„Wie so eine Geschichte, die man sich ein Leben lang erzählt hat, an einer Stelle plötzlich aufplatzen und abblättern kann. Man fängt an zu knibbeln, Stückchen für Stückchen, und darunter tritt etwas ganz anderes zutage. Wie bei übereinanderliegenden Farbschichten, die man nacheinander abträgt.“
Theres Essmann, „Dünnes Eis“
Allein wenn es um die Anzahl der Jahre ginge, hätte diese Frau viel zu erzählen. Marietta ist in ihrem hundertsten Lebensjahr, lebt in einer Seniorenresidenz und vor allem mit und von ihren Erinnerungen: Mit dem bunten Schal ihrer verstorbenen Freundin und Zimmernachbarin Gisela, Fotos, Briefen und Dingen wie Brummel, ein Teddybär, der einst ihrem Sohn Johann gehörte.
Johann, das ist der große Schmerz, den sie ihr ganzes Leben lang in sich trägt: Ihr kleiner Sohn, sechs Jahre alt, wird vor ihren Augen von einem russischen Soldaten erschossen. Sie gibt sich selbst die Schuld daran, meint sie doch, ihr Kind dazu aufgefordert zu haben, wegzurennen – ein Reflex, der dazu führt, dass Johann abgeschossen wird „wie ein Hase“. Ein Trauma, das alle anderen grauenvollen Erlebnisse jener Kriegstage, die Vergewaltigungen, den Tod der Großeltern, die Flucht aus Ostpreußen über dünnes Eis verdrängt.

Und dennoch bewältigt Marietta ihr Leben, erfährt mit dem Psychoanalytiker Elias eine neue, reife Liebe, geht in ihrem Beruf als Lehrerin auf, findet Halt und Anregung in der Literatur. Doch mit 99 Jahren, auch wenn man wie diese alte Dame bei wachem Verstand und körperlich noch einigermaßen rüstig wird, wird es naturgemäß einsam um einen: Ihre Ansprechpartnerinnen sind die Mitarbeiterinnen des Heims, in den hellwachen Nächten begleiten sie die Erinnerungen.
„Mit beiden Händen zieht sie die Schublade auf, sie ist randvoll mit Leben. Fotos über Fotos, wahllos hineingeworfen. (…) Vorm Fenster steht schwarz wie die Nacht. Sie schiebt im Schein der Lampe die Fotos auf dem Schreibtisch nebeneinander, Gisela in ihrem Ohrensessel neben Johann mit seinem Brummel. Ihre älteste Tote. Und Johann, ihr jüngster.“
Eine zufällige Begegnung bringt jedoch neue Farbe in ihre Leben: Plötzlich, wie eine Erscheinung, steht im Park vor ihr der kleine Enis, ein Flüchtlingskind, das stumm bleibt, ganz offensichtlich von der Flucht und seinen Erlebnissen traumatisiert. Die Parkbank wird zum Treffpunkt der beiden, der alten Frau und des siebenjährigen Kindes, die ein ähnliches Schicksal teilen. Mithilfe einer jungen Frau, die Marietta zu ihrem 100. Geburtstag für die Zeitung fotografiert, erfährt Marietta, dass Enis gewissermaßen ihr Spiegelbild ist: Sie musste mitansehen, wie ihr Sohn ermordet wurde, Enis erlebte den Mord an seinen Eltern mit.
Die Schatten der Vergangenheit
Auch in einem zweiten Erzählstrang geht es um Schuld und die Schatten der Vergangenheit: Der mürrische, krebskranke Herr Tacke, den Marietta hartnäckig und durchaus fordernd aus seinem Schneckenhaus holt, gesteht ihr eine grauenhafte Tat, die er als jugendlicher SS-Scherge begangen hat. Ein Geständnis, das Marietta aus der Fassung bringt. Und zugleich als erzählerischer Kunstgriff notwendig ist, um das Eis, das sich um ihr Herz seit Johanns Tod gelegt hat, zum Schmelzen zu bringen:
„Es ist wie ein gewaltiges Reißen. Ein Knacken und Bersten im Eis, dort wo es am dicksten ist. Dort, wo ihre Schuld eingeschlossen ist. Es birst auseinander in zwei Hälften. Sie hat nicht geschrien. Sie hat es gedacht. Dazwischen leckt eisig die See. Und sie, sie muss nur von der einen auf die andere Seite hinüberspringen.“
Erst in ihrem 100. Lebensjahr wird für Marietta das Eis begehbar, das sich über ihre Wahrnehmung von Johanns Tod gebildet hat. Oder, wie sie sich an die Worte eines Kollegen ihres zweiten Mannes erinnert:
„(…) die traumatische Neurose als Infiltrat, die den psychischen Organismus besetzt hält. Das heißt ja, dass es dann darum geht, es herauszuarbeiten, den Widerstand schmelzen zu lassen und so der Zirkulation den Weg zu bahnen, in ein bisher vom Trauma überlagertes und versperrtes Gebiet.“
Ein Prozess, der wichtig ist, gerade am Lebensende, wenn man mit dem eigenen Abschied rechnen muss.
„In ihr ist nichts als Wärme. Eine Wärme, die sich ausdehnen will.
Und ein leises Staunen. Darüber, dass in den tiefen Lücken, die das Leben dir reißt, warme Dankbarkeit nisten kann.“
Ein lebenskluger Roman mit einer starken Frauenfigur
Mit „Dünnes Eis“ ist Theres Essmann nach ihrem literarischen Debüt „Federico Temperini“ erneut ein kluges, ein lebenskluges Buch gelungen. Die Autorin erweckt große Empathie für ihre Figuren, ohne je in falsches Sentiment oder gar Klischees abzurutschen. Die großen Themen dieses berührenden Romans – Schuld und Sühne, Kriegs- und Fluchttrauma, Verluste und Versöhnung – werden mit einer Frauenfigur transportiert, die einem im Gedächtnis bleiben wird. Mit Marietta hat Theres Essmann einen Charakter geschaffen, der beeindruckt, klug und sensibel zugleich, würdevoll zudem der Gebrechlichkeit und den Einschränkungen des Alters entgegentretend.
Der Roman spricht dank einer klaren Prosa zugleich Herz und Verstand an: Zurückhaltend, manchmal sehr zart und poetisch, aber auch kristallklar deutlich, wenn es um die grauenhaften Dinge geht, die Menschen in Kriegen erfahren müssen, findet Theres Essmann für ihr Sujet eine eigene Sprache, einen besonderen Stil, der dieses Buch trägt.
Bibliographische Angaben:
Theres Essmann
Dünnes Eis
Dörlemann Verlag, 2023
ISBN 9783038201328
Transparenzhinweis: Für das Debüt von Theres Essmann, “Federico Temperini”, habe ich im Rahmen des damaligen Verlags die Pressearbeit geleistet. Mit dem Verlagswechsel ist dies beendet. Von “Dünnes Eis” erhielt ich ein Vorab-Rezensionsexemplar. Beides hatte auf meine Meinung zum Roman keinen Einfluss: “Dünnes Eis” ist für mich unabhängig davon eindrucksvolle Literatur.
Danke Birgit,
für Deine Lektüre und Vorstellung des Dünnen Eises.
Eiskalter Stoff und schließlich wärmende Dankbarkeit.
Gute Wünsche in den Spätsommer
und viele Grüße
Bernd
Lieber Bernd, ja herzerwärmend! Dir auch noch schöne Sommertage, viele Grüße von Birgit