LIOBA HAPPEL: POMMFRITZ aus der Hölle

Mit „POMMFRITZ aus der Hölle“ stand Lioba Happel auf der Shortlist beim Schweizer Buchpreis 2022 und erhielt einen der Schweizer Literaturpreise 2023. Ungewöhnlich für einen Roman, der einem absoluten Antihelden eine Stimme verleiht.

Zahlreiche Besprechungen in den Schweizer Medien, Shortlist zum Schweizer Buchpreis 2022 und zuletzt einer der Schweizer Literaturpreise 2023 an Lioba Happel für diesen außergewöhnlichen Roman: Ein großer Erfolg für ein Buch, das einen “Anti-­Helden, wie es in der Literatur nicht viele gibt, ein unglückseliges Monster” (Jan Koneffke) in den Mittelpunkt stellt. Man weiß nicht, soll man sich vor Grauen von POMMFRITZ abwenden oder vor Mitleid geschüttelt sein bei der Geschichte dieses Mannes, der im Gefängnis sitzt, weil er Teile seiner Mutter verspeist hat …

“POMMFRITZ aus der Hölle” ist auf jeden Fall eines: Ein Roman, der einen beim Lesen im wahrsten Sinne des Wortes mitnimmt, packt und lange nicht loslässt. Pommfritz, der Ich-­Erzähler, schreibt an seinen „Vatter in den Emmentälern“, den er vor langer Zeit einmal zu Gesicht bekommen hat, aus der Hölle seines Lebens. Er berichtet von der Kindheit, die er, angebunden an ein Tischbein, fliegentötend, bei einer gewalttätigen, schweigsamen, Grillhühnchen und Pommes verschlingenden Mutter verbringt; von den Besuchen der Angelina vom Sozialamt, einem Wesen zwischen Rosenduft und Formularfrust, und wie die Mutter sie „in die Pfanne haut“; von härtesten Prüfungen unter den Jugendlichen in der Spezialschule; von seiner Liebe zur Prügellilly, deren schlagkräftige Zärtlichkeit die der Mutter noch übertrifft und von der Einzelhaft im Gefängnis, wo er auf der untersten Stufe der Verbrechen steht – denn er hat seine Mutter getötet und danach verspeist – „naja, Stückchen von ihr, ne Kuppe vom Finger“.

Lioba Happel, so die Begründung der Jury zum Schweizer Literaturpreis, gelang mit diesem Roman eine sprachmächtige und zutiefst menschliche Groteske. Den Zumutungen seiner Existenz begegnet Pommi mit Wucht und Witz und einem ungeheuren Willen zur Selbstbehauptung. Sein Hunger nach Literatur, nach Anerkennung, nach Leben entfaltet einen Sound, der lange nachhallt. Monster oder Gott – wer mag das entscheiden?

Die Autorin:

Lioba Happel, 1957 in Aschaffenburg geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Lausanne. Für ihr Werk hat sie etliche Würdigungen erhalten, zuletzt 2021 den Alice Salomon Poetik Preis. Ihr letzten Werke sind in der edition pudelundpinscher erschienen: LUCY oder Warum sind die Menschen so komische Leute, Erzählung (2007); land ohne land, Gedichte (2009); PULS. 100 Gedichte (2017) sowie POMMFRITZ aus der Hölle (Nov. 2021).


Bibliographische Angaben:

Lioba Happel
POMMFRITZ aus der Hölle
edition pudelundinscher 2022
Klappenbroschur, 168 Seiten
ISBN: 978-3-906061-25-2


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag

Hansjörg Schneider: Hunkeler in der Wildnis

Auch in seinem zehnten Hunkeler-Fall zeichnet Hansjörg Schneider wieder ein ganz besonderes Sittengemälde der Schweizer Gesellschaft.

Hunkeler blickt hinter die schönen Basler Fassaden. Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Dies war die schönste Zeit des Tages, wenn er aus tiefer Nacht erwachte und erkannte, dass alles in Ordnung war. Die Welt der Träume, der er dann manchmal entstieg, war ganz und gar nicht in Ordnung. Er wusste das, obwohl er sich beim Erwachen kaum je an einen genau umrissenen, erzählbaren Traum erinnern konnte. Bloß an beängstigende Unordnung, in der alles Vernünftige aus den Fugen geraten war.“

Hansjörg Schneider, „Hunkeler in der Wildnis“


Es hat etwas Beruhigendes, den Hunkeler zu lesen.

Beruhigungsfaktor Nummer eins: In seiner Bärbeißigkeit, seiner Misanthropie ist der Hunkeler eine Konstante. In seinem zehnten Fall nun zwar im Ruhestand, bleibt er immer noch genervt von den Kollegen, den Mitmenschen, den Umständen des Lebens überhaupt. Das Granteln und Grummeln deutet jedoch auf eine besondere Feinfühligkeit hin, die nur ausgeglichen werden kann durch weitläufiges Spazierengehen, stundenlanges Sitzen bei einem Wein vor dem Haus, durch Steingeschosse in die Fenster der laut feiernden Nachbarn (dass das Geschoss versehentlich das Fenster eines verschreckten alten Ehepaares zertrümmert, bringt die seelische Konstruktion wieder gefährlich ins Wanken).

Beruhigungsfaktor Nummer zwei: Manchmal schielt man neidvoll auf die eidgenössischen Nachbarn, bei denen so manches anders, aber nach außen hin immer so proper erscheint. Der Hunkeler mit seinem großen Verständnis für die Abgehängten, Abseitigen, Verwirrten, er nimmt einen mit hinter die Fassaden. Beispielsweise ins Basler „Milchhüsli“, eine Kneipe, wo schon einmal ein Betrunkener auf dem Boden pennt. Man lernt mit dem Alt-68er Hunkeler: Die Schweiz hat ihren Reiz, aber eben nicht für jeden. Jede Gesellschaftsordnung, die auf Konsum und Kapital basiert, produziert auch ihre Opfer. Um die sich der Hunkeler dann, Ruhestand hin oder her, kümmert.

Blick auf das abseitige Basel

Beruhigungsfaktor Nummer drei: Hunkeler-Krimis zu lesen, das ist immer mehr, als „nur“ einen Krimi zu lesen. Das „literarische Gewissen“ darf sich beruhigend einlassen – das ist mehr als bloße Spannungsliteratur (das ist es im Grunde sogar am wenigsten), sondern immer auch Gesellschaftskritik, Philosophie, Lebenskunst. Meist rutscht der Kriminalfall nach hinten, in diesem, dem zehnten Fall sogar ein bisschen zu sehr: Der Tod eines Kritikers (das löst bei Walser-Lesern zunächst einen Schreckmoment aus) wird beinahe linker Hand aufgelöst, ist im Grunde nur der Rahmen. Hansjörg Schneider lässt seinen brummigen Ermittler diesmal mäandern durch Stadt (Basel), Land (Elsass) und Fluss (eine Runde im Rhein zu schwimmen, gehört da einfach dazu) und führt seine Leser somit in ganz verschiedene Lebenswelten, die von obdachlosen Ex-Kommunisten, streunenden Stadt-Indianerinnen, von Alkoholikerinnen und ätherisch scheinenden Künstlerinnen bewohnt werden. Geschickt verknüpft Schneider Gegenwart und Vergangenheit, zeigt auf, wie die Verstrickungen der Menschen während des Nationalsozialismus auch heute noch im Drei-Länder-Eck nachwirken.

Hunkeler zu lesen, das ist auch eine Übung in Entschleunigung. So unzulänglich einem die Welt da draußen auch erscheint, nach einigen Stunden mit dem philosophierenden Ex-Kommissar kommt man wieder in seine Mitte. Ohm. Ein Fazit, das auch Sylvia Staude von der Frankfurter Rundschau zieht:

„Allemal geht es bei Hansjörg Schneider mehr um Lebensphilosophie in schweizerischer Gelassenheit und leiser Melancholie, als um einen Whodunnit. Die Sache mit dem toten Kritiker ist bald nur ein Nebenbei. Und es stimmt schon, dass Hunkeler auch aufbrausend sein kann. Aber als Leserin kommt man mit ihm zur Ruhe, wird trotzdem nicht im Seichten unterhalten.“


Weitere Besprechungen gibt es bei:

Krimi-Couch
arcimboldis world

Informationen zum Buch:

Hansjörg Schneider
Hunkeler in der Wildnis
Diogenes Verlag, 2020
ISBN: 978-3-257-07097-2

Daniel de Roulet: Zehn unbekümmerte Anarchistinnen

Zehn Schweizerinnen machen sich nach Patagonien auf, um dort in Freiheit zu leben. Nur eine bleibt übrig, um von diesem anarchistischen Experiment zu erzählen.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Uns alle beeindruckte der Feuereifer eines jungen, italienischen Anarchisten, den sie Benjamin nannten. Er war erst 18 Jahre alt und hing an den Lippen von Bakunin, der achtundfünfzig Jahre alt war, von denen er zehn im Gefängnis verbracht hatte. Eines Abends erzählte der russische Prinz im Café de la Place von seiner Flucht aus Sibirien, wohin er deportiert worden war. Er war über Japan, Kalifornien, New York geflohen, bevor er nach London zurückgekehrt war, um mit Karl Marx zu streiten, dessen Bücher er ins Russische übersetzt hatte. Benjamin spendierte die Runde, sagte, es sei ganz natürlich, für eine Idee um die Welt zu reisen.“

Daniel de Roulet, „Zehn unbekümmerte Anarchistinnen“

Sie träumen von der Freiheit und der Liebe, lassen sich von „Julie oder Die neue Heloïse“ zu Tränen rühren und spüren vor allem, dass das Leben, das sie in ihrem Tal im Berner Jura fristen, so weder in Ordnung noch gerecht ist. Zehn junge Frauen, die sich zu zehn „unbekümmerten Anarchistinnen“ entwickeln. Sie wollen der Enge und Armut ihrer Heimat entfliehen, der Ausbeutung durch die Uhrmacherindustrie, der politischen Unterdrückung und der Kontrolle durch die Kirchenvertreter. Am anderen Ende der Welt wollen sie ihr Glück suchen und dort – zunächst in Patagonien, dann auf einer Pazifikinsel und am Ende in Buenos Aires – ihren Traum von einem freien Leben ohne Autoritäten und ohne Ungleichheit leben.

Am Ende bleibt nur eine übrig, um vom großen Experiment zu berichten: Die spröde, skeptische Valentine, die als Erzählerin in chronologischer Reihenfolge von den einzelnen Stationen der Gruppe berichtet. Überall dort, wo die Frauen ankommen, versuchen sie ihre Utopie vom Zusammenleben in Freiheit zu leben. Sie, die in der Uhrenindustrie in Saint-Imier als billige Arbeiterinnen ausgebeutet wurden, gründen in Südamerika eine Bäckerei, eine Uhrmacherwerkstatt, schlagen sich mit wechselnden Jobs durch – aber sie stehen auf eigenen Füßen. Manche von ihnen lieben Frauen, manche wechseln ihre Liebhaber ständig, andere, wie Valentine, trauern einem Phantom hinterher. Doch all dies ist erlaubt, wird akzeptiert: Platz ist für jeden in dieser Gruppe.

Nur eine Frau bleibt übrig

Doch analog zum Kinderlied von den „ten little Injuns“ geht bei jedem Kapitel eine der unbekümmerten Anarchistinnen verloren. Die meisten der Frauen sterben, werden ermordet, überleben Schwangerschaften, Krankheiten, Epidemien und Revolutionsmärsche nicht. Kann man da von einem gelungenen Experiment sprechen? Die 64jährige Valentine, die Übriggebliebene, schreibt Jahre später darüber, will davon erzählen, „was es kostet, die Welt neu zu erfinden.“ Sie, die sich als Berichterstatterin versteht, will ein Zeugnis ablegen:

„Uns liegt weder an Spott noch an Glorifizierung. Einfach unsere Portraits, unsere Liebesgeschichten, unsere Überzeugungen, keine Urteile, keine Übertreibungen. Eher eine Art politisches Testament, also eine ernste Sache. Wie Sie sehen werden, hatten wir alle ein ausgefülltes Leben.“

Die nüchterne Erzählerin weiß:

„Wir hatten eine zufriedenstellende Lebensform gefunden oder fast. Denn man weiß ja, dass ein befreiter Raum nur etwas Vorübergehendes sein kann. Solange Anarchie nur in einer kleinen Gemeinschaft gelebt wird, bleibt die Welt ringsum bedrohlich.“

Insofern ist das Experiment für die Frauen, zwischen 17 und 31 Jahre alt, als sie aus der Schweiz aufbrechen, gescheitert – immer wieder stoßen sie auf ihren Stationen an Grenzen stoßen, von staatlicher und männlicher Autorität errichtet, immer wieder müssen sie von vorne beginnen. Halt gibt ihnen die Solidarität unter Frauen:

Mehrere von uns Frauen taten sich zusammen, um zu schreiben. Wir wollten zeigen, dass wir auch etwas im Schädel und nicht nur im Bauch hatten. Mathilde formulierte ein paar Dinge sehr deutlich: „Nur die soziale Revolution vermag den Klerus, die Regierung, die Herrschaft, den Kapitalismus, die Gesetzbücher, die Richter und Staatsanwälte und das ganze Faulenzerpack zu beseitigen, das nichts produziert und auf unsere Kosten von allen profitiert.“

Der Schriftsteller Daniel de Roulet erzählt diesen kleinen Roman auf der Basis historischer Begebenheiten: Tatsächlich war das Zentrum der Schweizer Uhrenindustrie zeitweilig auch das Zentrum der internationalen anarchistischen Bewegung, tatsächlich trugen viele Schweizer Emigranten die anarchistische Utopien in die Welt hinaus.

Reale Ereignisse als Hintergrund

Die Ausgangshandlung basiert auf wirklichen Geschehnissen: 1872 kamen auf Einladung der Arbeiterorganisation „Juraföderation“ in St-Imier im Berner Jura die Delegierten der antiautoritären Gruppierungen zusammen, dabei wurde die „Antiautoritäre Internationale“ gegründet. Dies war eine Reaktion auf den Kongress der Ersten Internationalen, bei dem es Karl Marx gelungen war, Anarchisten wie Bakunin auszuschliessen. Bis heute ist Saint-Imier übrigens die einzige Gemeinde in der Schweiz mit einer anarchistisch-kommunalistischen Gemeindeführung und war 2012 Schauplatz einer erneuten antiautoritären Internationalen. Marianne Enckell, Archivarin und Bibliothekarin des Lausanner „Centre International de Recherches sur l’Anarchisme“, erinnerte in diesem Zusammenhang an die Anfänge:

„1869 kommt Bakunin nach Le Locle, im Neuenburger Jura, wo er Vorträge hält und Uhrenarbeiter trifft, die mit der Bildung der ersten autonomen Widerstandsverbände begonnen haben. Die Arbeiter wollen sich allein organisieren, ausbilden und bessere Arbeitsbedingungen erkämpfen.

Es ist eine Begegnung zwischen einem Revolutionstheoretiker und Leuten, die beginnen, konkrete Organisationserfahrungen zu machen. Es ist eine gegenseitige Verführung. Nach und nach übernehmen die Jurassier anarchistische Positionen, und Bakunin beginnt, sich hauptsächlich den praktischen Fragen der Arbeiterbewegung zu widmen.“

Quelle: Bakunin und die Uhrmacher

Nur wenige Frauen haben jedoch – wie auch das Interview verdeutlicht – damals in der anarchistischen Bewegung tatsächlich eine entscheidende Rolle gespielt. Eine der wenigen, Louise Michel, platziert der Autor geschickt in seinem Roman: Die Schweizerinnen lernen sie auf der Überfahrt nach Patagonien kennen, sie wird deportiert. Die skeptische Valentine zählt Louise Michel zu den „ganz Eisernen“, die in der Ehe, in der Familie die „größte Geißel der Menschheit sehen“. Im Roman formulieren die Frauen schließlich ihre eigenen Prinzipien:

„Auf dem Gebiet von Sexualität und Liebe wird absolute Freiheit herrschen, und Paare, die schon vor ihrem Aufenthalt auf dem Territorium des Experiments bestanden, dürfen ihr Leben weiterführen wie bisher. Mit einem Wort, jede Frau kann frei über sich selbst bestimmen, niemand darf jemals ihre Freiheit beschränken.“

Dieses Prinzip leben die Frauen bis zum Ende, diese Freiheit haben sie sich erobert: Und damit ist das Experiment denn doch für jede einzelne von ihnen gelungen.

Daniel de Roulet legt seiner Erzählerin eine spröde, fast karge Sprache in den Mund. Mehr Jura-Gestein denn patagonische Lava. Diese Schmucklosigkeit und die längeren Zitate anarchistischer Texte machen den Roman, der von Maria Hoffmann-Dartevelle aus dem Französischen übersetzt wurde, schränken den Lesegenuss gelegentlich ein. Stilistisch konnte mich der Roman nicht überwältigen.

Und dennoch empfand ich die Lektüre als bereichernd: In einer Zeit, in der so vieles im Umbruch ist und im Argen liegt, tut es gut und not sich an politische Ideal, meinetwegen Utopien, zu erinnern, die andere Formen menschlichen Zusammenlebens zum Ziel haben.

Denn die Frage, die sich durch diesen schmalen Roman zieht, lautet: Wie frei wollen wir leben?

Informationen zum Buch:

Daniel de Roulet
Zehn unbekümmerte Anarchistinnen
Übersetzt von Maria Hoffmann-Dartevelle
Limmat Verlag, 2017
ISBN: 978-3-85791-839-1

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