Joachim Ringelnatz – Einsiedlers heiliger Abend

Mein Weihnachtsgruß mit Joachim Ringelnatz.

Ich hab’ in den Weihnachtstagen –
Ich weiß auch, warum –
Mir selbst einen Christbaum geschlagen,
Der ist ganz verkrüppelt und krumm.

Bild von Pexels auf Pixabay

Ich bohrte ein Loch in die Diele
Und steckte ihn da hinein
Und stellte rings um ihn viele
Flaschen Burgunderwein.

Und zierte, um Baumschmuck und Lichter
Zu sparen, ihn abend noch spät
Mit Löffeln, Gabeln und Trichter
Und anderem blanken Gerät.

Ich kochte zur heiligen Stunde
Mir Erbsenuppe und Speck
Und gab meinem fröhlichen Hunde
Gulasch und litt seinen Dreck.

Und sang aus burgundernder Kehle
Das Pfannenflickerlied.
Und pries mit bewundernder Seele
Alles das, was ich mied.

Es glimmte petroleumbetrunken
Später der Lampendocht.
Ich saß in Gedanken versunken.
Da hat’s an der Tür gepocht.

Und pochte wieder und wieder.
Es konnte das Christkind sein.
Und klang’s nicht wie Weihnachtslieder?
Ich aber rief nicht: “Herein!”

Ich zog mich aus und ging leise
Zu Bett, ohne Angst, ohne Spott,
Und dankte auf krumme Weise
Lallend dem lieben Gott.

Joachim Ringelnatz

Das Gedicht von Ringelnatz stammt aus dem Jahr 1933 – wohl für viele Menschen das schwerste Weihnachten der Vorkriegszeit. Wer wachen Sinnes war, konnte ahnen, was knapp ein Jahr nach der Machtergreifung Hitlers noch alles auf die Menschen zukommen würde.

Insofern sind die Vergleiche, die dieser Tage gezogen werden, völlig absurd: Wir leben in keiner Diktatur, aber wir leben mit einer Pandemie. Das ist schwer, insbesondere für viele an Weihnachten, die vielleicht getrennt von ihren Liebsten und Familien feiern müssen. Aber es ist ein hoffentlich einmaliges und vorübergehendes Geschehen – und keinesfalls vergleichbar mit der Situation 90 Jahre zuvor.

Dennoch kann vielleicht jetzt gerade ein Ringelnatz helfen: Trauer und Humor liegen bei ihm immer eng beisammen. Und die Botschaft: Mach das Beste daraus …

Ich wünsche allen, die hier mitlesen, trotz der Umstände ein schönes Weihnachtsfest, alles Liebe und einen guten Rutsch in das Neue Jahr! Bleibt gesund!

Birgit Böllinger

Joachim Ringelnatz – Weihnachten

Ein Weihnachtsgruß und Dankeschön an meine Leserinnen und Leser mit meinem Lieblingsdichter.

Bild von Free-Photos auf Pixabay

Liebeläutend zieht durch Kerzenhelle,
Mild, wie Wälderduft, die Weihnachtszeit,
Und ein schlichtes Glück streut auf die Schwelle
Schöne Blumen der Vergangenheit.

Hand schmiegt sich an Hand im engen Kreise,
Und das alte Lied von Gott und Christ
Bebt durch Seelen und verkündet leise,
Dass die kleinste Welt die größte ist.

Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)

Joachim Ringelnatz – Der Bücherfreund

„Der Bücherfreund“ erschien in der Gedichtsammlung „Allerdings“ 1928. Ringelnatz hatte, auch als Bibliothekar, eigene bibliomanische Erfahrungen gesammelt.

Bild von Nino Carè auf Pixabay

Ob ich Biblio- was bin?
Phile? „Freund von Büchern“ meinen Sie?
Na, und ob ich das bin!
Ha! und wie!

Mir sind Bücher, was den anderen Leuten
Weiber, Tanz, Gesellschaft, Kartenspiel,
Turnsport, Wein und weiß ich was, bedeuten.
Meine Bücher — wie beliebt? Wieviel?

Was, zum Henker, kümmert mich die Zahl.
Bitte, doch mich auszureden lassen.
Jedenfalls: viel mehr, als mein Regal
Halb imstande ist zu fassen.

Unterhaltung? Ja, bei Gott, das geben
Sie mir reichlich. Morgens zwölfmal nur
Nüchtern zwanzig Brockhausbände heben —
Hei ! das gibt den Muskeln die Latur.

Oh, ich mußte meine Bücherei,
Wenn ich je verreiste, stets vermissen.
Ob ein Stuhl zu hoch, zu niedrig sei,
Sechzig Bücher sind wie sechzig Kissen.

Ja natürlich auch vom künstlerischen
Standpunkt. Denn ich weiß die Rücken
So nach Gold und Lederton zu mischen,
Daß sie wie ein Bild die Stube schmücken.

Äußerlich? Mein Bester, Sie vergessen
Meine ungeheure Leidenschaft,
Pflanzen fürs Herbarium zu pressen.
Bücher lasten, Bücher haben Kraft.

Junger Freund, Sie sind recht unerfahren,
Und Sie fragen etwas reichlich frei.
Auch bei andern Menschen als Barbaren
Gehen schließlich Bücher mal entzwei.

Wie ? – ich jemals auch in Büchern lese??
Oh, sie unerhörter Ese—
Nein, pardon! – Doch positus, ich säße
Auf dem Lokus und Sie harrten
Draußen meiner Rückkehr, ach dann nur
Ja nicht länger auf mich warten.
Denn der Lokus ist bei mir ein Garten,
Den man abseits ohne Zeit und Uhr
Düngt und erntet dann Literatur.

Bücher – Nein, ich bitte Sie inständig:
Nicht mehr fragen! Laß dich doch belehren!
Bücher, auch wenn sie nicht eigenhändig
Handsigniert sind, soll man hochverehren.

Bücher werden, wenn man will, lebendig.
Über Bücher kann man ganz befehlen.
Und wer Bücher kauft, der kauft sich Seelen,
Und die Seelen können sich nicht wehren.

Joachim Ringelnatz

„Der Bücherfreund“ erschien erstmals in der Ringelnatzischen Gedichtsammlung „Allerdings“ im Jahr 1928. Ob der Bücherfreund Ringelnatz selbst über eine so überbordernde Bibliothek verfügte, bezweifle ich – zu unstet war sein Leben, zu oft war er unterwegs, zu häufig auch in finanziell prekäre Lagen, um selbst eine Bildungsbürgerbüchersammlung um sich zu haben. Allerdings kannte er sich – nicht nur als Lesender und Schreibender – aus im „Verwalten“ von Bücherbergen. Vielleicht dachte er bei diesem Gedicht an seine Zeit in Klein-Oels zurück: Dort verwaltete er 1912 die Bibliothek des Grafen Yorck v. Wartenburg. Nachdem er wegen einer Prügelei entlassen worden war, arbeitete er im Jahr darauf als Bibliothekar Börnes v. Münchhausens, später als Bibliothekar und Fremdenführer auf Burg Lauenstein (Oberfranken), bis er 1913 wieder nach München ging, um seiner eigentlichen Berufung als Bühnenkünstler und Schreibender nachzugehen.

Ingeborg Bachmann – Erklär mir, Liebe!

„Erklär mir, Liebe“ wurde von Ingeborg Bachmann 1956 erstmals veröffentlicht. Das Gedicht umfasst in vollständiger Länge 38 Verse.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Erklär mir, Liebe!

Wasser weiß zu reden,
die Welle nimmt die Welle an der Hand,
im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt.
So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus!

Ein Stein weiß einen andern zu erweichen!

In einem 1971 geführten Interview erklärte Ingeborg Bachmann, worin der Grund für sie besteht, sich in lyrischer Form mit dem Begriff Liebe auseinanderzusetzen. Darin heißt es: „Für mich stellt sich nicht die Frage nach der Rolle der Frau, sondern nach dem Phänomen der Liebe – wie geliebt wird. (…) Liebe ist ein Kunstwerk.“

Quelle: Daniela Kramer, Ingeborg Bachmanns Liebeslyrik am Beispiel von „Erklär mir Liebe“, 2010.

Christa Wolf zu diesem Gedicht:

Dies, scheint mir, will das Ich und das Du des Gedichts, die ich mir gern zusammen denke, als Preis für Unversehrbarkeit nicht zahlen: fühllos sein. Der denkt, gedacht hat, Hunderte von Jahren, um sich abzuhärten: Er wird nun vermißt. Die Brüderlichkeit, Natürlichkeit, Arglosigkeit, die er sich weggedacht, sie fehlen ihm nun doch. Merkt er noch, gestählt und gepanzert, wie er ist, ob es Feuer oder Kälte sind, durch die er geht? Er wird Instrumente mit sich führen, die Temperatur zu messen, denn was ihn umgibt, muß eindeutig sein. Dies bedenkend, bedauernd, beklagend auch, gibt das Gedicht selbst ein Beispiel von genauester Unbestimmtheit, klarster Vieldeutigkeit. So und nicht anders, sagt es, und zugleich – was logisch nicht zu denken ist –: So. Anders. Du bist ich, ich bin er, es ist nicht zu erklären. Grammatik der vielfachen gleichzeitigen Bezüge.

Christa Wolf, aus: Christa Wolf: Kassandra. Vier Vorlesungen. Eine Erzählung, Luchterhand Literaturverlag, 1983

In vollständiger Länge bei Planetlyrik.

Liebe ist nur möglich, wenn sich zwei Menschen aus der Mitte ihrer Existenz heraus miteinander verbinden, wenn also jeder sich selbst aus der Mitte seiner Existenz heraus erlebt. Nur dieses Leben aus der Mitte ist menschliche Wirklichkeit, nur hier ist Lebendigkeit, nur hier ist die Basis für die Liebe. Die so erfahrene Liebe ist eine ständige Herausforderung; sie ist kein Ruheplatz, sondern bedeutet, sich zu bewegen, zu wachsen, zusammenzuarbeiten. Ob Harmonie waltet oder ob es Konflikte gibt, ob Freude oder Traurigkeit herrscht, ist nur von sekundärer Bedeutung gegenüber der grundlegenden Tatsache, daß zwei Menschen sich vom Wesen ihres Seins her erleben, daß sie miteinander eins sind, indem sie mit sich selbst eins sind, anstatt vor sich selber auf der Flucht zu sein. Für die Liebe gibt es nur einen Beweis: die Tiefe der Beziehung und die Lebendigkeit und Stärke in jedem der Liebenden. Das allein ist die Frucht, an der die Liebe zu erkennen ist.

Erich Fromm, „Die Kunst des Liebens“, 1956

Lesezeichen von: Ian McEwan, William Butler Yeats & Benjamin Britten

Wie Ian McEwan einen mit seinem Roman „Kindeswohl“ auf die Spuren von William Butler Yeats führt. Literatur und Musik treffen sich im Roman und im Leben.

„Das melancholische Lied und wie es hier gespielt wurde, so hoffnungsfroh, so roh, stand für alles, was sie an dem Jungen zu verstehen begann. Sie kannte die reuevollen Worte des Dichters auswendig. Doch ich war jung und töricht … Adams Spiel rührte sie, verwirrte sie aber auch. Mit der Geige oder irgendeinem anderen Instrument anzufangen war ein Ausdruck von Hoffnung, implizierte Zukunft.“

Ian McEwan, „Kindeswohl“, 2014

„Sprachlich, stilistisch ist an einem McEwan nie etwas zu bemängeln, auch dieses Mal nicht. Strukturell hat er mich mit seinem letzten Roman Honig, der für mich nur als Spionagegeschichte getarnt eher ein doppelbödiges Spiel mit den Ebenen darstellt, überrascht und für sich eingenommen. Mit Kindeswohl aber hat er mich getroffen und zwar richtig, mitten ins Herz“, schrieb Bri in ihrer Besprechung des Romans beim „feinen, reinen Buchstoff“.

Das Yeats-Gedicht ist nicht von ungefähr gewählt: Beiden, sowohl Fiona und Adam, ist es nicht gegeben, das Leben von einer leichteren Seite zu nehmen.

Down by the Salley Gardens

Down by the salley gardens
my love and I did meet;
She passed the salley gardens
with little snow-white feet.
She bid me take love easy,
as the leaves grow on the tree;
But I, being young and foolish,
with her would not agree.

In a field by the river
my love and I did stand,
And on my leaning shoulder
she laid her snow-white hand.
She bid me take life easy,
as the grass grows on the weirs;
But I was young and foolish,
and now am full of tears.

William Butler Yeats

Maike Bellmann – Weil es so ist

Ein feines Fundstück bei Facebook: Lyrik von Maike Bellmann.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

AM ENDE: ARGUMENTE

Weil es so ist,
Sagst du,
Wenn nichts mehr so ist.

Reine Ansichtssache,
Sagst du,
Und siehst mich nicht an.

Alles eine Frage der Perspektive,
Sagst du,
Als ob wir eine hätten.

Maike Bellmann

Schon oft genug war ich nah daran, den einen oder anderen Social Media-Kanal, mit dem der Blog verlinkt ist, zu kappen. Zu viel Informationsüberreizung, zu viel Desinformation und in diesen Zeiten auch viel zu viel üble Postings, die an der Menschheit zweifeln lassen.

Und dann, mitten in dieser Flut, finden sich doch die kleinen Perlen, bei denen sich das Herausfischen lohnt. So folge ich schon einige Zeit der Lyrikerin Maike Bellmann, deren Gedichte mich immer wieder zum Innehalten, zum Nachdenken und zum Schmunzeln bringen auf Facebook. Schon länger spricht sie davon, einen Blog zu eröffnen – ich hoffe sehr darauf, das Medium wäre mir lieber. Und so kommen derzeit leider nur ihre F****book-Freunde in den Genuss des Mitlesens.

An den obigen Zeilen blieb ich gestern lange hängen: Das Gedicht finde ich hervorragend, es sprang mich förmlich an – kein Wunder, mag ich doch auch die Arbeiten von Erich Fried sehr in ihrer nur scheinbaren Schlichtheit und fast schon nüchternen Ausdrucksweise. Und dennoch: Dieses Spiel mit Wörtern und Sprache, die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen – das ist frappant, fein gesponnene Zurückhaltung.

Ich ziehe meinen Hut vor Maikes Gedichten. Und ein großes Danke schön an Maike, dass ich dies hier veröffentlichen durfte!
Wer mehr davon lesen will, kann dieses derzeit hier tun: Maike Bellmann.
Und wer wie ich darauf hofft, dass sie künftig auch auf einem Blog veröffentlicht, der soll dies doch bitte in den Kommentaren kundtun.


Bild zum Download: Glockenstrang


 

Die mobile Version verlassen
%%footer%%