Simone Scharbert: du, alice

Ein poetisches Portrait der Schwester von Henry und William James. Und ein Zeugnis weiblicher Selbstbehauptung.

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Bild von Michal Jarmoluk auf Pixabay

„die frage treibt dich schon seit jahren um, immer wieder kauert, lauert sie im dunkel deines denkens, auch an diesen hellen tagen, und je mehr du dich ihr zu entziehen versuchst, desto mehr gerätst du in ihren sog, es geht um deine existenz, um den sinn deines lebens, um moralische werte, die dein denken geformt, gelenkt haben, das nun einrastet bei dieser frage, nicht weiterkommt, denn wer kann schon eine frage dieser tragweite beantworten.“

Simone Scharbert, “du, alice“.

Es sind die ganz großen Fragen, um die Alices` Denken kreist. Ein ungebärdiger Geist, der die Fesseln sprengen will, die ihm auferlegt sind. Eingegrenzt zwischen Krankenlager und Korsett, gefangen in einem immer kränkelnden Körper und den Konventionen jener Zeit. Die innerliche Rebellion, das stumme Aufbegehren, es fordert seinen Tribut, frisst diese Frau von innen auf – zunächst sind es die dunklen Fragen nach einem selbstgewählten Ende, dann ist es der Krebs, der sie besiegt.

Die Lyrikerin und Autorin Simone Scharbert wendet sich in ihrem ersten veröffentlichten langem Prosatext einer besonderen Frau zu: „du, alice“ ist ein poetisches, einfühlsames Portrait einer hochintelligenten Frau, der das Leben nach ihrem Maß verwehrt wurde. „eine anrufung“, so Untertitel und formale Bezeichnung dieses Textes, aber auch eine Annäherung und ein Stück poetischer Aneignung.

Wer war Alice James (1848 – 1892)? „Erst wenn die Sprache auf ihre Brüder kommt, den Romancier Henry James sowie den Philosophen und  Psychologen William James, oder auf Susan Sontag, die ihr ein Theaterstück widmete, weiß man sie einzuordnen“, informiert der Klappentext des schmalen Bandes, erschienen in der „edition AZUR“.

Luise F. Pusch hat dieser – zu ihrer Zeit übersehenen und erst sehr viel später entdeckten Frau, deren spät verfassten und erst postum veröffentlichten Tagebücher ein Zeugnis starken weiblichen Denkens sind –  ein Portrait bei fembio gewidmet:

„Alice James war eine hochbegabte Frau, die allerdings ihre Begabung nie entfalten durfte. Ihr Vater, der ihre Brüder auf die besten Schulen und Universitäten schickte, war der Überzeugung, dass Bildung der natürlichen Würde und Aufgabe der Frau nur schaden könne (…) Mit 13 Jahren erkrankte Alice James an Hysterie und sollte sich zeit ihres kurzen Lebens nicht mehr davon erholen; ab ihrem dreißigsten Lebensjahr war sie Vollinvalidin. Sie litt darunter, daß sie keine »richtige Krankheit« vorzuweisen hatte und frohlockte geradezu, als sie 1891 mit 43 Jahren unheilbar an Krebs erkrankte: »Dem der wartet wird gegeben! … Seit ich krank bin, habe ich mich nach irgendeiner handgreiflichen Krankheit gesehnt, egal was für einen fürchterlichen Namen sie haben mochte.«

In ihrem mitreißenden Text, in dem Simone Scharbert jene Alice anspricht wie eine vertraute Bekannte, geht die Autorin den Lebens- und Leidensweg der Alice James mit – kein Leidensbuch ist es jedoch geworden, sondern das Zeugnis einer „Selbstentwicklung“, einem Kampf um Wissen und intellektuellem Anspruch gegen alle äußeren Widerstände hinweg.

„da helfen auch die bücher nicht weiter, obwohl du immer wieder sätze findest, die dich halten, anker im grundlosen, he didn`t fear death, but he feared dying, the nearness counts so as distance. du weißt genau, was diese sätze bedeuten, manchmal bist du dir so fremd, dass du dir auf diesem umweg näherkommst, und endlich beginnst du richtig zu schreiben, nimmst die feder nur für dich zur hand, verfasst keine briefe, überträgst keine zitate, fertigst keine exzerpte mehr an, nein, schreibst nur noch deine eigenen worte, formst sie zu sätzen, gibst ihnen die form eines tagebuchs, dein first journal.“

Das ist 1888 und Alice James bleiben nur noch knappe vier Jahre. Am Ende ihres Lebens kann sie, vom Krebs, Schmerzen und Morphium gebeutelt, ihre Gedanken nur noch ihrer Seelenverwandten Katharine P. Loring diktieren:

„und dass katharine deine texte verwahren wird, auch daran glaubst du, sie hat es versprochen, sie wird dein schreiben gegen henry und william verteidigen, es auch gegen deren willen an die öffentlichkeit bringen, dein erstes und letztes eigenes buch, dein first journal, am anfang war das wort und es wird auch am ende stehen. du glaubst an deine sprache.“

Katharine P. Loring ist es zu verdanken, dass das „First Journal“ erhalten blieb, Simone Scharbert ist es zu verdanken, dass Alice James den Leserinnen ihrer Anrufung lebendig und greifbar wird. Ihr Text fließt, fließt wie dieses Frauenleben, beleuchtet entscheidende Jahre, Entwicklungen, Ereignisse, ist chronologisch und assoziativ zugleich, vor allem aber in einer wunderbaren Sprache geschrieben. So entsteht das Portrait einer Frau mit allen ihren Widersprüchen und Eigenheiten, deren Wesen, sicher auch geprägt durch die lebenslangen Einschränkungen, nicht unbedingt einnehmend ist, die einen jedoch überwältigt mit ihrer inneren Kraft. „du, alice“ – eine Anrufung auch an die Leserinnen von heute, nicht still zu stehen, Beschränkungen nicht zu dulden, ein Zeugnis weiblicher Selbstbehauptung.


Mehr Informationen zum Buch:

Simone Scharbert
„du, alice“
Edition AZUR 2019
120 Seiten, 20,00 Euro
ISBN 978-3-942375-42-9

Homepage der Autorin:
https://www.simonescharbert.de/


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Autor: Birgit Böllinger

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2 Gedanken zu „Simone Scharbert: du, alice“

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