Literarische Orte: Wieland unter „abgeschmakten“ Schwaben

Nichts wie weg hier: Als Kanzleiverwalter hat Christoph Martin Wieland in Biberach arg gelitten. Dafür umso mehr geschrieben. Ein Besuch in seiner Heimatstadt.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Es geht doch, sagt mir was ihr wollt,
nichts über Wald und Gartenleben,
und schlürfen ein dein trinkbar Gold,
o Morgensonn´, und sorglos schweben
daher im frischen Blumenduft,
und, mit dem sanften Weben
der freyen Luft
als wie aus tausend ofnen Sinnen,
dich in sich ziehn, Natur, und ganz in dir zerrinnen!

Christoph Martin Wieland, „Der Vogelsang, oder die drey Lehren“, in „Der Teutsche Merkur“, März 1778.

In meiner Jugendzeit war das Biberacher Kino ein großer Anziehungspunkt. Der damalige Besitzer zeigte all die Filme, mit denen wir uns als Provinzjugendliche in das freie, wilde Leben hineinsehnen konnten. Legendär die Nachtvorführungen von „Catch 22“, „M*A*S*H“ und Filmen ähnlichen Kalibers, in dem es mehr darum ging, selbst schlaue Sprüche abzusondern denn dem Film zu folgen.

2019_Biberach-92-1024x683Dass genau gegenüber, hinter Bäumen versteckt, jenes Gartenhaus schlummerte, in dem sich knapp 250 Jahre zuvor einer der kommenden Größen der Weimarer Klassik ebenfalls Gedanken machte über Freiheit, Gleichheit und andere Prinzipien der Aufklärung und sich wegsehnte aus der Provinz, davon hatten wir keine Ahnung. Man sah den „Wald vor lauter Bäumen nicht“ – übrigens auch eine der zahlreichen Redewendungen, mit denen dieser Schriftsteller und Aufklärer den deutschen Sprachschatz bereicherte.

Wieland, einer der Großen der Weimarer Klassik

Es ist im Grunde ein pädagogisches Armutszeugnis: Ich kann mich nicht erinnern, dass während meiner Schullaufbahn, die Mitte der 1980er-Jahre endete, nur einmal die Rede gewesen wäre von jenem Klassiker, der nur einen Steinwurf entfernt von unserem Gymnasium geboren worden war. Wieland, der erste der großen vier Weimaraner, der Mann, der den Roman als literarische Form salonfähig machte, der modernen Literatur den Weg bereitete und als Erstübersetzer zahlreiche Werke Shakespeares übertrug und damit in Deutschland erst das „Shakespeare-Fieber“ auslöste, er war in seiner Heimatregion lange vergessen. Inzwischen jedoch wird das Andenken in Oberschwaben vorbildlich gepflegt.

1733 kam der Pfarrersohn Christoph Martin Wieland in Oberholzheim zur Welt, einem kleinen Ort im Landkreis Biberach a. d. Riß, der, wie es sich Wieland später in einem Gedicht wünschte, bis heute „unscheinbar“ blieb:

„Du kleiner Ort, wo ich das erste Licht gesogen,
Den ersten Schmerz, die erste Lust empfand,
Sei immerhin unscheinbar, unbekannt.
Mein Herz bleibt ewig doch vor allen Dir gewogen,
Fühlt überall nach Dir sich heimlich hingezogen,
Fühlt selbst im Paradies sich noch aus Dir verbannt.
O möchte wenigstens mich nicht die Ahnung trügen,
Bei meinen Vätern einst in Deinem Schoß zu liegen.“

Geburtsstube in Oberholzheim

Im evangelischen Pfarrhaus wurde die Geburtsstube Wielands wieder eingerichtet und auf Initiative der Biberacher Wieland-Stiftung die berühmte Löwenzahn-Wiese angelegt:

„Mein Vater wurde durch ein hitziges Fieber ein Vierteljahr außer Stand gesetzt, sein Amt zu versehen; da erinnere ich mich noch, wie der sein Amt indeß vertretende Vicar mich im Käppchen auf die Wiese geführt hat und in den gelben Blumen spielen ließ, wie ich diese Blumen pflückte …“.

Doch schon 1736 wurde der Vater als „Siechenprediger“ in die heutige Kreisstadt Biberach berufen. Der junge Wieland war ein wissbegieriges Kind, lernte schnell und hatte schon als Jugendlicher alle römischen Klassiker gelesen. 1747 kam der Junge auf ein pietistisches Internat bei Magdeburg – bis 1760 kehrte er in seine Heimatstadt nur zu Besuch bei den Eltern zurück, seine Studienwege führten ihn indes unter anderem nach Tübingen und Zürich. Doch kam es 1750 in Biberach zu einer lebensentscheidenden Begegnung: Hier lernte er Sophie von La Roche kennen, ohne die, wie er später gestand, er niemals zum Dichter geworden wäre.

„Ein Blick von Sophie genügt, um alle anderen Frauen aus meinem Herzen auszulöschen.“

Einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit

Dass aus der Verlobung weiter nichts wurde, das lag vor allem an Wielands zögerlichem Hin und Her, der sich in jenen Jahren gerne auch platonisch auf Nebenwege begab. Ein Zimmer im heutigen Wieland Museum in Biberach ist diesen „Frauengeschichten“ gewidmet: So kann man auch spielerisch und doch anspruchsvoll an große Literatur heranführen.

Das Wieland Museum befindet sich im ehemaligen Gartenhaus, das sich Wieland, der 1760 als Kanzleiverwalter nach Biberach zurückkehrte, gemietet hatte, um dort musisch arbeiten zu können. Hier entstanden seine ersten Werke, „Die Geschichte des Agathon“, „Don Silvio von Rosalva, oder der Sieg der Natur über die Schwärmerey“, mit denen er seinen Weg zum bekanntesten und erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit begründete.

Literarisch war Biberach also fruchtbar – zumal er hier auch mit den Shakespeare-Übersetzungen begann und eine der ersten bedeutenden Shakespeare-Aufführungen stattfand. Als Direktor der Evangelischen Komödiantengesellschaft brachte er als Übersetzer und Regisseur 1761 „Der Sturm oder der erstaunliche Schiffbruch“ auf die Bühne. An diesen Meilenstein des deutschen Theaterlebens wird heute an der Fassade des Komödienhauses erinnert, das noch immer in Betrieb ist, als Kleinkunstbühne genutzt wird und Heimstatt des ältesten Amateurtheaters in Deutschland, dem Dramatischen Verein Biberach, ist.

Skandale und Geldnot

Trotz der literarisch erfolgreichen Zeit lässt Wieland jedoch kein gutes Haar an seinem Wohnort: Ihm fehlt der literarische und philosophische Austausch, eine „Mesalliance“ mit einer Katholikin führt zu einem handfesten Skandal und zudem plagen ihn Geldnöte.

„Sogar die Musen sind, vielleicht auf ewig, von mir geflohen, ach! (…) da ich durch einen Fluch, den mir die Götter verzeyhen wollen, meine Zeit, meine Schreibfinger und meine armen Musculos clutaeos dem Dienst der Stadt Biberach verpfändet habe! (…) und bald wird die ansteckende Dummheit einer Raths-Stube den wenigen wäßrichen Geist noch vollends auftroknen, den ihm ein fünfjähriger Auffenthalt unter den unwissendsten, abgeschmaktesten, schwermüthigsten und hartleibigsten unter allen Schwaben noch übrig gelassen haben mag.“

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

(Einschub: In seinen Abderiten greift Wieland die Geschichte von Esels Schatten, die Demosthenes zugesprochen wird, auf: Ein Zahnarzt mietet einen Esel für eine Reise. Als er sich in dessen Schatten legt, will der Besitzer, der ihn begleitet, auch dafür Geld, was zu einem Rechtsstreit führt, den Wieland satirisch zuspitzt. Die Skulptur von Peter Lenk auf dem Biberacher Marktplatz greift dies detailreich auf.)

Sophie von La Roche-Biograph Armin Strohmeyr meint dazu:

„Für Wieland hat die emsige Schriftstellerei auch ein profanes Motiv: Mit ihr versucht er Geld zu verdienen, da ihm die Auszahlung seines Gehalts als Kanzleiverwalter wegen eines Paritätsstreits zwischen katholischer und protestantischer Bürgerschaft vier Jahre lang verweigert wird. Ein Gerichtsverfahren vor der Wiener Reichsverwaltung, bei dem Wieland von Georg Michael La Roche unterstützt wird, zieht sich hin, und Wieland ist gezwungen, sich von Freunden Geld zu leihen. Kein Wunder, dass ihm die Arbeit im Amt sauer wird.“ 

Armin Strohmeyr, „Das Leben der Sophie von La Roche“, 2019

Ja, richtig gelesen: Geholfen wird Wieland vom Ehemann seiner ehemaligen Verlobten. Das Paar lebte inzwischen in Schloss Warthausen bei Anton Heinrich Friedrich Graf von Stadion, einem Wegbereiter der Aufklärung am kurfürstlichen Hof in Mainz. Man war sich – Warthausen liegt bei Biberach – also räumlich und auch persönlich wieder nähergekommen. Sophie hilft ihm aus der Misere mit der jungen Christine Hogel und vermittelt nicht zuletzt den Kontakt zu seiner künftigen Ehefrau, der Augsburger Kaufmannstocher Anna Dorothea von Hillenbrand. Mit ihr hat Wieland 13 Kinder – was ihn aber auch in späteren Jahren nicht davon abhält immer wieder aushäusig zu schwärmen und zu schielen.

Doch bringen ihn Ehe und der Familienstand in geistig ruhigere Bahnen und als er 1769 Biberach verlässt, um zunächst einem Ruf an die Universität Erfurt zu folgen und dann, als erster der vier Weimarer Klassiker (Goethe, Herder und Schiller folgten danach) an den Hof von Anna Amalia von Sachsen-Weimar zu kommen, ist er im Grunde ein gemachter Mann: In Weimar lebt er in so gesicherten Verhältnissen, dass seine Produktivität sich vollends entfalten kann. Dort zieht es ihn dann 1798 in ein Gartenhaus weit größerer Dimension als in Biberach: Er will sich auf Gut Oßmannstedt bei Weimar eine „Insel des Friedens und Glücks“ aufbauen. Lang kann er das Gut, in dem ebenfalls ein Wieland-Museum zu finden ist, nicht halten – aber das ist eine andere Geschichte. 1813 stirbt Wieland in Weimar – bis zuletzt schreibend, ein aktives Leben führend, dem Leben zugewandt.

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Vor dem Wieland-Archiv in Biberach.

Weitere Informationen:

Klein, aber fein präsentiert sich das Wieland Museum in Biberach. Die Ausstellung konzentriert sich auf seine Jahre vor Ort und seine Beziehungen nach Warthausen. In einer Hörstation kann man Arno Schmidts Radio-Dialog „Wieland oder die Prosaformen“ lauschen.

Die Wieland-Stiftung Biberach ist auch zuständig für das Wieland-Archiv, eine Forschungsstätte mit rund 16.000 Bänden. Eine Sondersammlung besteht dort zudem zum Werk von Sophie von La Roche.

Bilder zum Download:

Bild 1, Eingang Gartenhaus
Bild 2, Skulptur
Bild 3, Skulptur
Bild 4, Skulptur

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

6 Gedanken zu „Literarische Orte: Wieland unter „abgeschmakten“ Schwaben“

  1. Liebe Birgit,
    die Schilderungen literarischer Orte gelingen Dir immer wieder vortrefflich, hier zusätzlich mit eigenem biografischen Bezug.
    Aus Deinen den bunten Aufnahmen geht hervor, wie Wieland in Biberach gewürdigt wird, wenn er auch zu unseren Schulzeiten nicht zum Lektüre-Kanon gehörte. Vielleicht wurden seine Texte als „nicht jugendfrei“ angesehen?
    Vor längerer Zeit las ich „Musarion oder die Philosophie der Grazien“, Leipzig 1768 mit WiIdmung Warthausen, 1769; herausgegeben von Alfred Anger, Reclam 1964 / 1983.
    Schöne Sommertage und Grüße
    Bernd

    1. Lieber Bernd,
      danke für den netten Kommentar, einmal mehr mit einen schönen Buchtipp verbunden. Da schaue ich mich gern mal antiquarisch um. Viele Grüße Birgit

    1. Liebe Lena,
      danke – genau, Jean Paul, Wieland und vielleicht auch mal wieder den ollen Goethe lesen 🙂

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