LAWRENCE FERLINGHETTI: Notizen aus Kreuz und Quer

Er war einer der Erneuerer der amerikanischen Literatur: Lawrence Ferlinghetti, Poet, Verleger und Inhaber der legendären Buchhandlung City Light Books. Zeitlebens mit San Francisco eng verbunden, war Ferlinghetti jedoch immer auch ein Reisender. Davon zeugen seine „Notizen aus Kreuz und Quer“, die am 24. März, seinem Geburtstag, in deutscher Erstübersetzung erscheinen.

Verona, 24. März, meine Geburtstagsparty:
Ein lokaler Fluxus-Vertreter organisierte so etwas wie ein Happening, mit einem Schild, auf das er Poetry is Mammy (kein Witz) malte & eine junge Frau von Kopf bis Fuß in weißes Papier wickelte. Und das war es. Eine andere Nummer, die er zum Besten gab, hatte den Titel „Liebe“: Er zündete eine Wunderkerze an und fing an zu stöhnen, wie beim Sex, immer heftiger, bis die Wunderkerze plötzlich ausbrannte. Mein zweiundachtzigster Geburstag in einem vornehmen alten Haus aus dem fünfzehnten Jahrhundert: hundert elegante Menschen, die aussehen wie die Reichsten der Stadt, und alle feiern meinen Geburtstag. Riesiger Kuchen, fantastisches Essen (dauerte stundenlang).

Lawrence Ferlinghetti, „Notizen aus Kreuz und Quer. Travelogues 1960 – 2010“.


In San Francisco ist sein Geburtstag, der 24. März, ein Feiertag: Dort lebte und arbeitete Lawrence Ferlinghetti als Poet, Verleger und Inhaber der ebenso legendären Buchhandlung City Light Books. Er publizierte die Werke der Beat Generation und brachte die hervorragendste Dichtung seiner Epoche, zum Teil auch in eigenen Übersetzungen, heraus. Eins ist sicher: Ohne ihn wäre die Literatur Amerikas eine andere gewesen.

Ferlinghetti, Jahrgang 1919, kam in New York zur Welt, wuchs aber zeitweise auch bei einer Tante in Frankreich auf. Er studierte an der Universität von North Carolina und promovierte an der Sorbonne: Ein Weltbürger mit italienischen, portugiesischen und jüdischen Wurzeln. Verbunden mit San Francisco war Ferlinghetti zeitlebens aber auch ein Reisender, der in poetischer Mission wie ein moderner Odysseus durch die Welt streifte. Seine Beobachtungen dabei, sei es in Rom oder Neapel, Mexiko oder Haiti, notierte er, mal bissig, mal poetisierend, in sein Logbuch. „Notizen aus Kreuz und Quer“: Diese Travelogues, die mehrere Jahrzehnte umspannen, die von 1960 bis 2010 reichen, sie sind Reisenotizen und eine Art Autobiographie des amerikanischen Poeten. Bei ihrer Veröffentlichung in den USA 2014 euphorisch gefeiert, liegen diese Notizen nun endlich bald auch in deutscher Übersetzung – passenderweise von Pociao – vor. Das gebundene Buch, mit zahlreichen Illustrationen Ferlinghettis, erscheint zum Ferlinghetti-Day am 24. März 2024 im Kupido Literaturverlag als schönes Hardcover mit zahlreichen Illustrationen von Ferlinghetti selbst.


Stimmen zum Buch:

Moritz Hildt setzt seinem Beitrag beim Schriftstellerhaus Stuttgart dieses Zitat Ferlinghettis voran: „Poesie ist: eine nackte Frau, ein nackter Mann, und der Abstand zwischen ihnen.“ Und meint dann: „Lawrence Ferlinghetti wusste selbst gut genug, dass das spannendste Element seiner eingangs zitierten Definition von Poesie weder die nackte Frau noch der nackte Mann ist. Es ist das Dazwischen, der Abstand zwischen ihnen, um das es geht – in der Literatur genauso wie im Leben. In den Notizen aus Kreuz und Quer kann man lesen – ganz egal ob man nur Zeit für wenige Seiten hat oder für eine ganze Reise – wie eng diese Dimensionen miteinander verwoben sind, und wie viel Schönheit in der Unvollkommenheit beider liegen kann.“

„Jedenfalls umrundet er die Welt und überfliegt dabei sowohl politische als auch geografische Grenzen; trifft dabei Kolleginnen und Kollegen, und unter seinem Blick beginnen Krusten zu bröckeln.“ – Jan Kuhlbrodt, Signaturen

„Mit Ferlinghetti „on the road“ – das ist ein großes Vergnügen, reich an Zeitkolorit, Einblicken und Überraschungen.“ – Eberhard Falcke bei SWR Kultur

„Wunderbar lakonisch, scharfsinnig, stets mit einem Augenzwinkern formulierte Beobachtungen.“ – Kersten Knipp bei „Gutenbergs Welt“, WDR 3 (ab Minute 41:10)

„Seine Notizen in dem vorliegenden Band sind pointiert und haben etwas
Spielerisches. Und sie beweisen, wer im Kopf jung bleibt, hat alle Zeit dieser Welt.“ – Robert Weichinger in Ö1, ORF

„Bei aller intellektuellen Wachsamkeit ist es auch eine vergnügliche Lektüre – literarisch, sprachlich, inhaltlich. Ferlinghetti beobachtet genau und registriert präzise – wenn auch nicht immer das, was wir in der gleichen Situation zur Kenntnis nehmen würden. Von klassischer Kunst und klassischen Denkmälern nimmt er zum Beispiel verblüffend wenig Notiz. Ihn interessiert der Mensch.“ – Paul Hübscher, litteratur.ch

„Die erstmalige Veröffentlichung der Reisetagebücher Ferlinghettis ist nun eine literarische Sensation ersten Ranges.“ – Walter Pobaschnig


Zum Autor:

Lawrence Ferlinghetti, geboren am 24. März 1919 in New York, eröffnete 1953 den City Lights Bookstore in San Francisco, der zum Treffpunkt avantgardistischer Autoren wurde. 1956 verlegte er Allen Ginsbergs Gedichtband Howl. Ferlinghetti starb im Februar 2021, einen Monat vor seinem 102. Geburtstag, in seinem Haus in San Francisco.

Photo: Janet Fries/Getty Images/Nutzungsrechte beim Kupido Literaturverlag


Zum Buch:

Lawrence Ferlinghetti
Notizen aus Kreuz und Quer
Travelogues 1960 – 2010

Kupido Literaturverlag, Köln
Übersetzt von Pociao
Deutsche Erstausgabe
576 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Lesebändchen
ISBN: 978-3966752602

Erscheint am 24.3.2024


Downloadbereich:

Literarische Orte: Beat it like Karlsruhe

„On the Road“: Das 36 Meter lange Manuskript war Kernstück einer Ausstellung zur „Beat Generation“ im Centre Pompidou in Paris und im ZKM Karlsruhe.

Danger – Portrait von William S. Burroughs vor dem Odéon Theater, Paris 1959 Courtesy „The Barry Miles Archive“ © Foto: Brion Gysin, Naked Lunch Serie, Paris, Oktober 1959

Wer träumt manchmal nicht davon, sich einfach in ein Auto oder den nächsten Zug zu setzen und auf und davon zu brausen? Ohne Ziel, sehen, wohin einen die Straße bringt. Alle Grenzen sprengen, Konventionen hinter sich lassen – frei sein von Terminen, Zwängen, Druck, Anforderungen. Ich jedenfalls schon. Wenn die Mühlen des Alltags sehr, sehr mürbe mahlen, dann bietet zumindest die Literatur eine Chance auf kleine Fluchten. Und dabei erst recht die der „Beat Generation“: Autoren und Künstler, die diese Freiheit lebten – ohne Kompromiss und auch bereit, jeden Preis dafür zu zahlen.

Jack Kerouac und seine Schreibmaschine

Einer der bekanntesten Schriftsteller dieser Strömung ist Jack Kerouac, der Roman, der für die Beat Generation steht, ist „On the road“. Er tippte das Buch wie im Rausch und ohne Atempause, klebte ein Blatt an das andere, um in seinem Schreibfluss nicht unterbrochen zu werden. Das 36 Meter lange Manuskript ist nun Kernstück einer Ausstellung zur „Beat Generation“, die zuerst im Centre Pompidou in Paris zu sehen war und jetzt noch bis Ende April im ZKM (Zentrum für Kunst und Medien) Karlsruhe zu besuchen ist.

Corso, Grégory There is No More Street Corner… ,1960 Poem, unveröffentlichtes Manuskript. 200 x 200 cm © DR photo: © Archives Jean-Jacques Lebel

Das zog mich on the road, auf die Straße nach Karlsruhe – wenn auch mit einer Portion Skepsis im Gepäck. Kann man eine kulturelle Strömung, die so lebendig, weil sie subversiv, anarchistisch, verspielt war, museal präsentieren? Die beinahe schon sakrale Überhöhung, die den DADA-Objekten bei der Jubiläumsausstellung im vergangenen Jahr in Zürich zukam, nahm viel von der Lebendigkeit des Dadaismus weg. Das Wilde ging in Erstarrung über. Und auch Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs – das bekannte Dreigestirn der Beat Generation – sind vor Vereinnahmung nicht sicher. Sage und schreibe 5,5 Millionen Dollar soll ein New Yorker vor einigen Jahren bezahlt haben, als das Kerouac-Manuskript bei Christie`s unter den Hammer kam. Immerhin stellte der gutbetuchte Literaturliebhaber es nun für die Ausstellung – die erste umfassende Retrospektive zum Beat in Europa – zur Verfügung.

Beat Generation im Museum

Gleich vorneweg: Die Befürchtungen vor zu viel „Musealisierung“ waren unbegründet. Nur wenige „Kultgegenstände“ – so Kerouacs Manuskript und die Underwood von William S. Burroughs – hinter Glas, dafür eine Präsentation im Rhythmus des Beat: Den Besucher überrascht eine Flut von Sinneseindrücken: Überall hängen scheinbar freischwebende Leinwände im Raum. Musik, Stimmen, Bilder vermischen sich zu einer eigenartigen Kakophonie, die in sich schon wie ein Werk der Beat Generation wirkt.

Vor allem durch das Medium Film und Fotografie folgen die Ausstellungsmacher dem Weg der „Beatniks“, zeichnen geographisch die Stationen dieser kulturellen Gegenbewegung nach. Wegweisende Orte und Länder sind die USA mit New York und San Francisco, sind Mexiko und Algier, London und Paris. Der Besucher ist selbst gefordert, bei dieser Reise mit der Beat Generation dem Lebensgefühl dieser Künstler auf den Grund zu gehen – Gedichttexte, Romanauszüge, Fotografien, Filme, vor allem aber das gesprochene Wort transportieren den Sound des Beat. Dabei wird offenbar, dass zu den Beat-Protagonisten weitaus mehr Künstler gehörten als das bekannte „Dreigestirn“ Kerouac, Ginsberg und Burroughs. Und dass die Welle mehr erfasste als ausschließlich die Literatur – das Lebensgefühl schlug sich in Fotografie, Bildender Kunst, Film, Musik nieder, wurde zum Gesamtkunstwerk.

Neal Cassady, Los Gatos, Californie, 1962 Silbergelatineabzug (2016) 20 x 20 Centre Pompidou, MNAM-CCI, Bibliothèque Kandinsky, Fonds Sottsass © Adagp, Paris, 2016 photo: © Centre Pompidou, MNAM-CCI, Bibliothèque Kandinsky, Fonds Sottsass

Natürlich ist in der Ausstellung auch Ginsbergs Gedicht „Howl“ zu hören: Dieser Aufschrei, das „Geheul“, bringt das Gefühl einer Generation zum Ausdruck, die im amerikanischen Kapitalismus der 1950er Jahre zu den ausgeschlossenen gehörte, zugleich aber auch gegen jede Vereinnahmung rebellierte. Sie war auf der Suche nach neuen Bewegungen – durchaus auch sozial geschlagen („beat“), aber ebenso den eigenen Rhythmus, die eigene Bewegung, den eigenen Beat angebend.

Paris ein Zentrum der Dichter

Dieses Aufbegehren kommt gerade durch die moderne multimediale Präsentation gut zum Ausdruck, zeigt auch, wie genresprengend und experimentierfreudig die Künstler der Beat Generation waren. Jean-Jacques Lebel, einer der Kuratoren der Ausstellung, hat einige der Protagonisten hautnah erlebt, ist der Strömung verbunden geblieben – das macht sich bemerkbar. Der französische Künstler lernte Allen Ginsberg, William Burroughs, Brian Gysin und andere im „Hotel Beat“ im Pariser Quartier Latin kennen.

„Die Pariser Zeit war von fundamentaler Bedeutung für die Geschichte der Beat Generation. Ginsberg schrieb die erste Version seines berühmten „Kaddish“-Gedichts auf einer Café-Terrasse am Montparnasse und im „Beat Hotel“. Und es ist schon sehr merkwürdig, dass vor allem die akademische Forschung in den USA das nie erwähnt. Insofern sehe ich es als eine Art poetische Rache, dass diese Ausstellung jetzt in Paris zu sehen ist.“

Jean-Jacques Lebel, Quelle: Deutschlandfunk

„Es gibt überall doch nur noch Blut, Massaker, Schrecken. Krieg und Brutalität sind eine Art Normalzustand geworden. Die Beat Generation mit ihrer entschieden anti-militaristischen Poesie, ihrem Internationalismus und Anti-Nationalismus, ihrer Vision eines kollektiven Unbewussten – diese kreative, rebellische, subversive Beat Generation kann da vielleicht ein wenig Hoffnung geben.“

Gysin, Brion Calligraphie, 1960 Tusche auf Papier Marouflage auf Leinwand 192 x 282 Collection Galerie de France © Galerie de France © Jonathan Greet / Archives Galerie de

Zwar unterscheidet sich die Karlsruher Präsentation in einigen Punkten von der Pariser Ausstellung – beispielsweise ist hier nicht das Zimmer Nr. 25 aus dem „Beat Hotel“ zu sehen, dafür wird auf die Einflüsse, den die Beat Generation auf deutsche Dichter und Autoren hatte, eingegangen – aber auch im Badischen wird seit jeher der Beat gepflegt, wurden in den vergangenen Jahren William S. Burroughs und Allen Ginsberg Ausstellungen gewidmet.

Auch in den „Stuttgarter Nachrichten“ wird in einem ausführlichen Beitrag über die Ausstellung auf die gegenläufige Kraft der Beat Generation und ihren Stellenwert heute aufmerksam gemacht:

„Ginsbergs Langgedicht „Howl“ (1956), Kerouacs Reiseerzählung „On The Road“ (1957) und Burroughs psychedelische Groteske „Naked Lunch“ (1959) schrecken das Amerika der McCarthy-Ära auf und stehen heute noch für eine Gegenkultur, deren rebellische Kraft im neuen Trump-Amerika dringender denn je gebraucht wird.“

Man beachte in dem Artikel auch den Auftritt von Ernst Jandl – einer der überraschenden Bezüge, die mir die Ausstellung ebenfalls bot: „Auf der Durchreise“, Stuttgarter Nachrichten, 20. Januar 2017.

Zwar ist nun Karlsruhe, die „Residenz des Rechts“ weitaus weniger denn Paris als Hort der Revolution bekannt – aber wer in diesen Zeiten, die geprägt sind von politischem Revanchismus und Nationalismus, etwas rebellische Luft tanken will, der mache sich auf den Weg ins ZKM.

Alle Bilder zur Verfügung gestellt im Pressebereich des ZKM.

 

#MeinKlassiker (5): Gerhard fliegt über das Kuckucksnest

Musik- und Amerika-Kenner Gerhard Emmer über einen Roman, der für Aufsehen sorgte. Ken Kesey landete mit seinem Buch über die Psychiatrie einen Welterfolg.

Bild von GLady auf Pixabay

Den meisten Autorinnen und Autoren dieser Reihe habe ich freie Hand gelassen bei der Auswahl ihrer Bücher – geht es doch um ihren persönlichen Klassiker. Bei Gerhard Emmer, der hauptsächlich über Musik bloggt, öfter aber auch Bücher seiner Wahl vorstellt – immer abseits des Mainstreams, oft amerikanische Kultliteratur – habe ich einen konkreten Wunsch geäußert: Weil dieses Buch auch für mich so eine Art Erweckungserlebnis war. Danke, Gerhard!

Gerhard Emmer über „Einer flog über das Kuckucksnest“:

Die Birgit meinte, das „Kuckucksnest“  von Ken Kesey hätte sie gern in ihrer Klassiker-Reihe (tolle Serie übrigens, eh klar, Hamlet zum Einstieg, sehr schön), spart mir natürlich einen Haufen Zeit, hab ich erst gelesen und meinen Senf dazu abgegeben, guckst Du hier:
https://gerhardemmerkunst.wordpress.com/2016/04/21/reingelesen-43/

Sonst wär halt was Feines von Thomas Mann, Nelson Algren, Dostojewski oder Garcia Marquez zur Revision angestanden, aber das hätte dann erst nochmal gelesen gehört, um aus heutiger Sicht was Fundiertes (oder eben auch nicht) dazu abzusondern. Genug der Vorrede, hier ein paar Gedanken zu „Einer flog über das Kuckucksnest“ von Ken Kesey:

Literatur der Beat Generation

Das 1951 veröffentlichte Werk „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger zählt zu den ersten literarischen Werken der amerikanischen Gegenkultur, die in Romanen von Jack Kerouac und William S. Burroughs und Gedichten von Allen Ginsberg ihre ganze Konventionen-sprengende Wucht entfaltete, Ken Kesey darf hier als wichtiger Vertreter nicht unerwähnt bleiben, zumal sein Erstwerk aus dem Jahr 1962 – zu Recht – ein Welterfolg wurde und Kesey zudem mit der Musikszene der amerikanischen Hippie-Kultur schwer verbandelt war, ein nicht unwesentlicher Aspekt für einen Musik-Blogger und Grateful-Dead-Freund wie mich.

Anders als der „Fänger“ von Salinger, in dem bereits zentrale Themen der Subkultur wie Aufbegehren gegen die Erwachsenen-Welt und massives Infragestellen von Regeln ausführlichst zur Sprache kommen, ist Ken Kesey und insbesondere sein Hauptwerk „Einer flog über das Kuckucksnest“ nach wie vor für alle Generationen relevant und vor allem konsumierbar, das Salinger-Kultbuch hingegen funktioniert als literarischer Fixpunkt, Manifest der individuellen Wut, Anregung und Reflexion ausschließlich in der Adoleszenz (zumindest in meiner längst vergangenen), im fortgeschrittenen Alter bleibt da wenig, was einen an jugendlicher Rebellion noch berühren mag, der Zahn der Zeit halt, der so manchen Stachel stumpf machte, es ist ein Graus…

Ein Klassiker über seine Zeit hinaus

Kesey mit dem „Kuckucksnest“ hingegen: Für mich nach wie vor ein Plädoyer für die Entfaltung des Individuums, eine permanente Aufforderung zur Schärfung der Sinne und vor allem zum Anzweifeln der tradierten, eingeschliffenen, im extremsten Fall sinnlosen Regeln, eine Metapher für das Aufbegehren gegen Despotismus, Unterdrückung und – einige Nummern kleiner –  den alltäglichen Regelbetrieb.

Der irisch-stämmige Rebell McMurphy mit dem gesunden Menschenverstand findet sich mal mehr, mal weniger extrem mit seinen charakterlichen Eigenschaften, seiner Lebensphilosophie und seinem Handeln  – oder kurz seinem „Mindset“, um mal wieder die unsäglichen, eingeschlichenen Anglizismen zu bemühen –  fortwährend aktuell und täglich dokumentiert in den Nachrichten in Presse, Internetz, Funk und Fernsehen, exemplarisch bei Snowden versus NSA, bei der journalistischen Verteidigung der türkischen Republik der  Cumhuriyet-Redakteure  gegen die Erdoğan-Repression oder den Pussy-Riot-Aktionen gegen den Putin-Staat.

Der Roman hat in seiner für Autoren der Beat Generation geradezu konventionellen Erzählweise auch heutzutage nichts an Lesbarkeit verloren, mit der psychedelisch-experimentellen Schilderung von Psychopharmaka-Wirkungen bietet er daneben einen zusätzlichen literarisch-stilistischen Nebenstrang.

Zwei deutsche Übersetzungen

Es existieren zwei deutsche Übersetzungen von Carl Weissner bzw. Hans Hermann, beide sind auch heute noch uneingeschränkt zu empfehlen, Feingeister und Zartbesaitete nehmen Hermann, wer’s direkter und wahrscheinlich mehr im Sinne des Originals mag, nimmt Weissner. Und die Verfilmung des Romans von Miloš Forman kennt vermutlich sowieso jeder/r, ansonsten: schnell nachholen. Unerwähnt soll auch nicht bleiben, dass von Ken Kesey im Nachgang zum „Kuckucksnest“ in den achtziger Jahren ein zweiter Roman ins Deutsche übersetzt wurde, „Manchmal ein großes Verlangen“ (1964), eine exzellente, opulente Familien-Saga über eine Holzfäller-Dynastie in Oregon, den hab ich im Gegensatz zu seinem Welterfolg leider bisher nur einmal gelesen, wäre längst nochmal fällig, sozusagen ein heimlicher Klassiker, vielleicht auch mal was für die Vorstellungsrunde hier…

Gerhard Emmer
https://gerhardemmerkunst.wordpress.com/


#VerschämteLektüren (11): Die Beatgeneration und ihre Sudelbücher

Matthias las seine verschämten Lektüren heimlich unter der Schulbank: Die Jerry Cotton-Hefte aus dem Bastei Lübbe Verlag.

Bild von Thanks for your Like • donations welcome auf Pixabay

Auf seinem Blog bukowski.space stellt Matthias die Schriftsteller vor, die die amerikanische Subkultur literarisch erfassten und prägten: Jack Kerouac, Allen Ginsberg, William S. Burroughs bis hin zum „dirty old man“ Charles „Hank“ Bukowski. Da meint man doch (jedenfalls ich als unverdorbenes bayerisches Landei), es könne keine verschämten Lektüren mehr geben. Aber nichts da – auch Matthias zieht was unter der Bank hervor:

Anders als Gerhard Emmer im vorigen Beitrag musste ich zum Thema #VerschämteLektüren nicht «eine Weile vor der Bücherwand stehen» und überlegen, was zum Thema passen könnte. Es sind eindeutig die Jerry Cotton Kriminal-Romane aus der Reihe des Bastei-Verlages, die ich in den 70ern unter der Schulbank konsumierte, weil sie zu Hause für einen Skandal gesorgt hätten. «Stehen» (ich gestehe: wie unter der Schulbank) würde auch allenfalls ich selbst, handelte es sich doch um eine Hefte einer Reihe, die schon rein physikalisch betrachtet keine Standfestigkeit aufwies und die heute nicht einmal in meinen «Archiven» zu finden sind, geschweige denn auf einem Regalbrett oder unter dem Küchentisch – obschon: ich habe nichts zu verbergen …

Heute ist «Jerry Cotton Classic» eine neue Reihe, in der teilweise lang verschollene Jerry Cotton-Romane aus der Frühzeit der Serie wieder dem Publikum zugänglich gemacht werden. Die Romane spielen in einer Zeit, in der Jerry und Phil noch geraucht, Hüte getragen und sich den einen oder anderen Whiskey genehmigt haben. Das Internet war damals genauso Zukunftsmusik wie Handys und Computer.

«Ab hier ermitteln Sie» – in den Krimiserien von Bastei (Shop, Leseprobe, Archiv):
http://www.bastei.de/indices/index_allgemein_209.html

Eine weitere Parallele zu Emmer steht im Raum. War es doch die Lektüre/das Vorlesen auf dem Hocker neben der Badewanne: Die Prosa des «dirty old man»  und den von Emmer ausgeklammerten «Naked Lunch», die eine Beziehung beendete (London 1997, begonnen mit «Alice’s Adventures in Wonderland»). Da traf der deutsche Fan des Andernacher Poeten auf die Frau, die es immerhin bis zur Hälfte des Zauberberges schaffte (meiner 11-fachen #nichtVerschämteLektüre) und dann aufgab.

Ich las weiter in den «Sudelbüchern» von Gernhardt u.a.:

«Die Schönheit gibt uns Grund zur Trauer, die Hässlichkeit erfreut durch Dauer.» (Aus: «Nachdem er durch Metzingen gegangen war» von Robert Gernhardt). Oder: Rettet die Welt vor schlechten Frisuren.

Und hier geht es zum Blog: http://bukowski.space/

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