Die Spiritualität Haitis: Kettly Mars‘ erster Roman Kasalé endlich auf Deutsch

Kettly Mars ist eine der bekanntesten Gegenwartsautorinnen aus Haiti, deren Werke zahlreiche Übersetzungen erfuhren. Höchste Zeit also, dass auch ihr Debütroman endlich in deutscher Sprache vorliegt. Übersetzt durch Ingeborg Schmutte entführt „Kasalé“ (2003) in die vom Voodoo geprägte Welt haitianischer Frauen.

Der Roman Kasalé, im Original 2003 erschienen, ist das Produkt einer spirituellen Suche der Autorin nach ihren Wurzeln. Kettly Mars, die sich bereits als Lyrikerin einen Namen gemacht hatte, etablierte sich damit auch als Erzählerin. Mars, die inzwischen zu den bekanntesten literarischen Stimmen Haitis zählt, lehrt derzeit als Gastdozentin an der ETH Zürich. Sie ist am 10. Mai 2024 bei den Literaturtagen Solothurn und am 29. Mai im Literaturhaus Zürich bei Lesungen zu erleben. Nähere, laufend aktualisierte Angaben auf www.litradukt.de

Zum Buch:

In dem kleinen Dorf Kasalé bewahrt Antoinette, genannt Gran’n, Großmutter, die althergebrachten Praktiken und Riten. Um sie herum andere, jüngere Frauen: Nativita, Altagrâce, Esther und vor allem Sophonie, die „auf dem Höhepunkt des Regenschauers in andere Umstände fiel“. Antoinette hat in ihr diejenige erkannt, die ihr nachfolgen soll, aber Sophonie zögert und begreift auch erst nach und nach, was es mit dem Kind auf sich hat, das sie erwartet.

Antoinette fühlt ihr Ende nahen, aber bevor sie „nach Guinea heimkehrt“, muss das vom Sturm zerstörte Haus der Mysterien, der Geister der Voodoo, wieder aufgebaut werden. Das Projekt droht die Gemeinschaft zu entzweien, denn viele Bewohner haben sich von den Mysterien abgewendet.

Kettly Mars‘ erster Roman erzählt in der Tradition des magischen Realismus von der Welt des ländlichen Haiti, seinen Traditionen, von der tragenden Rolle, die Frauen darin spielen, und von den Konflikten mit der vermeintlich modernen Welt. Er liegt nun erstmals in deutscher Sprache vor.


Stimmen zum Buch:

„Bei Kettly Mars verdichten sich metaphorische Sinnlichkeit und magischer Animismus zu einer poetisch aufgeladenen Romanwirklichkeit.“ – Cornelius Wüllenkemper, FAZ, 29.4.2024

„Wer sich für realistische Schilderungen zu begeistern mag und auch vor ein bisschen Magie nicht zurückschreckt, ist mit diesem Roman gut bedient. Er macht Lust auf mehr. Auf mehr von Kettly Mars und auf mehr aus Haïti.“ – Paul Hübscher, litteratur.ch


Links:

– Kettly Mars stellt Kasalé im Video vor (auf Französisch): https://www.youtube.com/watch?v=BthiFQz8R0A

– Besprechung von Die zwielichtige Stunde von Daniel Fuchs in Saiten: https://www.saiten.ch/sinnliche-ecriture/

– Besprechung von Fado, Margrit Klingler-Clavijo, Deutschlandfunk:
https://www.deutschlandfunk.de/aus-trennungsschmerz-destillierte-schoenheit-100.html

– Besprechung von Wilde Zeiten, Thomas Wörtche, culturmag.de: https://culturmag.de/rubriken/buecher/kettly-mars-wilde-zeiten/53202

– Besprechung von Der Engel des Patriarchen, Fritz Göttler, SZ: https://www.sueddeutsche.de/kultur/horrorpolitik-auf-haiti-tastatur-daemonen-1.4692976


Zur Autorin:

Kettly Mars, geboren 1958 in Port-au-Prince, kann als eine der wichtigsten Gegenwartsautorinnen Haitis gelten. Ab den Neunzigerjahren wurde sie als Lyrikerin bekannt, später, durch Kasalé (2003) auch als Romanautorin. L’heure hybride (2005, dt. Die zwielichtige Stunde, Litradukt 2020) bedeutete ihren internationalen Durchbruch. Bei Litradukt erschienen außerdem Fado (2010), Wilde Zeiten (2012), Vor dem Verdursten (2013) und Der Engel des Patriarchen (2019).

Kettly Mars erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter den niederländischen Prins-Claus-Preis und war mehrfach auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger vertreten.                       


Zum Buch:

Kettly Mars
Kasalé
Aus dem Französischen von Ingeborg Schmutte
Softcover, 211 Seiten
18,00 Euro
Litradukt Verlag, Trier
ISBN 978-3-940435-48-4
Erscheinungstermin: 15. April 2024


Der Verlag:

Litradukt, gegründet 2006, seit 2012 in Trier ansässig, ist ein auf karibische Literatur spezialisierter Kleinverlag. Litradukt hat Autoren wie Georges Anglade, Kettly Mars oder Gary Victor dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht, oft in Erstübersetzungen. Litradukt-Autorinnen und -Autoren waren auf der Krimibestenliste der ZEIT oder der Litprom-Bestenliste „Weltempfänger“ vertreten und gehörten zu den Gewinnern des Internationalen Literaturpreises des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin.

Litradukt, Literatureditionen Manuela Zeilinger-Trier
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www.litradukt.de


Weitere Informationen & Downloads:

MeinKlassiker (39): Kommunikatives Lesen mit Max Frisch

Alexander Carmele von „Kommunikatives Lesen“ stellt in der Reihe „Mein Klassiker“ einen Roman von Max Frisch vor. „Was macht ihr mit der Liebe“ war zunächst der Arbeitstitel, als „Stiller“ wurde das Buch zu einem Publikumserfolg und brachte Frisch den Durchbruch als Schriftsteller.

Seit 2021 bloggt Alexander Carmele bei „Kommunikatives Lesen über Literatur. Was seine Beiträge ausszeichnet, ist die tiefgehende Auseinandersetzung mit den einzelnen Werken, die durchaus auch manchmal zu mehrteiligen Interpretationen führen kann, siehe zuletzt der „Dreiteiler“ zu „Unendlicher Spaß“ von David Forster Wallace.
Über sich selbst sagt Alexander: „Ich blogge, um die Lesefreude mit anderen zu teilen und, so es geht, meine eigene und die der anderen durch Querverweise zu vertiefen. Ich blogge also aus reinem Privatvergnügen und bin erstaunt und auch beglückt, über die schöne Wechselwirkung und friedlich-freundliche Umgangsweise in der Literatur-Bloggerwelt.“
Sein Klassiker ist „Stiller“ von Max Frisch: „In Stiller wirft er alles, was ihm als Schriftsteller zur Verfügung steht, in die Waagschale.“


Ein Gastbeitrag von Alexander Carmele

Mit Stiller gelang Max Frisch 1954 der Durchbruch als Schriftsteller, nachdem er bereits einige Prosatexte (u.a. Jürg Reinhart, Antwort aus der Stille) und Theaterstücke (u.a. Santa Cruz, Nun singen sie wieder, Die Chinesische Mauer) veröffentlicht hatte, die zwar allesamt vom Fachpublikum positiv aufgenommen, von der größeren Öffentlichkeit aber eher ignoriert wurden. Stiller dagegen wurde auf Anhieb ein Erfolg und war Suhrkamps erster Roman mit Millionenauflage. Er verhandelt die zentrale Frage, wie sich Individuen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft gegenübertreten, wie sie kommunizieren, lieben, zu lieben versuchen, dabei scheitern oder erfolgreich sind, und beleuchtet damit literarisch das von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre aufgeworfene Problem von Essenz und Existenz:

Ja; – wer denn soll lesen, was ich in diese Hefte schreibe! Und doch, glaube ich, gibt es kein Schreiben ohne die Vorstellung, daß jemand es lese, und wäre dieser Jemand nur der Schreiber selbst. Dann frage ich mich auch: Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu spielen? Man will sich selbst ein Fremder sein. Nicht in der Rolle, wohl aber in der unbewußten Entscheidung, welche Art von Rolle ich mir zuschreibe, liegt meine Wirklichkeit. Zuweilen habe ich das Gefühl, man gehe aus dem Geschriebenen hervor wie eine Schlange aus ihrer Haut. Das ist es; man kann sich nicht niederschreiben, man kann sich nur häuten.
[Max Frisch aus: „Stiller“]

Inhalt/Plot:

Ein Ich-Erzähler findet sich in Untersuchungshaft wieder. Er, ein James Larkin White, wird für Anatol Ludwig Stiller gehalten, ein bekannter Zürcher Bildhauer und Ehemann von der Ballerina Frau Julika Stiller-Tschudy, der plötzlich und verdächtigerweise im Zusammenhang mit einer gewissen Smyrnow-Affäre vor sechs Jahren spurlos verschwunden ist. Der Ich-Erzähler bestreitet vehement mit Stiller identisch zu sein:

Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat […]

So beginnt der Roman. Der Ich-Erzähler schreibt Hefte mit seiner Geschichte und seinen Erlebnissen voll, die während der Untersuchungshaft stattfinden, und versucht sich gegen die Vorwürfe und Vorstellungen seiner Mitmenschen zu wehren, die in ihm besagten Stiller sehen und Erklärungen, Entschuldigungen und auch Geld erwarten. Vordergründig wird der Ich-Erzähler wegen seiner zweifelhaften Papiere festgehalten, hintergründig wegen der staatsgefährdenden Smyrnow-Affäre, im Grunde aber spielt sich ein Ehedrama im Züricher Gefängnis ab, als nämlich Julika aus Paris eintrifft und dem Ich-Erzähler Ausgang gewährt wird:

Bild von NoName_13 auf Pixabay

Sie glaubte wohl, sie könnte mich wie ihren Stiller behandeln, und einen Augenblick lang hatte ich Lust, aus purem Trotz einen weiteren Whisky zu trinken. Ich tat es nicht. Denn Trotz ist das Gegenteil von wirklicher Unabhängigkeit. Ich lächelte. Sie tat mir leid. Ich begriff: ihr ganzes Verhalten bezieht sich nicht auf mich, sondern auf ein Phantom, und einmal mit ihrem Phantom verwechselt (denn wahrscheinlich hat es den Mann, den sie sucht, gar nicht gegeben!), ist man einfach wehrlos; sie kann mich nicht wahrnehmen. Schade! dachte ich.

Einerseits hingerissen, andererseits von Julika abgestoßen beginnt ein Wechsel- und Versteckspiel zwischen dem, was der Ich-Erzähler sein will, und dem, was seinen Mitmenschen und insbesondere Julika in ihm sehen, denn die Fußstapfen Stillers, in die er treten soll, sind alles andere als angenehm:

Irgendwie muß es mit diesem kleinen, geradezu winzigen und von Julika längst vergessenen Ausspruch [dass Sex sie etwas ekle] zusammenhängen, daß Stiller sich als ein stinkiger Fischer mit einer kristallenen Fee vorkam. Der Ausspruch fiel in ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Offenbar war Stiller nicht nur eine Mimose, ein Mann von krankhafter Ich-Bezogenheit und entsprechender Empfindlichkeit, so daß er Worte, die Julika möglicherweise jedem Mann hätte sagen können, ganz und gar auf sich bezog; er war obendrein auch noch ein Wiederkäuer, und das war für die arme Julika oft einfach unerträglich.

Vor allem wegen einer sich ankündigenden Tuberkulose entzieht sich Julika Stillers Liebeswünschen. Sie schiebt den Arztbesuch Monate auf, aus Angst, krankgeschrieben und aufs Sanatorium geschickt zu werden, was ihre Karriere als Tänzerin gefährden würde. Stiller fühlt sich übergangen, trinkt, ist frustriert und beginnt eine Affäre mit Sibylle, die er auf einem Maskenball und durch den Architekten Sturzenegger kennenlernt. Julika beginnt nach mehreren Wochen seine Untreue zu ahnen. Als sie irgendwann doch zum Arzt und nach Davos ins Sanatorium muss, schreibt Stiller weder Briefe noch kommt er zu Besuch. Er plant mit seiner Geliebten, Sibylle, nach Paris zu ziehen, was aber daran scheitert, dass Stiller bei seinem ersten Besuch auf Davos es nicht schafft, sich von Julika, die ihrerseits über ihr Karriereende trauert, zu trennen, obwohl diese ihn direkt auf seine Affäre anspricht:

»Wie geht es deiner – Dame?« fragte sie.
»Wen meinst du?« fragte er.
»Bist du noch immer verliebt in sie?«
In der Tat, Julika machte es ihm so leicht wie möglich, doch Stiller war ein fertiger Feigling; kein Wort davon, daß er die Dame [Sibylle] (wie sich später einmal herausstellen sollte) fast täglich traf. Er blickte Julika bloß an, schwieg.

Stiller enttäuscht Julika und auch Sibylle, die ihrem Ehemann Rolf bereits alles gestanden und für die Reise nach Paris alles vorbereitet hat. Rolf fährt daraufhin einige Tage nach Genua, kehrt aber zurück und entscheidet sich, wie Julika, die Affäre von Stiller und Sibylle auszusitzen. Als Stiller kurz darauf aus beruflichen Gründen doch in Paris weilt und Sibylle einlädt, platzt dieser der Kragen und lässt das Kind, das sie von Stiller erwartet heimlich abtreiben. Statt aber gemeinsam mit ihrem Ehemann in das neue, von Stillers Freund Sturzenegger geplante und gebaute Haus, umzuziehen, reist sie nach Pontresina, wo sie sich mit Stiller trifft und ihn ob seiner Armut und seiner Unmännlichkeit vor allen Leuten lächerlich macht:

Und dann, nachdem [Sibylle] fast nur mit einem Blick ›ihr‹ Filet Mignon bestellt hatte, nötigte sie den hilflosen Stiller, Schnecken zu essen, worauf Stiller ein wenig zweifelte, ob Schnecken und Châteauneuf-du-Pape zusammenpaßten; Stiller hatte noch nie Schnecken gegessen, wie er gestehen mußte, und kam sich minderwertig vor, also zu einer widersprechenden Meinung kaum berechtigt. […]  Stiller blickte sie an wie ein Hund, der die menschliche Sprache nicht versteht, und es fehlte wenig, daß Sibylle ihn gestreichelt hätte wie einen Hund. Sie tat es nicht, um keine Hoffnungen zu stiften.

Nachdem Treffen in Pontresina reist Stiller, ohne Sibylle Bescheid zu geben, kurzerhand nach Davos, gibt Julika seine Trennung von Sibylle bekannt und trennt sich auch von ihr, kehrt nach Pontresina zurück, übergibt Sibylle ein Geschenk aus Paris, aber ihre Beziehung lässt sich nicht mehr retten, zumal Sibylle ihm während seiner Abwesenheit untreu gewesen ist. Stiller verschwindet, und Sibylle beschließt in die USA zu ziehen und auf eigenen Füßen zu stehen, indes Julika völlig genest und mit einem Kollegen eine Tanzschule in Paris eröffnet. All dies wird dem Ich-Erzähler durch Julika, Rolf, den Staatsanwalt, und Sibylle zugetragen und von diesem nacherzählt. Doch der Ich-Erzähler besteht immer noch darauf, nicht Stiller zu sein:

Es ist schwer, nicht müde zu werden gegen die Welt, gegen ihre Mehrheit, gegen ihre Überlegenheit, die ich zugeben muß. Es ist schwer, allein und ohne Zeugen zu wissen, was man in einsamer Stunde glaubt erfahren zu haben, schwer, ein Wissen zu tragen, das ich nimmer beweisen oder auch nur sagen kann. Ich weiß, daß ich nicht der verschollene Stiller bin. Und ich bin es auch nie gewesen. Ich schwöre es, auch wenn ich nicht weiß, wer ich sonst bin. Vielleicht bin ich niemand.

Aber sechs Jahre, so schreibt Max Frisch in Stiller, reichen nicht aus, um sich völlig von seiner Vergangenheit zu befreien, und so holt sie ihn unverändert ein.

Stil/Sprache/Form:

Max Frischs Stil strebt keine Besonderheit an. Seine Erzählweise lebt mehr von Rhythmus, von Themenwahl und von der Behandlung derselben, von den Akzenten, die er setzt, von der Komposition, mit der er zwischenmenschlichen Problemen nachspürt, von diesem zirkelnden, sich wiederholenden, sich immer tiefer bohrenden Bestreben zu erkennen, was sich hinter den Masken der Menschen verbirgt. In Stiller wirft er alles, was ihm als Schriftsteller zur Verfügung steht, in die Waagschale. In anderen Romanen und Texten kehren einzelne Momente wieder. In Stiller sind sie alle miteinander vereint und verknüpft. Auch lässt er sich in seinem längsten Roman Zeit für panoramahafte Beschreibungen, wie Rolfs Blick aus der Rainbow Bar im Rockefeller Center:

Manchmal jagen Schwaden von buntem Nebel vorbei, als sitze man auf einem Berggipfel, und eine Weile lang gibt es kein Neuyork mehr; der Atlantik hat es überschwemmt. Dann ist es noch einmal da, halb Ordnung wie auf einem Schachbrett, halb Wirrwarr, als wäre die Milchstraße vom Himmel gestürzt. Sibylle zeigte ihm die Bezirke, deren Namen er kannte: Brooklyn hinter einem Gehänge von Brücken, Staten Island, Harlem. Später wird alles noch farbiger; die Wolkenkratzer ragen nicht mehr als schwarze Türme vor der gelben Dämmerung, nun hat die Nacht gleichsam ihre Körper verschluckt, und was bleibt, sind die Lichter darin, die hunderttausend Glühbirnen, ein Raster von weißlichen und gelblichen Fenstern, nichts weiter, so ragen oder schweben sie über dem bunten Dunst, der etwa die Farbe von Aprikosen hat, und in den Straßen, wie in Schluchten, rinnt es wie glitzendes Quecksilber.

Der größtenteils psychologisch schreibende Frisch hält in Stiller viele solcher pittoresken Szenen bereit: In Mexiko auf dem Friedhof zum Totentag und auf dem Marktplatz, die Wüsteszene, der Brand im Sägebergwerk, die Alpen, Pontresina, der sanfte Kampf um Aufmerksamkeit mit der Katze Little Grey. In vielen Szenen, aus verschiedenen Perspektiven wird die Welt von Stiller und Julika, von Sibylle und Rolf lebendig. Vor allem trägt dazu bei, dass die Welt je aus den Augen der handelnden Figuren beschrieben wird, sowohl die Gefühle, wie die Gespräche, wie die Umgebung bekommen eine eigene Färbung und Wirklichkeit.

Die unselige Begegnung in seinem Büro – nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus – wurde von seiner Frau natürlich etwas anders erlebt, als Rolf, mein Staatsanwalt, sie dargestellt hat; nicht von ihr (so versicherte Sibylle) ging das verstockte Schweigen aus, sondern von ihm. […] Es war nicht Rolf, es war eine Maske, die ihr lächerlich vorkam. »Du mußt tun, was du für richtig hältst«, sagte er nochmals, öffnete die Türe und ließ sie durchs Vorzimmer gehen, begleitete sie höflich zum Lift – Nun mußte sie also nach Pontresina.

Die Eheprobleme der vier Personen, die sich verwickeln, sich gegenseitig voller Misstrauen, aber auch voller Liebe und Freundschaft begegnen, das Auf und Ab, das niemand versteht, niemand begreift, bildet das literarische Zentrum des Romans. Sie wollen sich im Grunde nichts Böses. Sie neiden sich nicht einmal viel, bleiben nicht lange eifersüchtig. Stiller, die Figur, spricht zwar nie, aber auch für ihn, den eifersüchtigsten von allen, gilt, dass er lieber Frieden als Streit will, lieber zurücksteht, als auf ein vermeintliches Recht bestehen würde. Das ausgeklügelte Acht-Augen-Gespräch führt eine Utopie vor Augen, wie nachsichtig, geduldig sich Menschen begegnen könnten. Es kreiert ein vollständiges Bild, gerade indem es Lücken und Leerstellen, Pausen lässt. Die Beziehungen werden lebendig, durch den Freiraum, den der Ich-Erzähler den Figuren schafft, ohne jedoch narrativ gewollte Unklarheiten, vermeintliche Spannungsbögen zu erzeugen. Alles ist klar. Nur nichts ist einfach. Um dies zu unterstreichen, unterbricht Frisch die Erzählfragmente noch mit Phantastereien.

Ich sitze in meiner Zelle, Blick gegen die Mauer, und sehe die Wüste. Beispielsweise die Wüste von Chihuahua. Ich sehe ihre große Öde voll blühender Farben, wo sonst nichts anderes mehr blüht, Farben des glühenden Mittags, Farben der Dämmerung, Farben der unsäglichen Nacht. Ich liebe die Wüste. Kein Vogel in der Luft, kein Wasser, das rinnt, kein Insekt, ringsum nichts als Stille, ringsum nichts als Sand und Sand und wieder Sand, der nicht glatt ist, sondern vom Winde gekämmt und gewellt, in der Sonne wie mattes Gold oder auch wie Knochenmehl, Mulden voll Schatten dazwischen, die bläulich sind wie diese Tinte, ja wie mit Tinte gefüllt, und nie eine Wolke, nie auch nur ein Dunst, nie das Geräusch eines fliehenden Tieres […]

Die Abwechslung von Dialog, Phantasien, von Nacherzählung, Erinnerung, Reflexion erzeugt ein sinnerfülltes lockeres Gefüge, das allen Elementen Luft und Entfaltungsraum gibt. Hinzukommt der Wechsel vom Präsenz ins Präteritum, der Wechsel zwischen den Orten in der Schweiz und zwischen den Kontinenten, zwischen den Erzählperspektiven der einzelnen Beteiligten und das offizielle Auge des schweizerischen Rechtsstaates verkörpert durch den bemühten, aber verzweifelten Verteidiger Dr. Bohnenblust, der zwischen allen Instanzen vermittelt, aber am Ende nicht so recht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Es fehlt die Identität, die Eineindeutigkeit, die einfach gestrickte Kausalkette, die erst ein standesgemäßes Urteil ermöglicht.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Max Frischs Stiller kommuniziert vor allem mit den existenzialistischen Romanen seiner Zeit. Die Sprache, zumeist kühl, die Beschreibungen sehr auf das Verhalten gerichtet, der Blick in die Bewegungen des Gefühlslebens, das Aufbrechen alter Rollenmuster, die Vision einer freien Liebe, die nackte Selbsterkenntnis als Ziel teilt Frisch mit den anderen, explizit existenzialistischen Autoren und Autorinnen. Spezifisch für diese Romane ist die Beschreibung einer existenzialistischen, das ganze Leben umkrempelnde Krise. In Stiller übernimmt diese Aufgabe die immer wieder, von allen Personen im Roman nacherzählte Anekdote aus dem Spanischen Bürgerkrieg:

Der junge Stiller hatte eine kleine Fähre am Tajo zu bewachen, infolge Männermangel sogar allein. Drei Tage lang geschah nichts. Dann aber, als im Morgengrauen endlich vier Franco-Spanier sich am andern Ufer zeigten, ließ Stiller sie die Fähre benutzen, ohne zu schießen, wiewohl es für ihn, der in tadelloser Deckung lag, eine Leichtigkeit gewesen wäre, die vier Feinde auf der Fähre abzuschießen. Er hatte acht Minuten lang Zeit. Stattdessen ließ er sie an sein Ufer kommen, trat aus seiner Deckung, schussbereit, sowie die andern ihrerseits das Feuer eröffnen würden, und also bereit, erschossen zu werden.

Stiller, voller Männlichkeitsallüren, will sich beweisen. Es gelingt ihm nicht. Er will nicht töten. Er will nicht schießen. Er will sich am Morden und Schlachten nicht beteiligen und ergibt sich. Dass Nicht-Schießen-Können wird immer wieder aufgegriffen. Es steht für die Unfähigkeit, erfolgreich in der Gesellschaft teilzunehmen, erfolgreich die Rollen und Masken zu übernehmen, also die Befehle zu befolgen, die die Autoritäten ihm erteilen. Kontrastierend steht hier Jean-Paul Sartres Held Mathieu in Der Pfahl im Fleische aus seiner Tetralogie Wege der Freiheit:

[Mathieu] trat an die Brüstung und fing stehend an zu schießen. Es war eine ungeheure Revanche; jeder Schuss rächte ihn für einen früheren Skrupel […] Er schoss auf den Menschen, auf die Tugend, auf die Welt […] er schoss auf den schönen Offizier, auf alle Schönheit der Erde, auf die Straße, auf die Blumen, auf die Gärten, auf alles, was er geliebt hatte. Die Schönheit machte einen obszönen Kopfsprung, und Mathieu schoss weiter. Er schoss: er war rein, er war allmächtig, er war frei.
[Jean-Paul Sartre aus: „Pfahl im Fleische“]

Max Frisch schlägt ganz andere Töne an. Weniger ein Ernest Hemingway, weniger ein Jean-Paul Sartre, eher ein Albert Camus aus Der Fremde, aber vor allem ein Ernesto Sabato in seinem Erstlingswerk Der Tunnel, das sechs Jahre zuvor erschien. Dieser beginnt wie Stiller in einer Gefängniszelle. Der Maler Juan Pablo Castel hat den Mord an seiner Geliebten Maria gestanden und wartet auf den Prozess:

Und obwohl ich mir keine großen Illusionen mache über die Menschheit im Allgemeinen und die Leser dieser Seiten im Besonderen, ermutigt mich die schwache Hoffnung, dass mich vielleicht doch ein Mensch versteht. Auch wenn es nur ein Einziger ist. […] Ich kann bis zur Erschöpfung und brüllend vor einer Versammlung von hunderttausend Russen sprechen. Niemand würde mich verstehen. Sehen Sie, was ich damit sagen will? Es gab einen Menschen, der mich hätte verstehen können. Aber das war gerade der Mensch, den ich umgebracht habe.
[Ernesto Sabato aus: „Der Tunnel“]

Castel wie Stiller suchen eine innige Liebe, eine Verbindung, die ein tieferes, friedlicheres Empfindungsleben ermöglichen würde. Sie suchen nicht einfach nur Lust. Sie wollen nicht ‚einfach schießen‘. Sie streben danach ihre Person, die Welt, die Rollen und Masken zu transzendieren und projizieren diese Sehnsucht auf ihre Partnerinnen, die aber vor einer solchen Aufgabe gestellt nicht genügen, nie genügen können. Sowohl Julika wie Maria bezahlen mit ihrem Leben dafür. Hier konvergiert Stiller mit Ingeborg Bachmanns Malina, wenn Sibylle, nachdem Stiller ihr seine Trennung von Julika eröffnet hat, während diese wegen Tuberkulose in Davos um ihr Leben kämpft:

»Das ist doch Wahnsinn, Stiller, das ist doch Mord …«

Ingeborg Bachmann beendet ihren einzig vollendeten 1971 erschienen Roman Malina bekanntlich mit der Klarstellung: Es war Mord.
[Ingeborg Bachmann aus: „Malina“]

Stiller und Castel, im Gegensatz zu Mathieu, sagen sich zwar von der physischen Gewalt ab. Sie schießen nicht. Sie verzweifeln am Morden und Schlachten, aber lieben können sie deshalb noch lange nicht. Stiller versagt in den entscheidenden Momenten für Julika da zu sein. Er bleibt feige, flieht, flüchtet sich in Schweigen, in den Alkohol, in die Kunst. Er begeht keinen mörderischen Akt wie Castel, aber er zerstört Julikas Leben nichtsdestotrotz, wie er seinem Wärter Knobel darlegt:

»Es gibt allerlei Arten, einen Menschen zu morden oder wenigstens seine Seele, und das merkt keine Polizei der Welt. Dazu genügt ein Wort, eine Offenheit im rechten Augenblick. Dazu genügt ein Lächeln. Ich möchte den Menschen sehen, der nicht durch Lächeln umzubringen ist oder durch Schweigen. Alle diese Morde, versteht sich, vollziehen sich langsam.«

Max Frischs Stiller besitzt den Verdienst, auf diese Verletzungen und Wunden Aufmerksamkeit zu lenken, auf die vielen kleinen und großen Schändlichkeiten, die sich Menschen antun, ohne Böses im Sinn zu haben, auf die Qualen und Brutalitäten, sobald ein Mensch einen anderen für eine Selbstverständlichkeit nimmt und ihn nur zur Befriedigung der eigenen Eitelkeiten benutzt. Es endet meist für alle schlimm. So auch bei Frisch. Stiller bleibt allein.

Alexander Carmele
https://kommunikativeslesen.com/

RICHARD PLANT: Die Kiste mit dem großen S

Richard Plant ging 1933 ins Exil. Als schwuler Jude hatte er unter den Nationalsozialisten nichts Gutes zu erwarten. In der Schweiz schrieb er den Kinderroman „Die Kiste mit dem großen S“, nun wiederentdeckt im Gans Verlag.

Richard Plant: Die Kiste mit dem großen S

1933: Freunde raten Richard Plaut, Deutschland zu verlassen. Der 1910 in Frankfurt geborene Sohn eines Arztes und sozialdemokratischen Stadtrats, jüdisch und schwul, hat unter den Nationalsozialisten viel zu befürchten. Er geht in die Schweiz und beginnt dort, parallel zu seinem Studium an der Universität Basel, Detektivromane und Kinderbücher zu schreiben, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

1936 erscheint die „Die Kiste mit dem großen S“. Jahrzehnte später sagt Richard Plaut, der sich nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten 1938 und der Zuerkennung der amerikanischen Staatsbürgerschaft 1945 Richard Plant nennt, dass in diesen Roman subtil eigene Erfahrungen aus dem Schweizer Exil eingeflossen seien: Einsamkeit, Fremdsein, erste Liebe.

Der Roman erzählt von den vier Kindern der Familie Baumann. Die Eltern sind zur Kur, da wird auch noch die Haushälterin krank: Plötzlich sind die Kinder ganz auf sich gestellt. Da geschieht Unvorhergesehenes und auf die Kinder kommt eine große Herausforderung zu. Das Buch ist ein spannend und lustig erzählter Kinderkrimi, Coming-of-Age-Roman, die Geschichte einer Jungensfreundschaft oder auch schwule Lovestory. Die erste Liebe wird durch die Geschehnisse auf eine harte Probe gestellt.

Zum Buch:

Die Neuausgabe im Gans Verlag beinhaltet über 30 Illustrationen des Buchillustrators Leo Meter, den Richard Plants Schwester Elisabeth im Exil geheiratet hatte. Sie waren in der niederländischen Ausgabe von 1937 enthalten. Außerdem wird das Buch ergänzt durch ein Geleitwort von Barbara Meter (Filmemacherin, Amsterdam) und eine Kurzbiografie Richard Plauts von Raimund Wolfert.

Zum Autor:

Richard Plant (zuvor Richard Plaut) wurde 1910 in Frankfurt am Main geboren. Er floh 1933 in die Schweiz, floh 1938 weiter in die USA. Bekannt wurde er durch sein Buch „Rosa Winkel. Der Krieg der Nazis gegen die Homosexuellen“, das 1991 auf Deutsch erschien. Richard Plant starb am 3. März 1998 in New York City.

Link zur Leseprobe


Stimmen zum Buch:

“Man gerät beim Lesen in eine abenteuerliche Zeitreise und kann sich überlegen, wie so etwas heute aussehen könnte, im Zeitalter von Handys und ganz anderen Möglichkeiten. Kinder bleiben Kinder – und Abenteuer eben Abenteuer. Schön, dass der Gans Verlag sich um diese verschütteten Kostbarkeiten jüdisch-deutschsprachiger Autorinnen und Autoren kümmert.” – Andrea Wanner, Titel kulturmagazin

“Aus heutiger, insbesondere kindlicher Sicht war das beginnende 20. Jahrhundert eine sehr skurrile Welt. Und genau diese wird in „Die Kiste mit dem großen S“ in ihrem Alltag authentisch wiedergegeben. Eine reizvolle und mutige Idee des Gans Verlags.” – Claudia Grothus, zugetextet.com

“Ungeachtet des Alters des Textes funktioniert der Roman als Detektiv- und versteckte Liebesgeschichte.” – Michael Fassel, literaturkritik.de


Richard Plant – Die Kiste mit dem großen S

Gans Verlag, April 2023
210 Seiten, Fadenbindung, Klappenbroschur
Buchreihe: Historische Kinder- und Jugendbücher jüdisch-deutschsprachiger Autorinnen und Autoren, Band 3
29,90 Euro
ISBN 978-3-946392-30-9

https://www.gansverlag.de/


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Gans Verlag.

VERA SCHINDLER-WUNDERLICH: Langsamer Schallwandler

„Langsamer Schallwandler“ ist der Titel des neuen Lyrikbandes von Vera Schindler-Wunderlich. „Vom Beischalten des Mondes“ bis zu einem „Stundenbuch“ nehmen die Gedichte einen mit auf eine labyrinthische Text- und auch Selbstbefragung.

Kkann ichh nicht spre? Der Rhein
strömt und singt, ich aber grab
im Gesetz und find Vorsätzliches
Verursachen einer Überschwemmung
oder eines Einsturzes, eines Schallwandels,
einer Geburt oder eines

krumm schwimmenden Gedichts.

Auszug aus dem Gedicht „Art. 227 Ziff. 1 Abs. 1“, Vera Schindler-Wunderlich, „Langsamer Schallwandler“

In der Laudatio zum Schweizer Literaturpreis 2014 für die deutsch-schweizerische Lyrikerin Vera Schindler-Wunderlich hieß es:
„Genuin und gelehrt kommen die Gedichte von Vera Schindler-Wunderlich daher: vor allem aber schwungvoll. Rhythmus und Treffsicherheit prägen ihre Verse; sie erzählen Geschichten, die uns wie Bilder- und Worträtsel begegnen. Zeichen und Wunder. Solche Rätsel wollen aufgeschlüsselt sein. Nach und nach geben sie Teile von Sinn preis, voller Ernst und – auch – Humor. Sprachspiel und Sprachkritik verfliessen in der Musik dieser Lyrik.“

Die Schriftstellerin, die mit „Dies ist ein Abstandszimmer im Freien“ (2012) ihren ersten Lyrikband veröffentlichte, lässt sich Zeit mit ihrer Poesie. 2016 folgte „Da fiel ich in deine Gebäude“ und nun, ganz aktuell, der neue Lyrikband „Langsamer Schallwandler“. In der Zwischenzeit publizierte sie regelmäßig Gedichte in Zeitschriften und Anthologien. Einige Gedichte wurden ins Französische, Italienische, Rätoromanische, Englische, Spanische, Slowenische, Indonesische und Arabische übersetzt.

„Vera Schindler-Wunderlich hat bisher zwei sehr beachtete Lyrikbände vorgelegt mit Gedichten, die sich ähneln in ihrem starken lyrischen Duktus. Nun hat sich ein Schallwandler in ihre Poesie hineingeschoben, es ergibt sich ein neuer Ton“, schreibt die Lyrikerin Lioba Happel in ihrer Nachbemerkung zu diesem aktuellen Lyrikband. Etlichen der hier vorgelegten Texte, ob im experimentellen oder im eher vertrauten Stil gehalten, liege etwas zugrunde, was schon früher bei der Dichterin anklang: „eine feine Selbstbefragung der Zeilen“. So entstünden immer wieder neu zu begehende Textlabyrinthe, sei es über Alltägliches, sei es über Abgründiges. Diesem freien Fluss der Worte und Gedanken entspricht auch die typographische Gestaltung der Texte – eine Lyrik, die im mehrfachen Sinne manches auf den Kopf stellt.

Zur Autorin:

Bild: Sharon Stucki, Select

Vera Schindler-Wunderlich, Jahrgang 1961, gebürtig aus Solingen (Deutschland). Seit 1994 berufstätig in der Schweiz, seit 2000 dort wohnhaft, seit 2009 Doppelstaatsbürgerin.

1980-1988: Studium der Musikwissenschaften, Romanistik und Anglistik in Köln, Aberdeen und Freiburg im Breisgau. Wissenschaftliche Abschlussarbeit über die Lyrik von Gerard Manley Hopkins. 1989 Weiterbildung zur Fachzeitschriftenredakteurin.

1990 – 2023: Tätig als Zeitschriftenredakteurin, Lektorin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Protokollführerin, 18 Jahre bei den schweizerischen Parlamentsdiensten.
2008-2012: Redakteurin bei der Literaturzeitschrift „orte“.
Seit 2023: Freie Autorin und Lektorin.
Seit 2024: Organisation und Moderation beim LyrikTalk Basel

Lyrikbände:

2012: „Dies ist ein Abstandszimmer im Freien“, edition pudelundpinscher
2016: „Da fiel ich in deine Gebäude“, edition pudelundpinscher
2022: „Langsamer Schallwandler“, edition pudelundpinscher

Förderungen, Anerkennungen:

2014 Schweizer Literaturpreis
2016 Werkbeitrag des Fachausschusses Literatur beider Basel
2020 nominiert für den Publikumspreis des Feldkircher Lyrikpreises
2020 Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia
2021 Werkbeitrag des Fachausschusses Literatur beider Basel
2023, PrixPlus 2023 von ARTS+, Arbeitsgemeinschaft und Kompetenzzentrum für Kunst und Kultur der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA, für „Langsamer Schallwandler“


Stimmen zum Buch:

„Kann Lyrik helfen, ein einschneidendes Ereignis zu verarbeiten? Für die Schweizer Lyrikerin Vera Schindler-Wunderlich funktioniert das. Sie hat ein Gedicht über die Hilflosigkeit ihrer gelähmten Freundin geschrieben, die unter Multipler Sklerose leidet. Die Lyrikerin will mit ihrem Text kein Mitleid heischen, sondern diese für sie außergewöhnliche Erfahrung zum Ausdruck bringen – was ihr auch durch die Wahl eines ungewöhnlichen Schriftbildes gelingt.“ – Vera Schindler-Wunderlich und ihr Gedicht „Mittlere Brücke“ in der SWR 2- Reihe „Gedichte und ihre Geschichte“.

„Vera Schindler-Wunderlich hat mit ihrem dritten Gedichtband ‚Langsamer Schallwandler‘ ein fulminantes Sprachangebot vorgelegt. … Schon die erste Strophe des ersten Gedichts „Ja wenn wir Summen“ ist dynamisch, voller Geheimnis und besticht mit Neologismen.“ – Axel Helbig in Ostragehege, Heft 108

„Die 1961 in Solingen geborene Dichterin bietet auch eine beachtliche sprachliche und thematische Vielfalt.“ – Rolf Birkholz im Literaturmagazin „Am Erker“, Nr. 84

„Ein Blick auf den Titel lohnt sich zur Einstimmung. ›Schallwandler‹ wandeln, gemäss Lexikon, akustische Signale in elektrische Spannung respektive umgekehrt elektrische Spannung in akustische Signale um. Wir kennen den Vorgang vom Mikrofon respektive vom Lautsprecher. Bei dieser Umwandlung können sich gerne Effekte wie Knistern, Aussetzer oder Nachhall einnisten, was die reibungsfreie Wiedergabe stört. Auf ihre Art spielt Vera Schindler-Wunderlich damit, wenn sie, sagen wir, alltägliche Eindrücke und Erfahrungen in freie Verse umwandelt.“ – Beat Mazenauer bei viceversaliteratur

„Aus allem vermeintlichen Nicht-Sprechen entsteht aus diesem Gedichtband ein Kosmos aus Bildern und polyphoner Sprachmusik, in den sich der Leser, die Leserin hineinziehen lässt.“ -Susanne Mathies in »orte – Schweizer Literaturzeitschrift«, März 2023

„Sprache als Versuch einer Reaktion, eines Verbindungsaufbaus – in den Gedichten von Vera Schindler-Wunderlich komme ich mir zeitweise wie in einem Labor vor: jeder Satzteil wie die entnommene Probe eines bisher unbekannten Stoffs, den man mit anderen Stoffen frei, und gleichsam kontrolliert, reagieren lässt.“Timo Brandt bei Lyristix

„Die Gedichte dieses Lyrikbandes treten in ein Gespräch mit sich selbst und mit den LeserInnen. Sie loten in vielen verschiedenen Formen mit verschobenen Zeilen, Leer-Räumen, Einschüben, Wellenbewegungen und weiteren Kapriolen das Leben der Menschen und das der Worte aus.“ – Petra Lohrmann bei „Gute Literatur – meine Empfehlung“

„Ja, das ist es: ein Buch der Funken, ein funkensprühendes Sprachkunstwerk, Verse, oft als Brücken gebaut, um schlafwandlerisch sicher über die Abgründe des hinterhältigen Alltags zu wandeln: Nein, ohne den Schall der Sprache geht gar nichts … wo stünd ich denn ohne die Wörterwürze, die ich beim Lesen schmecke? …“ – Theo Breuer, LITERATOUR 2022, Edition Ye


Bibliographische Angaben:


Vera Schindler-Wunderlich
Langsamer Schallwandler
Gedichte
Fadengeheftete Klappenbroschur
108 Seiten, 17.6 x 13.2 cm
Umschlagentwurf: Georg Mayr-Nusser
ISBN 978-3-906061-31-3

Edition pudelundpinscher
A1 Puntígn 4, CH-6682 Linescio
Email: post@pudelundpinscher.ch
www.pudelundpinscher.ch


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag

ALFONSINA STORNI: Werkausgabe in fünf Bänden

Alfonsina Storni ist eine der wichtigsten Künstlerinnen Argentiniens vor dem Zweiten Weltkrieg und eine der eigenwilligsten Stimmen der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. In der Edition Maulhelden erscheint nun der Abschluss einer ihr gewidmeten Werkausgabe mit dem Lyrikband „Ultrafantasía“.

Alfonsina Storni (1892–1938), geboren in Sala Capriasca TI, kam mit vier Jahren nach Argentinien und lebte von 1912 bis zu ihrem Freitod 1938 in Buenos Aires. Sie ist eine der wichtigsten Künstlerinnen Argentiniens vor dem Zweiten Weltkrieg und eine der eigenwilligsten Stimmen der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk ist von Mythen über Leben und Tod überwachsen, die sich erstaunlich hartnäckig halten.

Ihr Werk lag nach ihrem Freitod unter dem weltbekannten Lied Alfonsina y el mar gewissermaßen begraben. Nun hat es Hildegard E. Keller erstmals vollständig ans Licht geholt: die erste deutschsprachige Werkausgabe zeigt eine Frau, die längst in den Kanon der großen Weltliteratur gehört. Der Tod oder gar die Neigung zum Suizid sei das Hauptmotiv in Stornis Lyrik – solche oft wiederholten Behauptungen zeigen eine Schlagseite des Mythos Alfonsina Storni und nur eine von vielen Verkürzungen. Sie zeigen die Nicht-Rezeption von Alfonsina Stornis Gesamtwerk. „Die Pionierin des Wortes, des Feminismus, die Frau, die für die Autonomie einer Künstlerin stand, wurde als Selbstmörderin stillgestellt“, so Hildegard E. Keller. Es sei an der Zeit für die Wiederentdeckung und Sichtbarmachung einer einzigartigen Kämpferin.
Ein besonders schönes Finale dieser Werkausgabe, die in Kellers Edition Maulhelden erscheint, bildet nun der eben erst erschienene fünfte Band: ULTRAFANTASÍA: Die Lieblingsgedichte der Lyrikerin und der Übersetzerin, viele davon zum ersten Mal auf Deutsch. Auch die Gedichte, die Alfonsina Storni bis heute zu einer der meistrezitierten Dichterinnen gemacht haben, sind in dem Band, den Hildegard Keller selbst illustriert hat, enthalten. Weitere Informationen gibt es im Flyer zur Werkausgabe.


In den Medien:

„Die argentinische Lyrikerin Alfonsina Storni, geboren in der Schweiz, stellt in ihren Gedichten Männer bloß, ruft Frauen zu selbstbestimmtem Leben auf und wendet sich sogar an Marsmenschen. Das klingt modern, doch Alfonsina Storni lebte und schrieb in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.“ – Kerstin Bachtler bei SWR2

„Alfonsina Storni gilt heute als Wegbereiterin moderner lateinamerikanischer Frauenliteratur. In Lateinamerika sind Straßen und Plätze, Bibliotheken und Schulen nach ihr benannt. Bei uns ist sie immer noch eine Unbekannte. Dass sich das ändert, dafür sorgt Hildegard Keller in ihrem Verlag „edition maulhelden“. – Manuela Reichart beim RBB

Mercedes Echerer liest Gedichte von Alfonsina Storni im ORF

Alfonsina Stornis verholzte Mittelklasse-Frau bei den ORF-Radiogeschichten

„Eine moderne Frau mit Wilhelm Tell im Blut“: Florian Bissig widmet sich Alfonsina Storni in seiner Rubrik „Lyrik unter der Lupe“ im Tagblatt

„Glückliche Schweiz! Die großartige Übersetzerin Hildegard E. Keller hat dir ein sensationelles Geschenk gemacht!“ – Michael Augustin zu „Ultrafantasía“ in seiner Lyrikkolumne in der Lesart

„Poesie, die wie eine Säge durchs Herz geht“ – Paul Henri Campbell in Volltext I/2023

„Hildegard E. Keller schenkt uns mit der fünfbändigen, kleinen, feinen Werkauswahl schöne, bewegende, melancholische und amüsante Begegnungen mit dem facettenreichen Werk Alfonsina Stornis.“ – Britta Jürgs in der Virginia Frauenbuchkritik

„Ultrafantasía“ ist eine lohnenswerte Entdeckung und man merkt dieser Edition an, wie sehr das Œuvre der argentinischen Avantgardistin Storni Hildegard Keller am Herzen liegt. – arcimboldis world

„Hildegard Keller hat in diesem Fall nicht nur übersetzt, sondern auch kuratiert, ganz wunderbar illustriert, und für die Verse nebst Hintergrundinformationen den Umschlag dieses haptisch und optisch hinreißend schönen Büchleins gestaltet. Eine Ausgabe, die man immer wieder gerne zur Hand nimmt, um darin nach seinen persönlichen Lieblingsgedichten zu suchen.“ – Petras Bücherapotheke

„Alfonsina Stornis Gedichte, sind prall gefüllt mit Leidenschaft, Melancholie, Liebe und berührender Poesie.“ – Tausendléxi

„Die Schweizer Herausgeberin und Übersetzerin Hildegard E.Keller hat die Ausgabe nicht nur mit stimmungsvollen Illustrationen versehen, sondern hat die Gedichte Stornis gleichsam handverlesen – wie auch der Umschlag verrät. So ist eine Zusammenstellung von Lieblingsgedichten – sowohl der Autorin als auch der Herausgeberin entstanden. Gegliedert in Kapitel sind diese anhand der Zeiträume ihres Entstehens – so lässt sich beim Lesen auch eine zeitliche Entwicklung mit verfolgen.“ – Kulturbowle


Alfonsina Storni
ULTRAFANTASÍA
Lieblingsgedichte. Handverlesen, übersetzt, illustriert und mit einem Nachwort von Hildegard Keller
Durchgehend vierfarbig, mit Lesebändchen. 256 Seiten.
29.- €
ISBN: 978-3-907248-10-2 

Edition Maulhelden
Zollikerstr. 265
CH-8008 Zürich
+41 44 382 21 53
info@maulhelden.ch


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag

Annette Stroux und Fred Reber im Gespräch: Das Gewicht von Nähe

Fred Rebers Roman „Das Gewicht von Nähe“ erschien im Programm der „STROUX edition“. Der Verlag veröffentlicht Bücher, die um das Phänomen der Erinnerung kreisen, seien es fiktionalisierte Geschichten wie das „Gewicht von Nähe“, seien es Familienportraits wie „Findelkind“. Verlegerin Annette Stroux und Autor Fred Reber im Interview über den Verlag und den Roman.

Bild von Free-Photos auf Pixabay

Chris schluckt. Damals, als sie aus dem Krankenhaus zurück in Bens Wohnung kamen und die Ereignisse sie am Schlafen hinderten, hatte er zu ihm gesagt:
„Dad, das musst du aufschreiben. Das ist ja wie ein Krimi.“
„Wo denkst du hin. Das geht nicht.“
„Wieso?“
„Weil ich der Auslöser war für die ganze Geschichte.“

Fred Reber, „Das Gewicht von Nähe“, STROUX edition

Die ganze Geschichte zwischen Ben und Nina endet drei Jahre zuvor: Am Beginn des Romans sehen wir einen Mann, der blutend an einer Bushaltestelle steht. Geflüchtet aus der Wohnung einer Frau, die ihn zunächst faszinierte und dann immer mehr durch ihr obsessives Verhalten irritiert. Fred Reber beschreibt in seinem zweiten Roman feinfühlig und mit viel Gespür für die Psychologie seiner Figuren die Entwicklung einer gestörten Beziehung.

Ben, der sich als Buchhalter durchs Leben schlägt, aber eigentlich von einem Leben als Schriftsteller träumt, lernt eines Abends in einer Hotelbar die attraktive Nina kennen. Erst später wird ihm bewusst, dass diese faszinierende Frau eine schwedische Schlagersängerin ist, für die er als Jugendlicher schwärmte. Ihr Ruhm ist jedoch schon längst verblasst, die Tage des großen Erfolgs lange schon vorbei.

Zu Beginn der Beziehung erscheint Ben alles im schönen Schein. Doch nach und nach stellt er fest, dass Nina in ihrer Vergangenheit gefangen ist. Ihre Idee, Ben solle eine Biographie über sie verfassen, wird schließlich zur Belastungsprobe, als Ben sich zurückziehen will, eskaliert die Situation. Fred Reber erzählt dies mit Gespür für die Psychologie seiner Figuren, insbesondere Nina gewinnt mehr und mehr an Kontur. Als wäre man an Bens Seite, erlebt man den einstigen Star zunächst als souveräne Frau, die im Laufe der Geschichte immer mehr Schattenseiten bis hin zu psychotischen Zügen zeigt. Das ist auch spannend zu lesen und gute Unterhaltungsliteratur mit Tiefgang.

Am Ende des Buches treffen wir Ben wieder: Er liest, drei Jahre nach den Vorkommnissen, an der Musikhochschule München aus seinem Roman, der ihm endlich den ersehnten Erfolg als Schriftsteller bescherte. Doch zu welchem Preis: Schließlich ist der Roman auch die Verarbeitung seiner dramatischen Liebesgeschichte.

Fred Rebers Roman „Das Gewicht von Nähe“ erschien im Programm der „STROUX edition“ (ein Verlagsportrait in der Süddeutschen Zeitung findet sich hier), das Bücher, die um das Phänomen der Erinnerung kreisen, beinhaltet, seien es fiktionalisierte Geschichten wie das „Gewicht von Nähe“, seien es Familienportraits wie „Findelkind“. Ich sprach mit Verlegerin Annette Stroux und Autor Fred Reber über den Verlag und den Roman.

Frau Stroux, Ihr Verlag widmet sich dem Thema „Erinnerung“ – es geht also um Autobiografisches, biografisches Erzählen? Wie und wann entstand die Verlagsidee? 

Annette Stroux: Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Erinnerung“ begleitet mich schon seit der Kindheit. In meiner Familie gab es immer wieder heftige Auseinandersetzungen über bestimmte Erlebnisse und die völlig unterschiedliche Bereitschaft und Fähigkeit, sich daran zu erinnern. Bei den einen wurde alles ausgeschmückt und fast als eine Art Waffe gegen jedes entspannte Beisammensein benutzt, die anderen rasteten aus, sobald an ihre Erinnerungen gerührt wurde. Irgendwann merkte ich, dass Erzählen und Schreiben aus der Quelle des Autobiographischen eine besondere Qualität haben kann – und daraus entwickelte sich mein Verlagsschwerpunkt.

Es gibt ja zunehmend mehr Menschen, die ihre Lebenserinnerungen festhalten und auch veröffentlicht haben wollen. Was zeichnet die Qualität eines Manuskriptes aus, was muss eine fiktionalisierte Lebensgeschichte mitbringen, damit Sie sich für eine Veröffentlichung entscheiden? 

Annette Stroux: Das Thema muss von allgemeinem Interesse sein. Eine meiner ersten Publikationen war ein (auto-)biographischer Roman über den Algerienkrieg (La grande Bleue). Das Buch finde ich fast exemplarisch. Aber es müssen nicht unbedingt historische Ereignisse sein – auch persönliche Extremsituationen und der Umgang damit interessieren mich sehr.

Herr Reber, in „Das Gewicht von Nähe“ geht es auch um das lose Projekt einer Biografie, eine Frau will die eigenen Erinnerung festhalten. Beim Lesen wurde mir deutlich, wie sehr man selbst auch dazu neigt, die eigene Vergangenheit zu verklären. War das mit ein Hintergedanke? 

Fred Reber: Vor Jahren war Nina ein großer Star. Sie hat ihre Karriere aus freien Stücken aufgegeben. Mich hat interessiert, wie sie reagiert, wenn ihr jemand wie Ben anbietet, ihre Biografie zu schreiben.Ich wollte zeigen, wie sie sich selbst wahrnimmt. Und ich fand es spannend, was es mit ihr macht, wenn ihre Wünsche und unerfüllten Sehnsüchte erneut geweckt werden.

Im Grunde weiß sie, was in ihrem Leben falsch gelaufen ist, und dass sie ihren Teil dazu beigetragen hat. Sie will es sich nur nicht eingestehen und so fängt sie an, ihr früheres Leben zu verklären.

Steckt in der Erzählung auch ein autobiografisches Element?

Fred Reber: Ich war vor Jahren mit einer Frau befreundet, deren Leben ähnlich verlief, wenn auch in einem anderen Umfeld. Das war der Ausgangspunkt für den Text, der sich dann immer mehr verselbstständigt hat.

Wie kam der Kontakt zwischen Autor und Verlag in diesem Fall zustande, was hat Sie, Frau Stroux, an dem Manuskript fasziniert? 

Annette Stroux: Mit Fred Reber kam ich über eine Lesung in Kontakt. Mich hat einerseits interessiert, dass Fred Reber schon einmal einen Roman im Selfpublishing erfolgreich veröffentlicht hatte – und dann kam die Story dazu. Am Anfang und am Ende seines Romans stehen persönliche Grenzerfahrungen – und seine Erzählweise lässt erkennen, dass ihn die Frage nach dem „Was war da eigentlich?“ nie wirklich losgelassen hat. Man sagt ja, dass das autobiographische Gedächtnis das aktuelle Selbst immer besser bewertet als das Selbst der Vergangenheit und – dass Erinnern ein kreativer Prozess ist. Auch darüber erzählt „Das Gewicht von Nähe“ sehr anschaulich.

Informationen zum Buch:

Fred Reber
Das Gewicht von Nähe
STROUX edition, 2019
Gebunden, 268 Seiten, auch als E-Book erhältlich
ISBN 978-3-948065-04-1

Hansjörg Schneider: Hunkeler in der Wildnis

Auch in seinem zehnten Hunkeler-Fall zeichnet Hansjörg Schneider wieder ein ganz besonderes Sittengemälde der Schweizer Gesellschaft.

Hunkeler blickt hinter die schönen Basler Fassaden. Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Dies war die schönste Zeit des Tages, wenn er aus tiefer Nacht erwachte und erkannte, dass alles in Ordnung war. Die Welt der Träume, der er dann manchmal entstieg, war ganz und gar nicht in Ordnung. Er wusste das, obwohl er sich beim Erwachen kaum je an einen genau umrissenen, erzählbaren Traum erinnern konnte. Bloß an beängstigende Unordnung, in der alles Vernünftige aus den Fugen geraten war.“

Hansjörg Schneider, „Hunkeler in der Wildnis“


Es hat etwas Beruhigendes, den Hunkeler zu lesen.

Beruhigungsfaktor Nummer eins: In seiner Bärbeißigkeit, seiner Misanthropie ist der Hunkeler eine Konstante. In seinem zehnten Fall nun zwar im Ruhestand, bleibt er immer noch genervt von den Kollegen, den Mitmenschen, den Umständen des Lebens überhaupt. Das Granteln und Grummeln deutet jedoch auf eine besondere Feinfühligkeit hin, die nur ausgeglichen werden kann durch weitläufiges Spazierengehen, stundenlanges Sitzen bei einem Wein vor dem Haus, durch Steingeschosse in die Fenster der laut feiernden Nachbarn (dass das Geschoss versehentlich das Fenster eines verschreckten alten Ehepaares zertrümmert, bringt die seelische Konstruktion wieder gefährlich ins Wanken).

Beruhigungsfaktor Nummer zwei: Manchmal schielt man neidvoll auf die eidgenössischen Nachbarn, bei denen so manches anders, aber nach außen hin immer so proper erscheint. Der Hunkeler mit seinem großen Verständnis für die Abgehängten, Abseitigen, Verwirrten, er nimmt einen mit hinter die Fassaden. Beispielsweise ins Basler „Milchhüsli“, eine Kneipe, wo schon einmal ein Betrunkener auf dem Boden pennt. Man lernt mit dem Alt-68er Hunkeler: Die Schweiz hat ihren Reiz, aber eben nicht für jeden. Jede Gesellschaftsordnung, die auf Konsum und Kapital basiert, produziert auch ihre Opfer. Um die sich der Hunkeler dann, Ruhestand hin oder her, kümmert.

Blick auf das abseitige Basel

Beruhigungsfaktor Nummer drei: Hunkeler-Krimis zu lesen, das ist immer mehr, als „nur“ einen Krimi zu lesen. Das „literarische Gewissen“ darf sich beruhigend einlassen – das ist mehr als bloße Spannungsliteratur (das ist es im Grunde sogar am wenigsten), sondern immer auch Gesellschaftskritik, Philosophie, Lebenskunst. Meist rutscht der Kriminalfall nach hinten, in diesem, dem zehnten Fall sogar ein bisschen zu sehr: Der Tod eines Kritikers (das löst bei Walser-Lesern zunächst einen Schreckmoment aus) wird beinahe linker Hand aufgelöst, ist im Grunde nur der Rahmen. Hansjörg Schneider lässt seinen brummigen Ermittler diesmal mäandern durch Stadt (Basel), Land (Elsass) und Fluss (eine Runde im Rhein zu schwimmen, gehört da einfach dazu) und führt seine Leser somit in ganz verschiedene Lebenswelten, die von obdachlosen Ex-Kommunisten, streunenden Stadt-Indianerinnen, von Alkoholikerinnen und ätherisch scheinenden Künstlerinnen bewohnt werden. Geschickt verknüpft Schneider Gegenwart und Vergangenheit, zeigt auf, wie die Verstrickungen der Menschen während des Nationalsozialismus auch heute noch im Drei-Länder-Eck nachwirken.

Hunkeler zu lesen, das ist auch eine Übung in Entschleunigung. So unzulänglich einem die Welt da draußen auch erscheint, nach einigen Stunden mit dem philosophierenden Ex-Kommissar kommt man wieder in seine Mitte. Ohm. Ein Fazit, das auch Sylvia Staude von der Frankfurter Rundschau zieht:

„Allemal geht es bei Hansjörg Schneider mehr um Lebensphilosophie in schweizerischer Gelassenheit und leiser Melancholie, als um einen Whodunnit. Die Sache mit dem toten Kritiker ist bald nur ein Nebenbei. Und es stimmt schon, dass Hunkeler auch aufbrausend sein kann. Aber als Leserin kommt man mit ihm zur Ruhe, wird trotzdem nicht im Seichten unterhalten.“


Weitere Besprechungen gibt es bei:

Krimi-Couch
arcimboldis world

Informationen zum Buch:

Hansjörg Schneider
Hunkeler in der Wildnis
Diogenes Verlag, 2020
ISBN: 978-3-257-07097-2

Hildegard Keller & Christof Burkard: Frisch auf den Tisch

Hildegard Keller und Christof Burkard servieren Weltliteratur besonders schmackhaft – mit eigens für jeden Schriftsteller passend entworfenen Rezepten.

Bild von Светлана Бердник auf Pixabay

„Diese in allen Wassern gewaschenen Nudeln müssen 20 Minuten über leichtem innerem Feuer des Lesers aufgesetzt werden. Die Mahlzeit ist nahrhaft wie ein Märchen.“

Walter Benjamin

Essen und Lesen gehen nicht nur phonetisch gut zusammen. Beides hat im besten Falle mit Genuss zu tun, beides schafft Pausen vom Alltag, bringt Zeiten der Muse. Ein gutes Buch macht meist Appetit auf mehr. Nicht umsonst spricht man von Lesefutter. Und die Gerüche und Gewürze eines leckeren Essens können einen für kurze Zeit in andere Länder und Welten entführen – etwas, das auch beim Kopfreisen mit guter Literatur passiert.

Dass Literatur auch durch den Magen geht, das beweisen die Maulhelden: Hildegard Keller, die Literaturwissenschaftlerin und Autorin, die Lesenden unter anderem durch den Literaturclub im Schweizer Fernsehen und vom Bachmannpreis bekannt sein wird, bildet mit ihrem Ehemann, dem Juristen Christof Burkard, in der Küche und auf der Bühne ein kongeniales Gespann.

Hinter die Kulissen, sprich auf den heimischen Herd des Paares, durfte das „Tagblatt“ blicken und berichtete:

„Ihre Aufgabenteilung: «Hildegard ist das literarische Gewissen», sagt Christof Burkard, «Christof ist der Menü- und Geschichtenerfinder», ergänzt Hildegard Keller. Gekocht wird aber nicht einfach, was in den Romanen gegessen wird, die beiden übersetzen Werke und Autoren in kulinarisch-literarische Performances.“

Etliche der kurzen Streifzüge durch die Literatur und die leckeren Rezepte, die davon inspiriert sind, veröffentlichten Keller & Burkard als Kolumne im „Literarischen Monat“. Sie gründeten zusammen 2019 auch die „Edition Maulhelden“, deren zweiter Titel „Frisch auf den Tisch“ eben nun jene „Weltliteratur in Leckerbissen“ serviert, ergänzt durch drei neue, weitere Gänge mit Max Frisch, Rosa Luxemburg und Walter Benjamin sowie einem ausführlichen Küchengeplauder der beiden Herausgeber.

Kolumnen um die großen Hechte der Literatur

Die Kolumnen drehen sich also um die großen Hechte der Weltliteratur und Kultur: Um den oben zitierten Walter Benjamin, viele Schweizer Autoren wie Friedrich Glauser, Gottfried Keller und Max Frisch sind vertreten, aber auch Ingeborg Bachmann, Hannah Arendt und Hildegard von Bingen haben ihren Auftritt an der literarisch-kulinarischen Tafel.

Ein abwechslungsreiches Menü, das den Leserinnen und Lesern da serviert wird, die einzelnen Gänge ganz unterschiedlich gewürzt: Mal mit einer dezenten Prise Ironie wie bei Max Frisch, mal mit Gewürzen und Gerüchen aus Nordafrika angereichert wie bei Glausers Taboulé oder einem Dessert, das wie ein Gedicht ist, für Ingeborg Bachmann. Allerdings eines, das sowohl Könnerschaft als auch Mut erfordert:

„Und wehe, wenn der Ofen während des Backens geöffnet wird, scheint Ingeborg Bachmann zu flüstern. Profiteroles sind Poesie pur und werden nicht ganz angstfrei hergestellt. Man kann an ihnen scheitern.“

In den locker-luftig geschriebenen Essays erfährt man auch allerlei Neues zu Leib- und Magendichtern. Von Robert Walsers Liebe zur Wurst ahnte ich bislang nichts. Wie man dagegen Kartoffelstock zu essen hat, das weiß man vielleicht bereits aus Kellers „Seldwyla“. Meine Lieblingsstelle in diesem Buch jedoch ist die, mit der Max Frisch ganz vortrefflich charakterisiert wird:

„Wie bringen wir diesen Frisch auf den Teller? Das Ringen mit der Form und der Kantigkeit des Lebensbei gleichzeitigem Hoffen auf die wahre Essenz lässt nur ein Gericht zu: Die gefüllten Teigtaschen à la Max – im Volksmund Ravioli – sind nichts anderes als Architektur auf dem Teller. Sie bilden ab, wie Faber sein Leben durch diese ziemlich schiefe Liebe erneuern will. Wilder Inhalt ist gebändigt im bürgerlichen Rechteck und schwimmt schließlich doch in einer schönen Brühe.“

Guten Appetit!

Übrigens: Das Buch im handlichen Format ist sehr schön gestaltet und ist mit seinen vielen liebevollen Details – freigestellten Zitaten, Illustrationen von Hildegard Keller und den Rezepten von Christof Burkard – etwas für literarische Feinschmecker.


Informationen zum Buch:

Hildegard Keller & Christof Burkard
Frisch auf den Tisch. Weltliteratur in Leckerbissen
Edition Maulhelden, Zürich, 2020
14×21,5 cm, gebunden, zweifarbiger Druck, Rezeptseiten in Farbe, mit bedrucktem Vorsatz, 13 Zeichnungen in Farbe, mit Lesebändchen, 144 Seiten
24,80 CHF, 21,— € (D), 21,50 € (A)
ISBN: 978-3-907248-01-0

Tom Zürcher: Mobbing Dick

Was wie ein harmloses Coming-of-Age-Buch beginnt, endet im Fiasko: Die herrlich überdrehte Satire steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Nachts sitzt Dick im Büro und schreibt die Notizen fürs Archiv um. Er hofft jedes Mal, das letzte Tram zu erwischen, aber er schafft es selten. Zuhause kann er nicht einschlafen, obwohl er todmüde ist. Die Bank kocht in seinem Kopf weiter und die Fantastischen diktieren Müll und Mist. Ich muss hier raus, sagt er sich, die Kammer macht mich fertig.“

Tom Zürcher, „Mobbing Dick“, 2019.


Was für ein grandioser Spaß! Ein Roman, so irrwitzig im ursprünglichen Sinne dieses Wortes, irre und witzig, irre witzig, so überdreht jedenfalls ist mir seit „Die Verschwörung der Idioten“ kaum mehr etwas untergekommen. Ein abgefahrenes Spektakel, ausgerechnet angesiedelt hinter der biederen Fassade eines Kleinfamilienhauses in Witikon und den soliden Mauern einer Züricher Bank.

Dick – allein schon sein Vorname ein schweres Erbe, ist er doch der Heldenverehrung seiner Eltern für den ehemaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney zu verdanken – will vor allem nur eines: Geld verdienen, raus aus dem engen Elternhaus, rein in eine eigene Wohnung, dem kontrollsüchtigen, geizigen Vater und der überfürsorglichen Mutter entrinnen. Er bricht sein Jurastudium ab, bewirbt sich bei einer Bank, wird ohne große Qualifikation sofort genommen und ist erst einmal glücklich. Was sich bei Dick – der im Verlauf des Romans jedoch immer dünner wird – in einer Fressattacke manifestiert. Als „Banker“ dürfen es da zum Einstand auch mal die teuren Cremeschnitten aus der Konditorei „Sprüngli“ sein, die er im Wesentlichen jedoch selber futtert.

Seltsam verschrobene Ideen

Doch aus der großen Freiheit und den Träumen vom Aufstieg auf der Karriereleiter wird absolut nichts: Die Bank entpuppt sich als kafkaesker Käfig, eine Anstalt der Sinnlosigkeit, in der das Produktivste, was die einzelnen Angestellten zu unternehmen scheinen, das Spinnen der nächsten Intrige ist. Viel Gewese gibt es um das Bankgeheimnis. Ein eigens erfundener „Vreneli“-Code dient dazu, die Kundengespräche per Hand zu protokollieren. Wem das im Zeitalter der Digitalisierung verschroben vorkommt: Das ist es. Das Abfassen hunderter handschriftlicher Adressumschläge, das Schreiben von Protokollen, das Training von Schönschrift: Dick muss mehr Papier produzieren, als er Staub fressen kann. Aber auch das gehört zur satirischen Überspitzung, mit der Tom Zürcher in seinem dritten Roman das Tun und Treiben in dieser seltsamen Geldanstalt zeichnet.

Klaustrophobisch eng wird es für Dick auch an seiner neuen Wirkungsstätte: Die „Fantastischen Fünf“, herrlich überspitzt dargestellte Finanzhyänen mit dem entsprechenden Jargon, lassen den jungen Mann gerne in der fensterlosen Kammer, in der er den Verhandlungen mit Kunden zuhören muss, schwitzen. Als das längst schon marode Bankhaus von Amerikanern übernommen wird, nimmt der Konkurrenzkampf unter den „Fanta 5“ existentielle Züge an, Dick selbst gerät mitten in das Gefecht und macht sich zudem durch Fehlspekulationen quasi zum Sklaven der Bank. Erneut will er wieder nur eines: Raus. Selbst der Rückzug zu den Eltern, Studium und finanzielle Abhängigkeit vom Vater erschiene ihm die bessere Alternative.

Doch es gibt kein Entkommen: Mit Versprechen auf mehr Gehalt und Aufstieg wird Dick, der in der Personalakte als „naiv“ und „gutgläubig“ bezeichnet wird, geködert, einem Esel gleich, dem man die Mohrrübe vorhält, durch die Arena gezogen. Mehr und mehr durch den Wind gedreht, verliert Dick, zunehmend auf Wodka statt auf Cremeschnitten, die Kontrolle über sich. Sein Alter Ego „Mobbing Dick“ gewinnt die Oberhand, zieht als aufgespeedeter Racheengel durch das nächtliche Zürich und terrorisiert Kollegen wie Familie zunächst nur mit relativ harmlosen Stalking-Telefonaten. Doch Wahn und Wirklichkeit verwischen zusehends, aus dem Spaß wird Ernst: Das Ganze endet in einem Fiasko, das mit einer erotisch ansprechenden Vorgesetzten, einem Zahnarztstuhl, einem Teppichklopfer und einem unvermutet aufgetauchten Familienkonto mit 5 Millionen Franken zu tun hat. Mehr sei dazu an dieser Stelle nicht verraten.

Aufstieg und Fall eines Naivlings

Wie Tom Zürcher diesen Aufstieg und Fall seines jungen Helden zeichnet, ist von einem unwahrscheinlichem Tempo, viel Wortwitz und absurden Dialogen geprägt. Was wie ein harmloses Coming-of-Age-Buch beginnt, wird zum aberwitzigen Roman und einer absurden Tragikomödie, die im Grunde vor allem eines aufzeigt: Verlass dich nicht auf Loyalität und Solidarität unter Kollegen. Offengelegt werden die Mechanismen, die in hierarchisch strukturierten und auf Leistung ausgelegten Unternehmen im menschlichen Umgang wirksam werden. Und das sind eben nicht die besten Charaktereigenschaften, die da zu Tage treten. Zürcher erzählt dies trocken, fast nüchtern, in rasantem Präsenz, stilistisch unverschnörkelt.

Vielleicht mag gerade dies dem Roman, der auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis steht, bei der Auswahl der Jury für den Gewinnertitel nicht zum Vorteil gereichen. Vielleicht ist er dafür auch eine Spur zu absurd. Man weiß es nie. Für mich ist das Buch auf jeden Fall ein Gewinnertitel, denn es war für mich nach anfänglicher Skepsis eine große, positive und unterhaltsame Überraschung.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat in diesem Jahr 20 Buchbloggerinnen und Blogger gebeten, eine Art „Patenschaft“ für einen der 20 Titel auf der Longlist zu übernehmen. Die Titelauswahl fand per Los statt. „Mobbing Dick“ war für mich daher tatsächlich ein Überraschungsei, beinahe wie eine Cremeschnitte aus dem „Sprüngli“.

Über die weiteren Titel sowie die Rezensionen dazu, Autoreninterviews und andere Infos ist alles auf dem Blog zum Buchpreis zu finden: https://www.deutscher-buchpreis-blog.de/


Bibliographische Angaben:

Tom Zürcher
„Mobbing Dick“
Elster & Salis Verlag, 2019
24,00 Euro, Hardcover, 288 Seiten
ISBN 978-3-906195-83-4

Franck Maubert: Caroline – Alberto Giacomettis letztes Modell

„Caroline“ bietet einen ganz eigenen, persönlichen Zugang zum Spätwerk Alberto Giacomettis. En Interview mit seinem letzten Modell, seiner Geliebten Caroline.

Bild von StockSnap auf Pixabay

„Das Portrait ist unvollendet, ihr Oberkörper starr aufgerichtet. Alberto hat den kleinen Glanz ihrer Augen noch nicht erfasst, die ersten drei Sitzungen haben nicht ausgereicht. Ihr Oberkörper nimmt die ganze Höhe der Leinwand ein, und der Kopf zieht sich vielleicht mehr als gewöhnlich in den Hintergrund zurück. Den Kopf bezeichnete Alberto als einen «Kern von Gewalt». Ihre Augen bestehen aus einer bestimmten Anzahl von Überlappungen, kleinen harten senkrechten Strichen. Die Augen bleiben das zentrale Element, im Übrigen ist der Körper ätherisch, beinahe farblos. Aber was heißt bei Giacometti vollendet oder unvollendet?“

Franck Maubert, „Caroline – Alberto Giacomettis letztes Modell“


Auch in ihrer Liebe lag ein Kern von Gewalt: 1959 lernt der Schweizer Künstler Alberto Giacometti (1901 – 1966), der seit 1922 überwiegend in Paris lebt, bei einem seiner nächtlichen Streifzüge durch die Kneipen im Quartier de Montparnasse die wesentlich jüngere Caroline kennen. Die Prostituierte, die versucht, in der Stadt an der Seine dem Elend der Provinz zu entfliehen, wird Giacomettis letzte Geliebte und sein letztes wichtigstes Modell: Es entstehen rund 20 Portraits, zahlreiche Zeichnungen und Grafiken, auch eine Bronzebüste.

Eines dieser Bilder zieht den Schriftsteller und Kunsthistoriker Franck Maubert bei einem Besuch im Musée d`Art Moderne in seinen Bann:

„Dort rief mich ein Lichtschein, und diese sitzende Frau sah mich an, sah nur mich an und wurde stärker als alles andere.“

Jahrzehnte später sitzt Maubert dieser Frau tatsächlich gegenüber: In Nizza trifft er Caroline Tamagno, alt, glücklos, verarmt. Aber immer noch einen Rest des Charmes ausstrahlen, der wohl auch Giacometti in seinen Bann zog – ein Charme, gepaart mit traurigen Augen. Verschwunden scheinen jedoch die unbändige Lebenslust und der Freiheitswille, mit dem sie ihren Liebhaber in Atem hielt – Maubert erzählt in seinem schmalen Buch, in Frankreich mit dem „Prix Renaudot Essai“ ausgezeichnet, eine melancholische  Geschichte. Die Geschichte einer Liebe, die nur noch wehmütige Erinnerungen hervorruft.

Das Glück mit dem großen G

Caroline sagt dem Zuhörer, für sie sei es das Glück mit großem G gewesen, auch wenn niemand sonst diese Liebe verstanden hätte. Maubert ist ein guter, zurückhaltender Beobachter. Er studiert die Frau gründlich und auch ein wenig distanziert, als betrachte er ein Kunstwerk, zugleich aber fühlt er sich in ihren Charakter ein, spürt die Widersprüchlichkeiten, auch ihre dunklen Seiten.

„Wolken, kleine Dunstflocken, zerfasern den Himmel. Caroline sackt in sich zusammen, und ihr Kopf scheint zu schrumpfen wie der einer Skulptur von Alberto. Ein Glanz in ihren Augen, eine kleine Sekunde lang, und die Hoffnung nimmt ab, das Leuchten schwindet.“

Von 1961 bis 1965 besucht Caroline Giacometti beinahe täglich in dessen Atelier, eine „amour fou“, deren Bande auch gegen den Widerstand von Annette, Giacomettis Frau, und dessen Bruder Diego immer enger werden: Der wesentlich ältere Liebhaber versorgt Caroline mit Geld, lässt sich von ihren Halbwelt-Freunden ab und an ausnehmen, schenkt ihr ein Auto, hilft ihr manches Mal aus der Bredouille. Er nimmt sie mit in den Louvre, den das Mädchen aus prekären Verhältnissen erstmals besucht, und auf Reisen, unter anderem nach London, durch ihn lernt sie die Kunst und Künstler, beispielsweise Francis Bacon kennen.

Caroline ist bis zuletzt bei dem Künstler

Es scheint jedoch mehr als die bekannte Geschichte vom wohlhabenden älteren Mann und der jungen Frau zu sein – als Giacometti, vom Krebs gezeichnet, in einer Klinik in Chur im Sterben liegt, kommt Caroline, ist in seiner letzten Stunde bei ihm, und ist – wenn auch hinter der Gattin, den Verwandten, den Kollegen – bei seiner Beerdigung. Was ihr bleibt? Ein einziger zerknüllter Zettel, ein handschriftlicher Gruß Giacomettis. Kein Bild, keine Skizze, nicht einmal eines ihrer Portraits. Und auch keine Aufmerksamkeit: An die Musen der berühmten Künstler erinnert sich die Geschichte meistens nicht. Sie wäre vergessen, hätte Maubert nicht diesen Text leisen, intimen Text geschrieben, der die Gesprächssituation mit all ihren Wendungen, mit den Zweifeln und Fragen, die bleiben, lebendig werden lässt. Was verband die beiden, Alberto und Caroline? Wann war es bei ihr Berechnung, wann Gefühl? Und was fand er in ihr, der Künstler?

Für Caroline jedenfalls war dies gewiss: „Ich war seine Maßlosigkeit“.


„Caroline“ erschien in der Reihe der „Nicht so kleinen Bibliothek“ im Piet Meyer Verlag. Der Reihentitel ist ein feines, ein wenig ironisches Understatement für eine ziemlich großartige Bibliothek – hier finden sich literarische Texte über große Künstler, die einen ganz eigenen Blick auf deren Schaffen eröffnen. Literarische Preziosen, liebevoll aufgemacht und schön gearbeitet, mit zahlreichen Abbildungen, biographischen Angaben, mit erläuternden Nachworten und weiteren Informationen. Leider stellte der Verleger seine Tätigkeit 2021 ein.

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