#MeinKlassiker (4): Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Wie Literatur das eigene Leben verändern kann, das beschreibt Wolfgang Schnier – und meint damit „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“.

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Das Schöne an dieser Reihe sind die Überraschungen. Als ich Wolfgang Schnier, der einen klugen Blog über das Lesen und Schreiben betreibt, um einen Gastbeitrag für die Reihe #MeinKlassiker bat, rechnete ich eigentlich mit einem Text über Goethe, Paul Celan oder Erich Mühsam. Aber Wolfgang schlug dieses Buch von Milan Kundera vor – und beim Lesen seines Beitrages lernte ich diesen 1984 erschienenen Roman nochmals neu kennen.

Wolfgang Schnier über „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“:

„Es ist unmöglich zu überprüfen, welche Entscheidung die richtige ist, weil es keine Vergleiche gibt. Man erlebt alles unmittelbar, zum ersten Mal und ohne Vorbereitung. Wie ein Schauspieler, der auf die Bühne kommt, ohne vorher je geprobt zu haben. Was aber kann das Leben wert sein, wenn die erste Probe für das Leben schon das Leben selber ist? Aus diesem Grunde gleicht das Leben immer einer Skizze. Auch ‚Skizze‘ ist nicht das richtige Wort, weil Skizze immer ein Entwurf zu etwas ist, die Vorbereitung eines Bildes, während die Skizze unseres Lebens eine Skizze von nichts ist, ein Entwurf ohne Bild.“

Dies findet man auf den ersten Seiten von Kunderas Roman. Und als ich diese Stelle las, änderte sich mein Leben. Denn ich bekam keine endgültigen Antworten auf die Fragen, die das Leben aufwarf, sondern hier artikulierte Kundera etwas, das mir die Fragen aufzeigte, die in mir goren und ich nicht formulieren konnte, ja, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie tief in meinem Inneren hatte! Und so war ich elektrisiert, kaum 20 Jahre alt. Dass das Buch im Grunde eine Liebesgeschichte erzählt, oder besser gesagt mehrere, das wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht. Aber ich war auf dem besten Wege, die chaotischen und unkontrollierten Beziehungen der Teenager-Zeit gegen reflektiertere und bodenständigere Partnerschaften zu tauschen und suchte irgendwie nach einer Art Resonanzkörper, der mir bei meiner Suche meine eigenen Wünsche und Vorstellungen zurückwarf, um mir selbst die Antworten geben zu können, nach denen ich verlangte. Und während mir langsam klar wurde, dass es hier um die Geschichte zweier Liebenden geht, dachte ich oft an die Stelle, die ich eingangs zitiert habe: Was für eine Ouvertüre! Wie grundlegend und tiefgehend das Buch dieses Thema ausleuchtete, das waren Tiefenregionen, von denen ich bislang noch nicht einmal wusste, dass es sie gab! Mir war, als würde mich endlich jemand verstehen, als würde ich mich endlich verstehen, da mir klar wurde, dass ich die ganze Oberflächlichkeit vergangener Tage endlich hinter mir lassen wollte und auch konnte.

Das Leben erklärt man sich rückwärts

Allerdings ist das Buch nicht frei von Kitsch. Wenige Seiten später heißt es: „Nicht die Notwendigkeit, sondern der Zufall ist voller Zauber. Soll die Liebe unvergeßlich sein, so müssen sich vom ersten Augenblick an Zufälle auf ihr niederlassen wie die Vögel auf die Schultern von Franz von Assisi.“ Das ist beinahe trivial: Bei diesem Thema ist alles Zufall im Leben, das geht zurück auf den Zufall, wo wir überhaupt geboren wurden und welche verschlungenen Lebenspfade man hat gehen müssen, um an den Punkt zu gelangen, an dem man sich endlich getroffen hat. Aber das macht nichts, denn der Zauber liegt darin, diese Zufälle als eine Art Bestimmung anzusehen, als eine Unvermeidlichkeit. Man erklärt sich seinen Lebensweg rückwärts, als hätte man nicht, wie es eigentlich geschehen, nur vorwärts gelebt. Und nur, wenn wir das tun, erst dann wird diese Liebe unvergesslich.

Wenn man das Buch noch nicht gelesen hat, dann sollte man sich vorher nicht über die Handlung informieren. Das kann man zwar überall nachlesen, (zum Beispiel hier) aber damit nimmt man sich selbst den wichtigsten Effekt des Buches. Das liegt jetzt nicht daran, weil die Handlung sehr komplex oder dicht wäre, das ist bei Kunderas Büchern nicht der Fall. Aber wenn man sich eine nackte Inhaltsangabe durchliest, dann ist es so, als betrachtete man das Stahlgerippe eines Rohbaus und würde davon ausgehend Rückschlüsse auf das Gebäude erwarten, wie es einmal aussehen wird, wenn es fertig ist. Das kann man machen, aber man läuft dabei Gefahr, das Wesentliche zu übersehen. Diese Gefahr besteht bei allen guten Büchern, aber bei der unerträglichen Leichtigkeit des Seins wäre das unvermeidlich. Was das Buch nun für mich ausmacht, kann ich aber nur von einem Standpunkt nach der Lektüre des Buches beschreiben. Ich möchte daher so allgemein wie möglich, aber so detailliert wie nötig bleiben.

Anna Karenina als Erkennungszeichen

Die Charaktere in diesem Buch sind Idealtypen unserer eigenen Persönlichkeit. Wenn man erkannt hat, dass sie verschiedene Prinzipien idealtypisch repräsentieren, dann kann man in sich hineinhören und sich fragen: Wo habe ich diesen Gedanken auch schon einmal gehabt, wo ist mir dieses auch schon einmal passiert? Da ist zum Beispiel die Nebenfigur Franz, ein Akademiker, ein Kopfmensch, aber in Sachen Liebe ein Versager. Er setzt alles auf eine Karte und verliert. Und da ist Teresa, zentrale Figur, zerfressen von Eifersucht und inniger Liebe ohne Grund. Es hat sie einfach getroffen und sie hinterfragt an keiner Stelle wieso. Genauso wenig wie Tolstois Anna Karenina, den gleichnamigen Roman, den sie wie ein geheimes Erkennungszeichen an verschiedenen Stellen des Buches in die Hand nimmt.

Und Tomas, der Don Juan und Tristan in sich vereint, trifft eine Entscheidung nach der anderen, die seinem eigentlichen Lebensstil entgegengesetzt sind, aber ihn mit Teresa zusammen hält. Und da ist die eigentliche Hauptfigur, jedenfalls nach meinem Verständnis: Sabina. Während jedem anderen Charakter eine mythische Figur nebenan gestellt wird, Teresa hat Anna Karenina, hinter Tomas scheinen Don Juan und Tristan hindurch und Franz hat Züge von Don Quijote und Faust, ist Sabina nicht im Mythischen verwurzelt. Sie ist die moderne Lebefrau, die Künstlerin der Moderne. Und ihr Attribut ist die Leichtigkeit, die Freiheit. Sie hält es kaum mit Tomas aus und erst recht nicht mit Franz. Die Unverbindlichkeit ist ihre Visitenkarte und am Ende hört man von ihr nur noch durch die Briefe aus den USA, dem Land der unbegrenzten Freiheit, so weit ist sie der eigentlichen Handlung entschwoben. Aber sie ist rastlos und hat einen hohen Preis zu zahlen: Sie ist einsam.

Wann verwandelt sich die Leichtigkeit in Schwere?

Und an dieser Stelle fällt einem plötzlich die Handlung auf, wie sie durch die Jahre hingeplätschert ist, mit den unterschiedlichen Entscheidungen in den verschiedenen Lebensstationen und man denkt an die Stelle ganz am Anfang: Kann man wirklich wissen, ob man die richtige Entscheidung getroffen hat, als man diesen oder jenen Weg im Leben einschlug? Verwandelt sich hier die Leichtigkeit in eine Schwere, die unerträgliche Leichtigkeit des Seins – ist das die Leichtigkeit von einst, unbemerkt verwandelt in Schwere durch die Entscheidungen, die wir im Leben getroffen haben und treffen müssen?

Und wenn man das Buch gelesen hat, etwas verwirrt vielleicht und noch nicht alles verstehend, und es einige Jahre im Unterbewusstsein vor sich hin schlummern lässt und man sein eigenes Leben lebt, mit all den Irrungen und Wirrungen, mit all den Entscheidungen, ja, dann fällt es einem später vielleicht wieder ein. Wie war das noch mit Tomas und Teresa? Beschreibt das Buch vielleicht nicht nur die Charaktere als einen Idealtypus, sondern auch die Liebe selbst wie einen unerreichbaren Gipfel auf dem höchsten Berg, wie eine Fata Morgana, die sich immer weiter entfernt, je näher man ihr kommt? Oder ist die Liebe immer rein und unschuldig, zufällig und immer kompliziert, suchend und findend, verschlungen und oft einfach bedingungslos hoffnungsvoll und einfach hoffnungslos zugleich? Und wie heißt es woanders so schön: „Einen Menschen kennt einzig nur der, welcher ohne Hoffnung ihn liebt.“

Und dann fällt einem vielleicht wieder eine andere Stelle in dem Roman ein, eine im Rückblick sehr melancholische Stelle, die aber noch nicht melancholisch gewesen ist, als man sie das erste Mal in jungen Jahren gelesen hatte. Und es ist eine Stelle, an die ich oft denken musste in der letzten Zeit, weil sie mich nie ganz losgelassen hat. Aber zunächst noch eine andere Frage: Wenn diese vier Charaktere in diesem Buch Idealtypen darstellen, welchem würde man den Vorzug geben? Und könnte man den eigenen Schwerpunkt selbst wählen? Denkt man darüber nach, wenn man verliebt ist? Nun, früher oder später wird man feststellen, dass die Partitur des Lebens endlich ist und wir nur in einer gewissen Zeitspanne in die Tasten unseres Gegenübers greifen können, oder, anders formuliert: Manche Erfahrungen kann man nur zu einer bestimmten Zeit in seinem Leben machen. Oder, in Kunderas Worten:

„Solange die Menschen noch jung sind und die Partitur ihres Lebens erst bei den ersten Takten angelangt ist, können sie gemeinsam komponieren und Motive austauschen. Begegnen sie sich aber, wenn sie schon älter sind, ist die Komposition mehr oder weniger vollendet, und jedes Wort, jeder Gegenstand bedeuten in der Komposition des einzelnen etwas anderes.“

Und so denke ich manchmal an Tomas und Teresa und halte mein eigenes Leben dagegen. Und dann sage ich mir: Manche Bücher muss man in verschiedenen Lebensabschnitten lesen und verstehen. Was mir dieses Buch vor fast zwanzig Jahren offenbarte, liest sich heute beinahe wie eine Prophezeiung. Und genau darin liegt auch ein Stück Hoffnung: So verschieden sind wir Menschen nicht, und vielleicht ist dieses Buch auch ein Motiv nicht nur in unserem eigenen Leben, sondern auch ein Motiv im Leben unseres Gegenübers. Etwas schüchtern halte ich daher nicht Anna Karenina in meinen Händen, sondern die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.

Wolfgang Schnier
https://wolfgangschnier.com/


Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

17 Gedanken zu „#MeinKlassiker (4): Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“

  1. Auch hier stelle ich wieder fest, dass uns Klassiker oft in jungen Jahren treffen und betroffen machen. Ein Buch, welches wir mit vierzig oder fünfzig abgeklärt lesen und begutachten – oft nach gebildeten, literarischen Maßstäben, erscheint uns als Mensch in der Zeit des Erwachenwerdens wie ein Freund, ein unvoreingenommener Berater, wie eine seelenverwandte Stimme. Es spricht wahrhaftig unsere Sinne und unser Empfinden an. In einer Zeit, in der man sich von aller Welt (Eltern, Geschwistern, Lehrern) missverstanden fühlt, kommt ein Buch daher und sagt: „Du bist doch gut, so wie Du bist. Schau, hier ist ein Weg für Dich.“
    Danke für diesen persönlichen Einblick!

    1. Danke, liebe Erika, für diesen schönen Kommentar – das Buch als Freund, als Begleiter, das ist ein guter Gedanke. An manchen Büchern stellt man allerdings auch beim Wiederlesen fest, wie man sich selbst verändert – ich habe vor kurzem den Werther wiedergelesen. Mit 17 da packt einen dieses Schwärmerische, dieses Brennen, Leiden und Sehnen. Jetzt las ich das Buch doch so viel mehr kritischer und der liebe Werther kam wenig gut weg bei mir 🙂 Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins – da hat mir jetzt Wolfgang durch seinen Beitrag wieder eine neue „Lesart“ vermittelt. das finde ich auch das Schöne an der Serie: Man guckt unter Umständen nochmals anders auf die Bücher.

  2. Ich war bei Erscheinen des Buches auch Anfang 20 und sehr überwältigt von den fast hymnischen Kritiken, die der Roman bekam. Mich berührte er nämlich überhaupt nicht. Er hat sogar meinen Widerwillen erweckt, so dass ich nie auf die Idee kam, ihm noch eine zweite Chance zu geben (auch den Film mochte ich nicht). Nach dieser Besprechung wäre ich aber vielleicht doch geneigt, ihn noch einmal hervor zu holen. Geduldig wartet er noch im Regal. Ein Buch, das so viele Leser derart berührte. Sehr schöner Beitrag.

    1. Ich hatte damals gerade das Abitur hinter mir, wusste noch nicht so recht, was ich wollte, wo es hingehen sollte – und plötzlich lasen alle in meiner Clique, Männlein wie Weiblein, diesen Roman. Es war die Phase der Unsicherheit, des Schwärmens, die Liebesgeschichte stand im Vordergrund, dann natürlich der Gedanke an Revolution, ohne viel über die Hintergründe zu wissen. Aber man wollte, wie Wolfgang ja auch Kundera zitiert, gemeinsam etwas komponieren, man fand über den Roman (und andere Bücher) Gleichgestimmte, wollte aufbrechen, suchen, Erfahrungen machen – und das ist ja das Interessante: Wie begegnet man dann auch dem Buch, aber auch den Menschen aus dieser Zeit 20, 30 Jahre später? Sind die Töne noch dieselben?

  3. Was für ein Kommentar!
    Besser kann man einen Roman und seine Wirkmächtigkeit nicht beschreiben.
    Er ist der beste Roman eines Osteuropäer in dieser Zeit.
    Merkwürdigerweise kannten ihn meine tschechischen Kollegen nicht. Alle Nach-68er schon und es gibt kaum einen Roman der die Stimmung einer Zeit mit den Nöten und Fragen der Jugend so bündelt.
    Mit 25 gab es kein besseres Buch. Auch der Film hat mich überzeugt. Nicht nur wegen Juliette Binoche.
    Meine unbeantwortete Frage an Milan K.: was muss man erlebt haben, um solch ein Werk zu schreiben.

  4. Danke an Wolfgang für diesen wunderschönen, gehaltvollen und persönlichen Artikel, der grosse Lust auf’s Wiederlesen macht. Das ist sicher auch eines der Bücher, die einem nach 20 Jahren noch mal mehr geben – wobei es in dem Fall gut ist, es so früh wie möglich schon mal kennenzulernen. Um über die sich entwickelnden Partituren nachzudenken…

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