BJÖRN HAYER: Die neuen Schöpfer

Welchen Stand hat die moderne Lyrik in der zeitgenössischen Literatur? Der renommierte Kritiker Björn Hayer zeigt in 25 Essays auf, dass und warum die Gegenwartslyrik das Potential hat, ein visionärer Wegweiser zu sein.

Was kann Lyrik? Kann sie ein Leben verändern? Ausgehend von Rilkes berühmten Satz „Du musst dein Leben ändern“ spürt der Autor und Literaturkritiker Björn Hayer in seinem neuen Buch „Die neuen Schöpfer“ der Wirkmacht und Bedeutung zeitgenössischer Lyrik nach. In über 25 Essays zeigt Hayer Entwicklungen der Lyrik heute auf – sowohl die Lust moderner Autor*innen am Ausloten neuer Sprachformen als auch die Auseinandersetzung mit den Themen, die unsere krisengeschüttelte Welt plagen. Das Buch erscheint am 11. März 2024 im Gans Verlag.

Der Band versteht sich als Aufriss, mal eines Begeisterten, mal eines Kritikers. „Die vorliegenden Essays sind getragen vom Bewusstsein, dass die Lyrik der Spätmoderne sich nicht mit einem Nischendasein abgibt, sondern berechtigterweise für sich den Rang einfordert, die bisweilen trostlos-entfremdete Gegenwart nicht nur zu begleiten oder nachzuzeichnen, sondern ihr ein visionärer Wegweiser zu sein“, so Hayer in seinem Vorwort. Die wie „Phönix aus der Asche auferstandene Lyrik der jüngeren Gegenwart“ zeuge von einem neuen Wagemut: „Sie findet sich nicht mit der Welt ab, wie sie ist, sondern zielt auf deren Veränderungspotenzial. Sie gibt unserem Denken Weite, lotet Möglichkeitsräume aus und fragt nach Visionen und Alternativen.“

So sei der Gender-Diskurs längst Teil der DNA moderner Lyrik, ebenso hätten Themen wie die ökologische Wende, ein neues Mensch-Tier-Verhältnis, die globale Migration, die Zukunft im Licht der Künstlichen Intelligenz oder die kritische Auseinandersetzung mit einem patriarchal geprägten Kanon längst schon Einzug in die Gegenwartslyrik genommen. Jenseits ihres kritischen Potenzials werde aber auch die produktive Kraft der Poesie deutlich: „Mehr als alle anderen Gattungen vermag sie das Vergängliche im Augenblick zu bewahren.“

Björn Hayer zieht für seine Essays Gedichtbände unter anderem von Silke Scheuermann, Marion Poschmann, Jan Wagner, Björn Kuhligk, Dagmara Kraus und vielen anderen zeitgenössischen Lyriker*innen hinzu (siehe Personenverzeichnis). So ist „Die neuen Schöpfer“ ein Buch, das neugierig macht auf die Gegenwartslyrik und einen profunden Überblick verschafft über deren Stellung in der Literatur heute.
Im Gans Verlag werden weitere Essaybände von Björn Hayer erscheinen, Essays zum Theater und zur Politik und Weltgeschehen sind in Vorbereitung.


Zum Autor:

Dr. Björn Hayer, geboren 1987, studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft und arbeitet als Literatur- und Theaterkritiker für verschiedene Medien. Zudem ist er Privatdozent für Literaturwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau. Als Autor trat er bisher mit Lyrik- und Essaybänden in Erscheinung. 2022 erschien mit „Elegie für dich. Ein Fragment“ sein Prosadebüt. 2022 wurde ihm der Medienpreis der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayern verliehen.

Bild: Eva Korn


Zum Buch:

Björn Hayer
Die neuen Schöpfer
Texte zur zeitgenössischen Lyrik
Hardcover mit Fadenbindung und Lesebändchen
250 Seiten | 18 x 13 cm | 28,00 Euro | 978-3-946392-41-5
ET: 11. März 2024


Downloadbereich:


Kontakt Verlag:

Gans Verlag
Ulrich Leinz
Katzlerstr. 13
10829 Berlin
Telefon: 0179 1305279
Mail: gansverlag@gansverlag.de
https://www.gansverlag.de/

Rainer Maria Rilke – Ich ließ meinen Engel lange nicht los

Den Gedichtband „Dir zur Feier“ widmete Rainer Maria Rilke seiner großen Liebe Lou Andreas-Salomé. „Ich ließ meinen Engel lange nicht los“: Im Grunde die Bestandsaufnahme einer komplizierten Paarbeziehung.

Bild: Birgit Böllinger

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…

Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, –
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten –
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.

Rainer Maria Rilke, Engellieder aus dem Band „Dir zur Feier“ (1897/1898).

Als ich dieser Tage diesen Schnappschuss dieser Flügelwesen im Regen machte, kam mir der Halbsatz „Wenn Engel weinen…“ in den Sinn. Und wenn ich schon in sentimentaler Stimmung bin, dann ist meist auch Rilke nicht weit. Manche nennen seine Gedichte Kitsch, ich dagegen staune immer wieder, wie man soviel Gefühl gepaart mit Verstand in sprachliche Musik umwandeln kann. Den Gedichtband „Dir zur Feier“ widmete er seiner großen Liebe Lou Andreas-Salomé, die „Engellieder“ sind im Kapitel „Mir zur Feier“ zu finden. „Ich ließ meinen Engel lange nicht los“: Im Grunde eine ganz unsentimentale Bestandsaufnahme einer komplizierten Paarbeziehung.

Ite Liebenthal: Gedichte

Die Philosophin und Lyrikerin Ite Liebenthal veröffentlichte schon früh eigene Gedichte. Unter den Nationalsozialisten verstummte sie, 1941 wurde sie ermordet.

Bild: (c) Michael Flötotto

Mein Vaterland, du bist vor mir gestorben,
doch wirst du auferstehn und ich mit dir.
Die dich vernichteten und mich verdorben,
sie sind verflucht, und leben werden wir!

Ite Liebenthal (1886 – 1941)


Dass diese ausdrucksstarke Lyrikerin, die von Rilke gefördert wurde, nicht ganz ins Vergessen geriet, ist einigen wenigen zu verdanken: So vor allem dem Literaturprojekt „Poesie schmeckt gut“. Die beiden Herausgeber widmeten ihr einen Band ihrer Lyrikreihe „Versensporn“. Enthalten sind darin nicht nur die frühen Gedichte, die Ite Liebenthal zu Lebzeiten veröffentlichen konnte, sondern auch Texte aus dem Nachlass. Sie stammen von Abschriften, die sich bei den Nachkommen ihrer Ite Liebenthals erhalten hatten: Während ihre Schwester und ihr Bruder nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten emigrierten, entschied sich Ite Liebenthal, in ihrem Geburtsort Berlin zu bleiben, allein, vereinsamt und in ständiger Furcht vor der Verfolgung. Eine fatale Entscheidung: 1941 wurde sie von Berlin nach Riga deportiert, schon wenige Tage später wurde sie – wie alle 1052 Insassen dieses Massentransportes – im Wald von Rumbula ermordet.

Der erste Gedichtband erschien 1906

Das Vaterland, es dankte ihr die Treue schlecht. Mit ihr starb eine weitere kluge, starke Stimme, eine Vertreterin der weiblichen jüdischen Intelligenz. Die junge Ite Liebenthal ist eine begabte Schülerin, ein kreativer Geist: Bereits als 20-jährige veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband „Aus der Dämmerung“, der 1906 erscheint.

Ihre frühen Gedichte sprechen vor allem von der Sehnsucht nach einem Gegenüber, nach einer geistigen und seelischen Verwandtschaft oder gar Verbrüderung:

Nachts gehen alle Uhren lauter,
und jede Stunde schlägt mit Doppelklang.
Doch auch dein Herzschlag ist mir dann vertrauter.
Laß gehn die Zeit. Mir ist nicht bang.

In deiner Seele Brudernähe
beruhigt sich die Angst der Mitternacht.
Und wenn mir morgen bitter Leid geschähe, –
du bist bei mir! du hast mit mir gewacht.

Manches Mal auch etwas pathetisch, elegisch im Ton:

Wüßt ich, daß ich nur zu sterben brauchte
und mein Herz, in Silber dann gefaßt,
einen Talisman für dich bedeute:
Ach, ich tötete mich heute! (…)

Sie schreibt von Hingabe, von der Suche, aber auch von Trennungsschmerz und dem Wissen darum, dass alles endlich ist:

Nur zu Gruß und Lebewohl berührten
wir einander scheu mit kalten Händen.
Und es war, als ob in Feuerbränden
wir mit ölgetränkten Zweigen schürten.

Und wir sehen, wie die Flammen stiegen,
doch verrieten nicht, daß wir es sahen.
Und so fühlten wir das Ende nahen,
lächelten, verließen uns und schwiegen.

Von 1909 bis 1916 studierte sie Philosophie an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Sie hört unter anderem Vorlesungen zu Literatur und Philosophie bei Emile Haguenin, Adolf Lasson, Heinrich Rickert und Karl Jaspers. Die Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen schlägt sich auch in ihrer Lyrik nieder, der Ton wird mit der Zeit reifer, das Suchen weniger drängend, in die Gedichte tritt mehr und mehr Ruhe und ein wenig Gelassenheit ein – doch Schwermut bleibt der Grundton.

Still kehr ich heim von langen Wanderfahrten.
Noch decken Nebel meine liebe Küste,
als ob ein Freund mir langsam erst mit zarten
Trosthänden diese Welt enthüllen müsste.

Nimm fort das Tuch! Ich weiß: in weiter Fläche
dehnt sich das Land zur Ferne. Seine Wunder
sind dunkle Wälder, stille, breite Bäche
und Gärten unter Birken und Holunder.

Rilke ist von ihren Werken beeindruckt. Am 18. Januar 1922 schreibt er in einem Brief an Ite Liebenthal:

„Noch diesen Morgen, als ich die ›Gedichte‹ wieder vornahm, fiel mir eine köstliche alte Apotheke ein, die ich vor Jahren einmal in der einstigen Bischofstadt Carpentras, um ihres künstlerischen Werthes willen, zum Kauf angeboten bekam. Ihre Verse, heute, brachtens mit sich, daß ich auf einmal im Dunkel des schönen, offenen, die Wände auffüllenden Geschränkes, die geschlossenen Vasen vor mir sich hinreihen sehe: jede anders im blaublumigen, ausdrucksvollen Ornament, und doch wieder alle gleich; jede ein Gift, eine Gluth oder eine Kühlung einschließend, mit dem vollen großen, ja geschwungenen Namen dieses Inhalts, ihn so offen ansagend ― und doch wieder ihn völlig verhaltend, jede einzelne, in ihrer, die Verschließung so unübertrefflich aussprechenden Gestaltung…“

Sein Bemühen, ihre Gedichte beim Insel Verlag unterzubringen, bleibt jedoch vergeblich. Zwar erscheint 1921 noch ein weiterer Lyrikband zu ihren Lebzeiten, „Gedichte“ im Verlag Erich Lichtenstein in Jena, doch danach wird es leiser um sie, die trotz ihres Studiums ihren Lebensunterhalt als Sekretärin fristen muss. In der Folge erscheinen nur noch einige Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Zeitschriften, was ihr Leben darüber hinaus ausmachte, was ihren Alltag prägte, was ihre Wünsche und Träume waren, davon ist wenig mehr bekannt.

Erhalten blieben ihre Gedichte, die von einer tiefen Sehnsucht sprechen:

Ich hab meine Füße wund gegangen,
weißt du, um wen?
Und konnte doch nicht bis zu dir gelangen.
Ich hab dich nicht einmal von fern gesehn.

Ich hab meine Hände müd gerungen,
weißt du, warum?
Nicht Rufes Hauch ist bis zu dir gedrungen.
Die Welt ist allzuweit, und du bliebst stumm.

Ich hab meine Augen blind geweint,
frage nicht, wann.
Ich weiß schon lang nicht mehr, ob Sonne scheint,
der Tag sich wendete und Nacht begann.


Bibliographische Angaben:

Ite Liebenthal
Versensporn – Heft für lyrische Reize Nr. 10.
Herausgegeben von Bo Osdrowski & Tom Riebe.
Edition Poesie schmeckt gut, Jena 2013.

Rainer Maria Rilke – Einmal nahm ich

Neben den „Duineser Elegien“ ist es sein wichtigstes Werk der späten Jahre: Der Zyklus „Gedichte an die Nacht“, den Rilke 1916 zusammenstellt.

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Einmal nahm ich zwischen meine Hände dein Gesicht.
Der Mond fiel darauf ein.
Unbegreiflichster der Gegenstände
unter überfließendem Gewein.

Wie ein williges, das still besteht,
beinah war es wie ein Ding zu halten.
Und doch war kein Wesen in der kalten
Nacht, das mir unendlicher entgeht.

O da strömen wir zu diesen Stellen,
drängen in die kleine Oberfläche
alle Wellen unsres Herzens,
Lust und Schwäche,
und wem halten wir sie schließlich hin?

Ach dem Fremden, der uns mißverstanden,
ach dem andern, den wir niemals fanden,
denen Knechten, die uns banden,
Frühlingswinden, die damit entschwanden,
und der Stille, der Verliererin.

Rainer Maria Rilke, Aus dem Nachlass.

Rainer Maria Rilke – Sieben Gedichte

Die „Sieben Gedichte“ erschienen erst nach Rilkes Tod. Sicher besser so: Sie lesen sich fast parodistisch, wie die Ergüsse eines Jünglings. Ein Auszug hier.

Bild von DerWeg auf Pixabay

Schwindende du kennst die Türme nicht.
Doch nun sollst Du einen Turm gewahren
mit dem wunderbaren
Raum in dir. Verschließ dein Angesicht.
Aufgerichtet hast du ihn
ahnungslos mit Blick und Wink und Wendung.
Plötzlich starrt er von Vollendung,
und ich, Seliger, darf ihn beziehn.
Ach wie bin ich eng darin.
Schmeichle mir, zur Kuppel auszutreten:
um in deine weichen Nächte hin
mit dem Schwung schoßblendender Raketen
mehr Gefühl zu schleudern, als ich bin.

Rainer Maria Rilke

Sieh an, sieh an: Der feinsinnige Rilke kann auch anders. Zumindest auf dem Papier. Ein Blick von ihr und ihm gehen die Raketen durch – nun gut, diese Metapher klingt schon etwas martialisch. Die spielen Liebe, die spielen Krieg. Aber am Ende verrät er sich denn doch, der dichtende Papiertiger – verschleudert mehr Gefühle, als er hat. Ach, Herr Rilke! 

Lesezeichen von: Rainer Maria Rilke

Rilke und Lou Andreas-Salomé: Ihre leidenschaftliche Liebe währte nicht lange, ihre Freundschaft ein Leben lang. Geblieben sind wunderbare Briefe.

Bild von Nile auf Pixabay

Aus meinem Tag soll ich Dir noch erzählen: er ist arm, denn Du bist fern; er ist reich, denn Deine Güte liegt leuchtend über seinen Dingen. Ich spreche viel zu Dir und mit allem von Dir. Lebe leider mitten unter Menschen die mit ihrem Lautsein meine Träume stören, natürlich kenne ich keinen. Es sind Menschen, die von Ausflügen, Regentagen und Kindererziehung sprechen, sich tiefe Verbeugungen machen, wobei sie grinsen und sich die Hände reiben, und sich täglich zehnmal übermäßig laut „Guten Morgen“ sagen. (…) Es ist nicht allein wertvoll, daß zwei Menschen einander erkennen, es ist von großer Wichtigkeit, daß sie einander zu rechten Zeit finden und mit einander tiefe und stille Feste feiern in denen sie zusammenwachsen in ihren Wünschen, um gegen Stürme geeint zu sein. Wieviele Menschen mögen schon an einander vorübergegangen sein, weil sie nicht Zeit fanden sich an einander zu gewöhnen; ehe zwei Menschen gemeinsam unglücklich sein dürfen, müssen sie zusammen selig gewesen sein und eine gemeinsame heilige Erinnerung haben, die verwandtes Lächeln auf ihre Lippen und verwandte Sehnsucht in ihren Seelen bewahrt. (…) Solche Menschen gehen durch alle Stürme gemeinsam.

Ich fühls!
Rainer.

Rainer Marie Rilke an Lou Andreas-Salomé, 5.9.1897

Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter

Franz Xaver Kappus wandte sich an den älteren Rilke: Sollte er Schriftsteller werden? Die Antwortbriefe Rilkes: Poetische, kluge Lebensratgeber.

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Geduld

Und ich möchte dich,
so gut ich kann bitten,
Geduld zu haben gegen alles Ungelöste
in deinem Herzen,
und zu verstehen.
Die Fragen selbst liebzuhaben
wie verschlossene Stuben
und wie Bücher, die in einer fremden Sprache
geschrieben sind.
Forsche jetzt nicht nach Antworten,
die dir nicht gegeben werden können,
weil du sie nicht leben könntest.
Und es handelt sich darum,
alles zu leben.
Vielleicht lebst du dann
allmählich – ohne es zu merken –
eines fernen Tages in die Antwort hinein.

Rainer Maria Rilke war ein Viel-Brief-Schreiber. Rund 7000 Briefe sind erhalten – und beinahe jeder Brief auch ein Gedicht. Sie gelten als Teil seines literarischen Werks, legen Zeugnis ab vom sprachlichen Stilvermögen, aber auch vom menschlichen Einfühlungsvermögen dieses Dichters. Man möchte selbst Empfänger dieser tiefen Lebensweisheiten gewesen sein.

Reich davon sind die zehn „Briefe an einen jungen Dichter“: Franz Xaver Kappus stand an einem Scheideweg zwischen Offiziers- oder Schriftstellerlaufbahn, als er sich hilfesuchend an den acht Jahre älteren Rilke wandte. Der war zu dieser Zeit bereits unter anderem mit dem „Buch der Bilder“ hervorgetreten und steckte während des Briefwechsels mitten im „Malte Laurids Brigge“. In ihrem Austausch tat Rilke jedoch viel mehr, als dem Jüngeren literarische Ratschläge zu geben – vielmehr reflektierte er über:

Das Leben – „Warum eines Kindes weises Nicht-Verstehen vertauschen wollen gegen Abwehr und Verachtung, da doch Nicht-Verstehen Alleinsein ist, Abwehr und Verachtung aber Teilnahme an dem, wovon man sich mit diesen Mitteln scheiden will.
Denken Sie, lieber Herr, an die Welt, die Sie in sich tragen, und nennen Sie dieses Denken, wie Sie wollen; mag es Erinnerung an die eigene Kindheit sein oder Sehnsucht zur eigenen Zukunft hin, – nur seien Sie aufmerksam gegen das, was in Ihnen aufsteht, und stellen Sie es über alles, was Sie um sich bemerken.“

Die Kunst – „Ein Kunstwerk ist gut, wenn es aus Notwendigkeit entstand. In dieser Art seines Ursprungs liegt sein Urteil: es gibt kein anderes. Darum, sehr geehrter Herr, wußte ich Ihnen keinen Rat als diesen: in sich zu gehen und die Tiefen zu prüfen, in denen Ihr Leben entspringt; an seiner Quelle werden Sie die Antwort auf die Frage finden, ob Sie schaffen müssen.“

Die Liebe – „Auch zu lieben ist gut: denn Liebe ist schwer. Liebhaben von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist.“

Die Einsamkeit – „Aber vielleicht sind das gerade die Stunden, wo die Einsamkeit wächst; denn ihr Wachsen ist schmerzhaft wie das Wachsen der Knaben und traurig wie der Anfang der Frühlinge. Aber das darf Sie nicht irre machen. Was not tut, ist doch nur dieses: Einsamkeit, große innere Einsamkeit. Insich-Gehen und stundenlang niemandem begegnen, – das muß man erreichen können. Einsam sein, wie man als Kind einsam war, als die Erwachsenen umhergingen, mit Dingen verflochten, die wichtig und groß schienen, weil die Großen so geschäftigt aussahen und weil man von ihrem Tun nichts begriff.“

Das Suchen und Finden – „Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“

Suchen und Finden muss man für sich selbst. Aber Rilke und seine Briefe können dabei ein wunderbarer Wegbegleiter, Lotse und Krücke zugleich sein.


Zwischen 1903 und 1908 schrieb Rilke an Kappus insgesamt zehn Briefe. Sie sind bei Wikipedia abrufbar:
http://de.wikipedia.org/wiki/Briefe_an_einen_jungen_Dichter.

Bibliographische Angaben:

Rainer Maria Rilke
Briefe an einen jungen Dichter
Insel-Bücherei, aktuelle Auflage 2023
ISBN: 978-3-458-08406-8

 

 

Anna Mitgutsch: Die Welt, die Rätsel bleibt

In ihrem Essayband „Die Welt, die Rätsel bleibt“ (2013) kreist Anna Mitgutsch um Möglichkeiten und Grenzen der Sprache.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Kann man mit Sprache das Unsagbare benennen?“

Anna Mitgutsch, „Die Welt, die Rätsel bleibt“


Anna Mitgutsch ist Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin. Ich kannte bisher nur ihre belletristische Seite – von ihren Romanen hatte ich „Die Züchtigung“ und „Familienfest“ gelesen. „Die Züchtigung“ ist ein Buch, das einen lange nicht loslässt. Familienfest“ handelt von einer jüdischen Familie in den USA und das Ringen um ihre Identität. Anna Mitgutsch ist eine Schriftstellerin mit einer klaren, leisen, streckenweise auch sehr lyrischen Sprache.

Ein Stil, den offenbar auch die Wissenschaftlerin pflegt. Das ist einerseits erfreulich: Da ist keine, die dem Leser meint, die Welt erklären zu müssen. Da ist eine, der die Welt ebenso ein Rätsel bleibt, dem sie sich fragend, fast schon zögerlich annähert. Wo andere Statements abgeben, wirft Anna Mitgutsch Fragen auf: Das ist das Kennzeichnende ihres Essaybandes „Die Welt, die Rätsel bleibt“. 17 Essays, in vier Kapitel gegliedert: Schriftstellerportraits, Literatur, Transzendenz, Fremdsein. Schon die letzten beiden Kapiteltitel verdeutlichen: Nichts erschließt sich der Grazerin auf den ersten Blick, die Welt ist kein offenes Buch.

Fragen statt Antworten

Diese Qualität, die Fähigkeit, Fragen zu stellen, statt Antworten vom Band zu liefern, macht die Wissenschaftlerin aus. Es macht dem Leser das Buch jedoch auch den Zugang mitunter schwer. Gerade dort, wo man eventuell konkrete Informationen erwartet, insbesondere bei den Schriftsteller-Portraits, werden so viele Fragen aufgeworfen, dass ab und an das Ziel, die Absicht des Portraits hinter den Fragen verschwindet. So in dem „nachgetragenen“, also fiktiven Brief an Sylvia Plath, der die Abgrenzung zwischen Kunst und Leben zu ergründen versucht. Übrigens ist jedem Beitrag eine Frage als Leitmotiv vorangestellt.

Anna Mitgutsch versucht also nicht, mit Sprache das Unsagbare zu benennen, aber sie unternimmt den Versuch, die Welt der Literatur, der Sprache, der Philosophie etwas zu enträtseln. Besonders stark, informativ und detailreich sind in diesem Essayband die Beiträge über jüdische Literatur und Literaten sowie der Essay „Die Grenzen der Integrität – Überlegungen zur Situation der Künstler und Schriftsteller in totalitären Diktaturen“. Allein ihre Gedanken über den umstrittenen Begriff der „inneren Emigration“ lohnen die Lektüre dieses Buches.

Zitat:

„Der Emigrant Hans Sahl nennt die Zeit von 1933 bis 1945, die Zeit von Verfolgung und Flucht, die Zeit der Diktatur und des Zivilisationsbruchs, eine Geschichte vom Leben und Sterben einer Kultur.“


Aus dem Inhalt: Essays unter anderem über Elias Canetti, Paul Celan, Emily Dickinson, Franz Kafka, Imre Kertesz, Herman Melville, Amos Oz, Sylvia Plath, Rainer Maria Rilke, Marlen Haushofer, Isabella Stewart Gardner, und andere.

Über die Autorin: Anna Mitgutsch wurde in Linz geboren. Sie unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Solothurner Literaturpreis.


Bibliographische Angaben:

Anna Mitgutsch
Die Welt, die Rätsel bleibt
Luchterhand Verlag, 2013
ISBN: 978-3-630-87418-0

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