1940 flüchtet sie mit ihren Kindern aus Paris nach Marseille. Es gelingt ihr, Einreisegenehmigungen für Mexiko zu erhalten: 1941 besteigt sie mit ihrer Familie ein Schiff, dass sie in das rettende Land bringt. 1947 kehrt sie nach Berlin zurück. Ihr Roman „Transit“ ist da bereits in verschiedenen Sprachen erschienen, erstmals 1944 in englischer Sprache. Erst 1948 kommt er auch in deutscher Sprache heraus: Eine bewegende Darstellungen dessen, was Exil und Flucht für den Einzelnen bedeutend kann.

Die Verantwortung der Schriftsteller

Allerdings ging es der Schriftstellerin „um mehr und anderes als um ein dokumentarisches Abbild der Realität jener Zeit“, betont Sonja Hilzinger 1993 in einem Nachwort in einer Ausgabe des Romans im Aufbau Verlag. „In diesem Roman stehen (…) das Schreiben, das Erzählen, die Aufgabe und die Verantwortung des Schriftstellers zur Diskussion.“ An Georg Lukács schreibt Seghers: „Diese Realität der Krisenzeit, der Krieg usw. muß (…) erstens ertragen, es muß ihr ins Auge gesehen und zweitens muß sie gestaltet werden.“

So ist „Transit“ zugleich ein Zeitdokument, das heute wieder an Aktualität gewinnt und eine literarisch anspruchsvolle und bewegende Erzählung. Anna Seghers stellt einen Ich-Erzähler in den Mittelpunkt, um den eine Vielzahl von anderen Figuren gruppiert ist: Alles Menschen auf der Flucht, Dutzende von Einzelschicksalen, für die das Exil vor allem eines bedeutet – Verlust. Verlust nicht nur in emotionaler und materieller Hinsicht, sondern auch an Würde und Solidarität. Die Flüchtlinge werden zur Nummer, deren Wert sich an ihren Papieren misst. Sie werden zu Opfern von „Fluchthelfern“, deren Geschäft die Not der anderen ist. Und aus den Opfern werden ebenfalls Täter: Sie lassen, um eines Stempels, einer Möglichkeit willen, andere im Stich, verkaufen und verraten Freunde und Angehörige.

Eine Existenz im Exil

Seghers nutzt wie in das „Das siebte Kreuz“ die Episodentechnik: So gelingt es ihr anhand der einzelnen Protagonisten ein umfassendes Bild der Existenzbedingungen im Exil zu zeichnen, aufzuzeigen, was das bedeuten kann, der Weg in die Emigration. Der immer auch ein Weg der Ent-Menschlichung ist. Wo der Wert eines Menschen an seinen Papieren gemessen wird, wie es Brecht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ zum Ausdruck bringt:

“Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“

Der Identitätsverlust kann noch weiter reichen – wie es Seidler, dem Ich-Erzähler, beinahe geschieht, bis hin zur Auflösung des eigenen Ichs. Seidler, ein antifaschistischer Arbeiter, gelangt in Paris durch Zufall an die Papiere eines toten Schriftstellers, dessen Identität er in Marseille (fast ebenso zufällig) annimmt. In der Hafenstadt verliebt er sich jedoch in Marie – die Frau jenes Schriftstellers, die mit einem anderen Mann auf Papiere und eine Schiffspassage wartet, zugleich jedoch auch auf den verstorbenen ehemaligen Geliebten. Seidler kann letztlich Marie zur Ausreise bewegen – er selbst bleibt zurück, um wenig später zu erfahren, dass das Schiff, auf dem Marie sich befand, im Atlantik versenkt wurde.

Doch, so Sonja Hilziger, der Erzähler lernt, die Transit-Welt und seine Rolle zu durchschauen: „So gelingt es ihm, seine Identität zu bewahren. Transit ist das Zeichen dieser Zeit im umfassenden Sinn; gemeint ist nicht nur das Papier, das Visum, sondern das Transitäre dieser Welt, in der jeder jeden im Stich läßt. Der Erzähler lernt, solidarisch zu handeln; die Grundform dieses sozial-kommunikativen Verhaltens ist das Zuhören.“

Ich wünschte mir, viele Menschen würden dieser Tage Erzählern der Emigration vergangener Tage zuhören.

Allen voran Anna Seghers.

„Ich aber, ganz elend von dem Transitgeflüster, ich staunte sehr, wenn ich derer gedachte, die in den Flammen der Bombardements und in den rasenden Einschlägen des Blitzkriegs zugrunde gegangen waren, zu Tausenden, zu Hunderttausenden, und viele waren daselbst auch zur Welt gekommen, ganz ohne Kenntnisname der Konsuln. Die waren keine Transitäre gewesen, keine Visenantragsteller. Die waren hier nicht zuständig. Und selbst wenn von diesen Unzuständigen einige sich bis hierher gerettet hatten, an Leib und Seele noch blutend, sich in dieses Haus hier doch noch geflüchtet hatten, was konnte es einem Riesenvolk schaden, wenn einige dieser geretteten Seelen zu ihm stießen, würdig, halbwürdig, unwürdig, was konnte es einem großen Volk schaden?“


„Aufstand der Fischer von St. Barbara“ (1928).

 „Über den Tisch weg sahen die Frauen in den Augen ihrer Männer ganz unten etwas Neues, Festes, Dunkles, wie den Bodensatz in Ausgeleerten Gefäßen.“

Als einer von außen, ein geübter Revolutionär, nach St. Barbara kommt, kommt  kurz Hoffnung auf – Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch der Widerstand der Fischer und ihrer Familien, die für eine Reederei mit Monopolstellung für einen Hungerlohn arbeiten, wird gebrochen. Alles bleibt, wie es ist. Und dennoch: Trotz des Scheiterns hinterlässt diese schmale Erzählung den Eindruck einer Kraft, die nicht so schnell gebrochen werden kann.

Die Erzählung ist das erste Buch, mit dem Anna Seghers in die Öffentlichkeit trat. Wenig später erhielt sie für diese in nüchterner, spröder Sprache erzählten Geschichte eines gescheiterten Aufstandes den Kleist-Preis. Von den reaktionären Medien wurden Seghers und Hans Henny Jahn, 1928 Vertrauensmann der Kleist-Stiftung, heftig angegriffen, bei anderen traf sie auf großen Beifall: Mit ihrer Erzählung, die örtlich und historisch unbestimmt bleibt, erfasste sie eine Stimmung, die in der von Krisen geschüttelten Weimarer Republik spürbar war.

Hans Henny Jahn in seiner „Rechenschaft über den Kleistpreis“:
„Ein gutes Buch mit knapper und sehr deutlicher Sprache, in dem auch die geringste Figur Leben gewinnt. In dem die Tendenz schwächer ist als die Kraft des Menschlichen. Es ist ein Daseinsvorgang in fast metaphysischer Verklärung. Das nenne ich Kunst.“