Literarische Orte: Wieland unter “abgeschmakten” Schwaben

Nichts wie weg hier: Als Kanzleiverwalter hat Christoph Martin Wieland in Biberach arg gelitten. Dafür umso mehr geschrieben. Ein Besuch in seiner Heimatstadt.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Es geht doch, sagt mir was ihr wollt,
nichts über Wald und Gartenleben,
und schlürfen ein dein trinkbar Gold,
o Morgensonn´, und sorglos schweben
daher im frischen Blumenduft,
und, mit dem sanften Weben
der freyen Luft
als wie aus tausend ofnen Sinnen,
dich in sich ziehn, Natur, und ganz in dir zerrinnen!

Christoph Martin Wieland, „Der Vogelsang, oder die drey Lehren“, in „Der Teutsche Merkur“, März 1778.

In meiner Jugendzeit war das Biberacher Kino ein großer Anziehungspunkt. Der damalige Besitzer zeigte all die Filme, mit denen wir uns als Provinzjugendliche in das freie, wilde Leben hineinsehnen konnten. Legendär die Nachtvorführungen von „Catch 22“, „M*A*S*H“ und Filmen ähnlichen Kalibers, in dem es mehr darum ging, selbst schlaue Sprüche abzusondern denn dem Film zu folgen.

2019_Biberach-92-1024x683Dass genau gegenüber, hinter Bäumen versteckt, jenes Gartenhaus schlummerte, in dem sich knapp 250 Jahre zuvor einer der kommenden Größen der Weimarer Klassik ebenfalls Gedanken machte über Freiheit, Gleichheit und andere Prinzipien der Aufklärung und sich wegsehnte aus der Provinz, davon hatten wir keine Ahnung. Man sah den „Wald vor lauter Bäumen nicht“ – übrigens auch eine der zahlreichen Redewendungen, mit denen dieser Schriftsteller und Aufklärer den deutschen Sprachschatz bereicherte.

Wieland, einer der Großen der Weimarer Klassik

Es ist im Grunde ein pädagogisches Armutszeugnis: Ich kann mich nicht erinnern, dass während meiner Schullaufbahn, die Mitte der 1980er-Jahre endete, nur einmal die Rede gewesen wäre von jenem Klassiker, der nur einen Steinwurf entfernt von unserem Gymnasium geboren worden war. Wieland, der erste der großen vier Weimaraner, der Mann, der den Roman als literarische Form salonfähig machte, der modernen Literatur den Weg bereitete und als Erstübersetzer zahlreiche Werke Shakespeares übertrug und damit in Deutschland erst das „Shakespeare-Fieber“ auslöste, er war in seiner Heimatregion lange vergessen. Inzwischen jedoch wird das Andenken in Oberschwaben vorbildlich gepflegt.

1733 kam der Pfarrersohn Christoph Martin Wieland in Oberholzheim zur Welt, einem kleinen Ort im Landkreis Biberach a. d. Riß, der, wie es sich Wieland später in einem Gedicht wünschte, bis heute „unscheinbar“ blieb:

“Du kleiner Ort, wo ich das erste Licht gesogen,
Den ersten Schmerz, die erste Lust empfand,
Sei immerhin unscheinbar, unbekannt.
Mein Herz bleibt ewig doch vor allen Dir gewogen,
Fühlt überall nach Dir sich heimlich hingezogen,
Fühlt selbst im Paradies sich noch aus Dir verbannt.
O möchte wenigstens mich nicht die Ahnung trügen,
Bei meinen Vätern einst in Deinem Schoß zu liegen.”

Geburtsstube in Oberholzheim

Im evangelischen Pfarrhaus wurde die Geburtsstube Wielands wieder eingerichtet und auf Initiative der Biberacher Wieland-Stiftung die berühmte Löwenzahn-Wiese angelegt:

“Mein Vater wurde durch ein hitziges Fieber ein Vierteljahr außer Stand gesetzt, sein Amt zu versehen; da erinnere ich mich noch, wie der sein Amt indeß vertretende Vicar mich im Käppchen auf die Wiese geführt hat und in den gelben Blumen spielen ließ, wie ich diese Blumen pflückte …”.

Doch schon 1736 wurde der Vater als „Siechenprediger“ in die heutige Kreisstadt Biberach berufen. Der junge Wieland war ein wissbegieriges Kind, lernte schnell und hatte schon als Jugendlicher alle römischen Klassiker gelesen. 1747 kam der Junge auf ein pietistisches Internat bei Magdeburg – bis 1760 kehrte er in seine Heimatstadt nur zu Besuch bei den Eltern zurück, seine Studienwege führten ihn indes unter anderem nach Tübingen und Zürich. Doch kam es 1750 in Biberach zu einer lebensentscheidenden Begegnung: Hier lernte er Sophie von La Roche kennen, ohne die, wie er später gestand, er niemals zum Dichter geworden wäre.

„Ein Blick von Sophie genügt, um alle anderen Frauen aus meinem Herzen auszulöschen.“

Einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit

Dass aus der Verlobung weiter nichts wurde, das lag vor allem an Wielands zögerlichem Hin und Her, der sich in jenen Jahren gerne auch platonisch auf Nebenwege begab. Ein Zimmer im heutigen Wieland Museum in Biberach ist diesen „Frauengeschichten“ gewidmet: So kann man auch spielerisch und doch anspruchsvoll an große Literatur heranführen.

Das Wieland Museum befindet sich im ehemaligen Gartenhaus, das sich Wieland, der 1760 als Kanzleiverwalter nach Biberach zurückkehrte, gemietet hatte, um dort musisch arbeiten zu können. Hier entstanden seine ersten Werke, „Die Geschichte des Agathon“, „Don Silvio von Rosalva, oder der Sieg der Natur über die Schwärmerey“, mit denen er seinen Weg zum bekanntesten und erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit begründete.

Literarisch war Biberach also fruchtbar – zumal er hier auch mit den Shakespeare-Übersetzungen begann und eine der ersten bedeutenden Shakespeare-Aufführungen stattfand. Als Direktor der Evangelischen Komödiantengesellschaft brachte er als Übersetzer und Regisseur 1761 „Der Sturm oder der erstaunliche Schiffbruch“ auf die Bühne. An diesen Meilenstein des deutschen Theaterlebens wird heute an der Fassade des Komödienhauses erinnert, das noch immer in Betrieb ist, als Kleinkunstbühne genutzt wird und Heimstatt des ältesten Amateurtheaters in Deutschland, dem Dramatischen Verein Biberach, ist.

Skandale und Geldnot

Trotz der literarisch erfolgreichen Zeit lässt Wieland jedoch kein gutes Haar an seinem Wohnort: Ihm fehlt der literarische und philosophische Austausch, eine „Mesalliance“ mit einer Katholikin führt zu einem handfesten Skandal und zudem plagen ihn Geldnöte.

„Sogar die Musen sind, vielleicht auf ewig, von mir geflohen, ach! (…) da ich durch einen Fluch, den mir die Götter verzeyhen wollen, meine Zeit, meine Schreibfinger und meine armen Musculos clutaeos dem Dienst der Stadt Biberach verpfändet habe! (…) und bald wird die ansteckende Dummheit einer Raths-Stube den wenigen wäßrichen Geist noch vollends auftroknen, den ihm ein fünfjähriger Auffenthalt unter den unwissendsten, abgeschmaktesten, schwermüthigsten und hartleibigsten unter allen Schwaben noch übrig gelassen haben mag.“

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

(Einschub: In seinen Abderiten greift Wieland die Geschichte von Esels Schatten, die Demosthenes zugesprochen wird, auf: Ein Zahnarzt mietet einen Esel für eine Reise. Als er sich in dessen Schatten legt, will der Besitzer, der ihn begleitet, auch dafür Geld, was zu einem Rechtsstreit führt, den Wieland satirisch zuspitzt. Die Skulptur von Peter Lenk auf dem Biberacher Marktplatz greift dies detailreich auf.)

Sophie von La Roche-Biograph Armin Strohmeyr meint dazu:

„Für Wieland hat die emsige Schriftstellerei auch ein profanes Motiv: Mit ihr versucht er Geld zu verdienen, da ihm die Auszahlung seines Gehalts als Kanzleiverwalter wegen eines Paritätsstreits zwischen katholischer und protestantischer Bürgerschaft vier Jahre lang verweigert wird. Ein Gerichtsverfahren vor der Wiener Reichsverwaltung, bei dem Wieland von Georg Michael La Roche unterstützt wird, zieht sich hin, und Wieland ist gezwungen, sich von Freunden Geld zu leihen. Kein Wunder, dass ihm die Arbeit im Amt sauer wird.“ 

Armin Strohmeyr, “Das Leben der Sophie von La Roche”, 2019

Ja, richtig gelesen: Geholfen wird Wieland vom Ehemann seiner ehemaligen Verlobten. Das Paar lebte inzwischen in Schloss Warthausen bei Anton Heinrich Friedrich Graf von Stadion, einem Wegbereiter der Aufklärung am kurfürstlichen Hof in Mainz. Man war sich – Warthausen liegt bei Biberach – also räumlich und auch persönlich wieder nähergekommen. Sophie hilft ihm aus der Misere mit der jungen Christine Hogel und vermittelt nicht zuletzt den Kontakt zu seiner künftigen Ehefrau, der Augsburger Kaufmannstocher Anna Dorothea von Hillenbrand. Mit ihr hat Wieland 13 Kinder – was ihn aber auch in späteren Jahren nicht davon abhält immer wieder aushäusig zu schwärmen und zu schielen.

Doch bringen ihn Ehe und der Familienstand in geistig ruhigere Bahnen und als er 1769 Biberach verlässt, um zunächst einem Ruf an die Universität Erfurt zu folgen und dann, als erster der vier Weimarer Klassiker (Goethe, Herder und Schiller folgten danach) an den Hof von Anna Amalia von Sachsen-Weimar zu kommen, ist er im Grunde ein gemachter Mann: In Weimar lebt er in so gesicherten Verhältnissen, dass seine Produktivität sich vollends entfalten kann. Dort zieht es ihn dann 1798 in ein Gartenhaus weit größerer Dimension als in Biberach: Er will sich auf Gut Oßmannstedt bei Weimar eine „Insel des Friedens und Glücks“ aufbauen. Lang kann er das Gut, in dem ebenfalls ein Wieland-Museum zu finden ist, nicht halten – aber das ist eine andere Geschichte. 1813 stirbt Wieland in Weimar – bis zuletzt schreibend, ein aktives Leben führend, dem Leben zugewandt.

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Vor dem Wieland-Archiv in Biberach.

Weitere Informationen:

Klein, aber fein präsentiert sich das Wieland Museum in Biberach. Die Ausstellung konzentriert sich auf seine Jahre vor Ort und seine Beziehungen nach Warthausen. In einer Hörstation kann man Arno Schmidts Radio-Dialog “Wieland oder die Prosaformen” lauschen.

Die Wieland-Stiftung Biberach ist auch zuständig für das Wieland-Archiv, eine Forschungsstätte mit rund 16.000 Bänden. Eine Sondersammlung besteht dort zudem zum Werk von Sophie von La Roche.

Bilder zum Download:

Bild 1, Eingang Gartenhaus
Bild 2, Skulptur
Bild 3, Skulptur
Bild 4, Skulptur

Theresia Enzensberger: Blaupause

Ein Roman über die allmähliche Emanzipation einer jungen Studentin am Bauhaus. Ein sachlicher Bericht – passend zum Stil der Bauhaus-Architektur.

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Das Bauhaus in Dessau 2019. Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Besonders interessiert sie sich für mein Siedlungsprojekt. Bereitwillig erkläre ich ihr, was ich vorhabe, verliere mich manchmal im Fachjargon und bemerke zum ersten Mal, wie viel ich im letzten Jahr gelernt habe und wie durchdacht mein Konzept mittlerweile ist. Als sie nach der potenziellen Verwirklichung meiner Pläne fragt, erzähle ich ihr von meiner kläglichen Präsentation, von meiner Unterhaltung mit Meyer und von meinen Selbstzweifeln. Es tut gut, dass da jemand ist, der mir zuhört und mich ernst nimmt.

„Davon solltest du dich nicht aus der Bahn werfen lassen“, sagte Helene. „Weißt du, die Männer haben es wirklich nicht gerne, wenn wir Frauen in ihren Gebieten wildern. Und die Architektur ist nun einmal ein Hoheitsgebiet, auf das die Männer besonders Anspruch erheben. Frauen, die Häuser bauen, das können die sich gar nicht vorstellen.“

Theresia Enzensberger, „Blaupause“

Selten geht es mir mit Romanen so wie mit diesem: Ich hatte ihn schon abgebrochen, enttäuscht zur Seite gelegt. Ich sah mich in meinen Erwartungen getäuscht – einen, „den“ Roman über die Frauen am Weimarer Bauhaus wollte ich finden und stieß zunächst auf einen ein wenig biederen, fast schon naiv klingenden Sprachstil, auf eine Erzählung, die sich irgendwo zunächst zwischen Coming of Age- und Campusroman einpendelte. Junge, wohlbehütete Frau kommt an Hochschule, betrachtet mit großen, runden Augen den Trubel dort, verliebt sich, entliebt sich, blättert nach und nach Konventionen ab.

Wem es zunächst beim Lesen so ergehen wird wie mir, dem rate ich zur Geduld – das Buch entpuppt sich nach und nach, analog zur Entwicklung seiner Hauptfigur, denn doch noch zu einer guten, fesselnden Lektüre. Es ist beinahe, als sei das Buch auch qualitativ in die zwei Zeitabschnitte, die es umfasst – Weimar 1921 und Dessau 1926 – gesplittet.

Wie Luise sagt:

„Mein eigener Groschenroman wird immer abstruser, aber am Ende steht immer der glückliche Ausgang, der eines solchen Romans würdig ist.“

Frauen erst an zweiter Stelle

Luise, wohlbehütete Unternehmerstochter aus Berlin, setzt sich 1921 gegen ihre Eltern durch: Sie will partout Architektur studieren, am „Staatlichen Bauhaus in Weimar“ von Walter Gropius, dem Pionier der „neuen Sachlichkeit“ in der Architektur. Bald wird die junge Frau von der Bauhaus-und Universitäts-Realität eingeholt: Im Fachbereich Architektur sind die männlichen Studenten tonangebend, allgemein ist das Bauhaus – trotz seiner gesamtgesellschaftlichen künstlerischen und sozialen Ansätze – eine Welt der Männer.

„Wie die Kunsthistorikerin Anja Baumhoff im Detail dargelegt hat, reichten die Vorstellungen am Bauhaus von der Zuordnung von Dreieck, Rot und Geist zu Männlichkeit und Quadrat, Blau, Materie zu Weiblichkeit (Gropius) über die Behauptung, Frauen sei zweidimensionales Sehen angeboren, und sie sollten daher lieber in der Fläche arbeiten (Itten), bis hin zu der Überzeugung, dass Genie männlich sei (Klee) und Schöpfertum generell mit Männlichkeit identisch sei (Schlemmer, Kandinsky).“

Ulrike Müller führt dies in ihrem Buch „Bauhaus-Frauen“, 2009 im Elisabeth Sandmann Verlag, später als „insel taschenbuch“ erschienen, aus – eine Lektüre-Empfehlung für alle, die sich einen ersten Überblick über die großartigen Bauhaus-Künstlerinnen verschaffen wollen. Während man bis heute diese Bewegung mit den Namen Gropius, Klee, Schlemmer, van der Rohe verbindet, sind die Bauhaus-Künstlerinnen weniger bekannt, wenn nicht gar vergessen: Ein Schicksal, das auch Luise Schilling, von der Theresia Enzensberger erzählt, widerfuhr.

Um einige Träume ärmer

Wie Luise mehr und mehr die Mechanismen erkennt, die dazu beitragen, dass auch am Bauhaus (an dem von Gropius in dessen ersten Ansprache „absolute Gleichberechtigung“ proklamiert wurde) geschlechtsspezifische Hierarchien vorherrschen (Frauen teilt man gerne der Webklasse zu), das flicht Theresia Enzensberger ganz sachlich, ruhig, fast schon unterschwellig in diesen Entwicklungsroman ein. Es ist die Erzählung einer allmählichen Emanzipation und Desillusionierung zugleich: Luise erlebt einen Ausbruch körperlicher Gewalt ihres Freundes, sie erlebt wie Gropius, der sie in ihren Arbeiten an einer Wohnsiedlung unterstützt, ihre Ideen als seine vereinnahmt. Das Buch endet mit einer Frau, die um viele Träume weniger, aber um einige Erfahrungen reicher dem Bauhaus ihren Rücken zukehrt.

„Blaupause“ ist jedoch mehr als die Entwicklungsgeschichte einer einzelnen Frau – der Roman dient mit seinen Schilderungen der Utopien und Ideen, die am Bauhaus herrschten, sowie der gesellschaftlichen Umbrüche, die die Weimarer Republik prägten zugleich auch als Blaupause für heutige Zu- und Umstände.

Pointe der Geschichte: Dem Roman sind einige Dokumente angehängt. Luise Schilling, die in die USA ausgewandert war, arbeitete in der New Yorker Stadtplanung. Sie hatte unter anderem die Entwürfe für das Pan-Am-Gebäude zu prüfen. 1959 schreibt sie:

„Und so begegne ich also Gropius wieder. Oder, besser gesagt, seinen Ideen. Mein erster Impuls dabei: ein niedriger. Wenn ich schon die Gelegenheit habe, Gropius bei seinem ersten Projekt in New York einen Strich durch die Rechnung zu machen, warum sollte ich sie nicht ergreifen?“

Sie tut es nicht, bleibt gelassen und souverän, obwohl in ihren Augen das Gebäude das ist, „was den Leuten inzwischen als modern gilt: höher, größer, phallischer.“

„Blaupause“ ist ein Roman, der erst mit der Zeit ein gewisses Tempo entwickelt. Dann aber liest man sich auch mehr und mehr in diese konventionell anmutende Schreibweise von Theresia Enzensberger ein. In einigen Besprechungen wurde der Stil kritisiert – für mich wurde er nach und nach stimmiger. Ein sachlicher Bericht – ganz wie er zum Stil des Bauhauses passt.

Informationen zum Buch:

Theresia Enzensberger
Blaupause
Hanser Verlag, 2017
ISBN: 978-3-446-25763-4


Johann Wolfgang von Goethe – Freudvoll und leidvoll

“Clärchens Lied” ist Bestandteil des Trauerspiels “Egmont”. Für Marcel Reich-Ranicki war es gar das “vollkommenste erotische Gedicht” deutscher Sprache.

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Goethe-Graffiti in Weimar. Bild: Birgit Böllinger

Freudvoll
und leidvoll,
gedankenvoll sein,
Langen
und bangen
in schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
zum Tode betrübt,
Glücklich allein
ist die Seele, die liebt.

Johann Wolfgang von Goethe

“Clärchens Lied” ist Bestandteil des Trauerspiels “Egmont”, das Goethe 1787 vollendete. Für Marcel Reich-Ranicki, der es in der “Frankfurter Anthologie” besprach, war es gar das “vollkommenste erotische Gedicht” deutscher Sprache:

Johann Wolfgang von Goethe – Erinnerung

“Erinnerung” erschien erstmals 1827 in “Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand”. Ein Alterswerk…

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Auch hier kam Goethe zur Ruhe: In seinem Gartenhaus in Weimar. Bild von Till Voigt auf Pixabay

Willst Du immer weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah.
Lerne nur das Glück ergreifen,
Denn das Glück ist immer da.

Ein Alterswerk des Dichters. Da war er vielleicht des Schweifens müde geworden. Musste sich selbst versichern, dass Sturm und Drang nicht alles ist. Da fand er innere Ruhe in seinen Gärten am Frauenplan und im Gartenhaus, das auch heute noch im Park an der Ilm besichtigt werden kann. Das Gartenhaus war 1776 Goethes erster eigener Wohnsitz in Weimar. Hier schrieb er die Ballade vom „Erlkönig“ und das Gedicht „An den Mond“.

Ein weiterer Rückzugsort, ein Ruheort inmitten der kleinen Kleinstadt mit großer Geschichte: Die Gärten beim Kirms-Krackow-Haus in Weimar. Franz Kirms war mit Goethe in der Intendanz des Nationaltheaters. Im Alter von 73 – offenbar hielt die Weimarer Luft die Herren gesund – heiratete er die wesentlich jüngere Caroline Krackow. Sie machte das Haus zu einem gesellschaftlichen Treffpunkt.

Heute ist ein kleines Museum dort zu sehen – aber vor allem bestechend sind die biedermeierlichen Gärten. Dazu gehörend ein kleines Café – man merke sich die Nummern auf den Blumentöpfen am Tisch beim Bestellen. Sonne, Kaffee und Kuchen: Da ist das kleine Glück dann für einen Moment ganz greifbar.
Mehr zum Kirms-Krackow-Haus unter diesem Link.

Literarische Orte: Die gute Stube von Goethe, Schiller, Herder und Wieland

Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, durch Feuer fast zerstört, von Bürgern gerettet. Ein Ort, der fasziniert.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Zu gerne hätte ich da einmal ein Gespräch belauscht, wenn sich Goethe, Schiller, Herder und Wieland in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar zum plaudern und philosophieren getroffen haben. Ging es wirklich immer hochgeistig zu unter dem „Vierergestirn der Weimarer Klassik“?

Oder wurde auch mal was ganz Profanes besprochen? So etwa:

Goethe: „Jungs, mir brummt der Schädel. Zuviel von diesem württembergischen Rotwein gestern abend beim Diner getrunken. Mensch, Friedrich, warum bringen eure Winzer solche Hinternzwicker auf den Markt?“

Schiller: „Sauer macht lustig. Obwohl Eure Dekadenz, da Ihr das Vierfache meines Salärs genießt, auch zu diesem teuren französischen Schaumwein greifen könntet.“

Wieland: „Papperlapapp. Nix goat iebr a guats Bierle aus Oberschwaba.“

Herder: „Aber meine Herren! Bedenkt wo wir sind! Doch kann ich zu späterer Stunde gerne einige Heilkräuter aus meinem Gärtlein beibringen, die das Kopfweh unseres lieben Goethes etwas mildern werden. Im Allgemeinen rate ich Ihrer Exzellenz jedoch zu mehr Zurückhaltung bei geistigen Getränken – dies tut auch unseren geistigen Dingen gut.“

Anna Amalia Bibliothek in Weimar

Jetzt aber ernsthaft, angemessen und würdig: Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek gehört bei einem Weimar-Besuch natürlich zum Pflichtprogramm. Als Tipp: Wer in erster Linie den berühmten Rokokosaal sehen will, sollte sich möglichst vormittags eine Karte besorgen – mehr als 290 Besucher täglich werden nicht eingelassen, die letzten Eintrittskarten kann man um 14.30 Uhr kaufen.

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Die Bibliothek von außen. Bild: Klassik Stiftung Weimar

Doch selbst wenn man inmitten einer Schülergruppe (bei denen die Laune der Einzelnen  zwischen Aufgekratztheit und motziger Langeweile pendelt) in Filzpantoffeln über den Parkettboden schlurfen muss – selbst unter solchen Umständen bekommt man einen Begriff davon, welcher Geist hier einmal herrschte: Sicher weitaus ehrwürdiger als es in meinen Gedankenspielen zuging.

Nebst Bildern von Geistesgrößen, die hier debattierten, geht mir auch ein anderes Bild nicht aus dem Kopf: Das der Weimarer Bürger, die in der Nacht vom 2. auf 3. September 2004 zu „ihrer“ Bibliothek eilten, Ketten bildeten und Bücher von Hand zu Hand reichten, um diese vor den Flammen zu retten. Ein technischer Defekt hatte den Brand ausgelöst, über 50.000 Bücher gingen für immer in den Flammen verloren.

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Der Rokokosaal. Bild: Klassik Stiftung Weimar

Was bringt Menschen dazu, Bücher zu retten? Warum wird in den Nachrichten davon berichtet, wenn in Kriegen Kulturgüter zerstört werden? Warum setzen sich Menschen für den Erhalt von Baudenkmälern ein?

Der Wert des Weltkulturerbes

Vielleicht, weil es unser menschlicher Wunsch ist, etwas zurückzulassen, Zeichen zu setzen – nicht umsonst heißt es „Weltkulturerbe“: Generation um Generation vergeht, der Einzelne verschwindet aus dem Gedächtnis der Menschheit – aber die Gebäude, die Bilder, von Menschenhand geschaffen, die Gedanken, zwischen Bücherdeckel gepresst, bleiben zurück. Und vor allem Bücher sind Symbole der Freiheit. Das gedruckte Wort: Es machte Wissen zugänglich. Eröffnete Bildungschancen (wobei laut Bertelsmann-Stiftung in Deutschland dies immer noch stark – viel zu stark – mit der sozialen Herkunft verknüpft ist).

Der Buchdruck, die Bücher – sie sind eine Frucht der Freiheit. Und so behält leider auch das berühmte Heine-Wort „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“ bis in unsere Tage seine Gültigkeit: Kulturgüter zerstören jene, die die Freiheit hassen. Umso schöner, wenn, wie in Weimar 2004 geschehen, Menschen dazu beitragen, ihre Kulturschätze zu retten.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay