Theres Essmann: Dünnes Eis

„Dünnes Eis“ von Theres Essmann ist ein lebenskluger Roman: Vor ihrem 100. Geburtstag wird eine Frau von ihrem großen Lebenstrauma, dem Tod ihres kleinen Sohnes im Krieg, eingeholt. Ein Buch, das von Schuld, Sühne und der Kraft der Versöhnung erzählt.

„Wie so eine Geschichte, die man sich ein Leben lang erzählt hat, an einer Stelle plötzlich aufplatzen und abblättern kann. Man fängt an zu knibbeln, Stückchen für Stückchen, und darunter tritt etwas ganz anderes zutage. Wie bei übereinanderliegenden Farbschichten, die man nacheinander abträgt.“

Theres Essmann, „Dünnes Eis“


Allein wenn es um die Anzahl der Jahre ginge, hätte diese Frau viel zu erzählen. Marietta ist in ihrem hundertsten Lebensjahr, lebt in einer Seniorenresidenz und vor allem mit und von ihren Erinnerungen: Mit dem bunten Schal ihrer verstorbenen Freundin und Zimmernachbarin Gisela, Fotos, Briefen und Dingen wie Brummel, ein Teddybär, der einst ihrem Sohn Johann gehörte.

Johann, das ist der große Schmerz, den sie ihr ganzes Leben lang in sich trägt: Ihr kleiner Sohn, sechs Jahre alt, wird vor ihren Augen von einem russischen Soldaten erschossen. Sie gibt sich selbst die Schuld daran, meint sie doch, ihr Kind dazu aufgefordert zu haben, wegzurennen – ein Reflex, der dazu führt, dass Johann abgeschossen wird „wie ein Hase“. Ein Trauma, das alle anderen grauenvollen Erlebnisse jener Kriegstage, die Vergewaltigungen, den Tod der Großeltern, die Flucht aus Ostpreußen über dünnes Eis verdrängt.

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Und dennoch bewältigt Marietta ihr Leben, erfährt mit dem Psychoanalytiker Elias eine neue, reife Liebe, geht in ihrem Beruf als Lehrerin auf, findet Halt und Anregung in der Literatur. Doch mit 99 Jahren, auch wenn man wie diese alte Dame bei wachem Verstand und körperlich noch einigermaßen rüstig wird, wird es naturgemäß einsam um einen: Ihre Ansprechpartnerinnen sind die Mitarbeiterinnen des Heims, in den hellwachen Nächten begleiten sie die Erinnerungen.

„Mit beiden Händen zieht sie die Schublade auf, sie ist randvoll mit Leben. Fotos über Fotos, wahllos hineingeworfen. (…) Vorm Fenster steht schwarz wie die Nacht. Sie schiebt im Schein der Lampe die Fotos auf dem Schreibtisch nebeneinander, Gisela in ihrem Ohrensessel neben Johann mit seinem Brummel. Ihre älteste Tote. Und Johann, ihr jüngster.“

Eine zufällige Begegnung bringt jedoch neue Farbe in ihre Leben: Plötzlich, wie eine Erscheinung, steht im Park vor ihr der kleine Enis, ein Flüchtlingskind, das stumm bleibt, ganz offensichtlich von der Flucht und seinen Erlebnissen traumatisiert. Die Parkbank wird zum Treffpunkt der beiden, der alten Frau und des siebenjährigen Kindes, die ein ähnliches Schicksal teilen. Mithilfe einer jungen Frau, die Marietta zu ihrem 100. Geburtstag für die Zeitung fotografiert, erfährt Marietta, dass Enis gewissermaßen ihr Spiegelbild ist: Sie musste mitansehen, wie ihr Sohn ermordet wurde, Enis erlebte den Mord an seinen Eltern mit.

Die Schatten der Vergangenheit

Auch in einem zweiten Erzählstrang geht es um Schuld und die Schatten der Vergangenheit: Der mürrische, krebskranke Herr Tacke, den Marietta hartnäckig und durchaus fordernd aus seinem Schneckenhaus holt, gesteht ihr eine grauenhafte Tat, die er als jugendlicher SS-Scherge begangen hat. Ein Geständnis, das Marietta aus der Fassung bringt. Und zugleich als erzählerischer Kunstgriff notwendig ist, um das Eis, das sich um ihr Herz seit Johanns Tod gelegt hat, zum Schmelzen zu bringen:

„Es ist wie ein gewaltiges Reißen. Ein Knacken und Bersten im Eis, dort wo es am dicksten ist. Dort, wo ihre Schuld eingeschlossen ist. Es birst auseinander in zwei Hälften. Sie hat nicht geschrien. Sie hat es gedacht. Dazwischen leckt eisig die See. Und sie, sie muss nur von der einen auf die andere Seite hinüberspringen.“

Erst in ihrem 100. Lebensjahr wird für Marietta das Eis begehbar, das sich über ihre Wahrnehmung von Johanns Tod gebildet hat. Oder, wie sie sich an die Worte eines Kollegen ihres zweiten Mannes erinnert:

„(…) die traumatische Neurose als Infiltrat, die den psychischen Organismus besetzt hält. Das heißt ja, dass es dann darum geht, es herauszuarbeiten, den Widerstand schmelzen zu lassen und so der Zirkulation den Weg zu bahnen, in ein bisher vom Trauma überlagertes und versperrtes Gebiet.“

Ein Prozess, der wichtig ist, gerade am Lebensende, wenn man mit dem eigenen Abschied rechnen muss.

„In ihr ist nichts als Wärme. Eine Wärme, die sich ausdehnen will.
Und ein leises Staunen. Darüber, dass in den tiefen Lücken, die das Leben dir reißt, warme Dankbarkeit nisten kann.“

Ein lebenskluger Roman mit einer starken Frauenfigur

Mit „Dünnes Eis“ ist Theres Essmann nach ihrem literarischen Debüt „Federico Temperini“ erneut ein kluges, ein lebenskluges Buch gelungen. Die Autorin erweckt große Empathie für ihre Figuren, ohne je in falsches Sentiment oder gar Klischees abzurutschen. Die großen Themen dieses berührenden Romans – Schuld und Sühne, Kriegs- und Fluchttrauma, Verluste und Versöhnung – werden mit einer Frauenfigur transportiert, die einem im Gedächtnis bleiben wird. Mit Marietta hat Theres Essmann einen Charakter geschaffen, der beeindruckt, klug und sensibel zugleich, würdevoll zudem der Gebrechlichkeit und den Einschränkungen des Alters entgegentretend.

Der Roman spricht dank einer klaren Prosa zugleich Herz und Verstand an: Zurückhaltend, manchmal sehr zart und poetisch, aber auch kristallklar deutlich, wenn es um die grauenhaften Dinge geht, die Menschen in Kriegen erfahren müssen, findet Theres Essmann für ihr Sujet eine eigene Sprache, einen besonderen Stil, der dieses Buch trägt.


Bibliographische Angaben:

Theres Essmann
Dünnes Eis
Dörlemann Verlag, 2023
ISBN 9783038201328  


Transparenzhinweis: Für das Debüt von Theres Essmann, „Federico Temperini“, habe ich im Rahmen des damaligen Verlags die Pressearbeit geleistet. Mit dem Verlagswechsel ist dies beendet. Von „Dünnes Eis“ erhielt ich ein Vorab-Rezensionsexemplar. Beides hatte auf meine Meinung zum Roman keinen Einfluss: „Dünnes Eis“ ist für mich unabhängig davon eindrucksvolle Literatur.

ANDREAS FISCHER: Die Königin von Troisdorf

In einem weiten Bogen erzählt Andreas Fischer die Geschichte seiner Familie von 1914 bis 2014: Wie sehr werden auch die nachfolgenden Generationen durch die Kriegstraumata der Großeltern und Eltern geprägt?

Die 1960er Jahre. Bundesrepublik Deutschland. Im rheinischen Troisdorf betreiben die Eltern des Erzählers ein gutgehendes Fotoatelier. Nach außen hin demonstriert man seinen Status: Häuser. Neues Auto. Sonntäglicher Kirchgang – zumindest der Frauen und des Kindes.

Doch hinter der gutbürgerlichen Fassade legen die Familienmitglieder verstörende Verhaltensweisen an den Tag. Was treibt die Eltern um, die den Zweiten Weltkrieg als junge Erwachsene erlebten? Warum verabscheut die Oma, die zwei Weltkriege erlebte, ihren Enkel?
Wie sehr ist das Gift des Nationalsozialismus bei diesen Menschen noch wirksam?

In einem weiten Bogen erzählt Andreas Fischer die Geschichte seiner Familie von 1914 bis 2014, vom Einsatz des Großvaters als Soldat im Ersten Weltkrieg bis zum Tod der Mutter. Der Autor verwebt Familienereignisse, die vor seiner Geburt lagen, mit Szenen aus seiner Kindheit und Jugend und Dokumenten aus unterschiedlichen Quellen: Briefe des gefallenen Bruders der Mutter finden sich ebenso im Buch wie Unterlagen aus Militärarchiven.

DIE KÖNIGIN VON TROISDORF zeigt eindrucksvoll, wie sehr eine ideologische Verblendung und nicht verarbeitete, traumatische Kriegserlebnisse Familien über Generationen hinweg prägen.

Ein beeindruckender Debütroman.
Ein Kriegsenkelroman.

Zum Autor:

Bereits in mehreren Dokumentarfilmen beschäftigte sich der mit mehreren Preisen ausgezeichnete Filmemacher Andreas Fischer mit der Frage, wie sich kriegsbedingte Verluste und Traumata generationenübergreifend auf Familien auswirken, unter anderem in Söhne ohne Väter (3sat / SWR) und Der Hamburger Feuersturm 1943 (NDR).
Seit 1992 ist Andreas Fischer mit eigener Filmproduktionsfirma in Berlin ansässig:
www.moraki.de

Nominiert für die Shortlist beim Literaturpreis Ruhr 2022

In der Finalrunde für „Bonn liest ein Buch“ 2023


Stimmen zum Buch:

„In seinen Dokumentarfilmen „Söhne ohne Väter“ oder „Töchter ohne Väter“ gibt er Kriegskindern das Wort. Themen, die traurige Aktualität haben und denen Andreas Fischer sich seit vielen Jahren widmet. Mit Katrin Heise spricht er über aufwühlende Interviews, Blicke ins Familienarchiv und die schwierigen Arbeitsbedingungen eines freien Filmemachers.“
Andreas Fischer in der einstündigen Sendung „Das Gespräch“ – im Gespräch mit Katrin Heise bei RBB Kultur.

„Jeder, der so was auch nur im Ansatz selbst erlebt hat, wird von Fischers so nüchterner wie wirkungsvoller Prosa tief in der Seele angefasst.“ – Sebastian Schoepp, Süddeutsche Zeitung

„Andreas Fischers Roman schildert eindrücklich eine westdeutsche Kindheit in den 60er und 70er Jahren: Für die Eltern dreht sich alles ums Fotogeschäft, der Sohn fühlt sich übersehen, von der Oma wird er gehasst. Markus Brügge stellt das Buch vor.“ – Markus Brügge bei WDR 5 Scala.

„Das Erzählen von dem Erlebten ist vielleicht schmerzhaft, aber wo geschwiegen wird, geht es in jedem Falle schlechter.“ – Andreas Fischer im Interview im Bonner General-Anzeiger

Portraits erschienen unter anderem im „Tagesspiegel“, der Rhein-Sieg-Zeitung und der Rhein-Sieg-Rundschau.

„Der Autor wühlt nicht in Psychologie. Lakonisch schildert er seine Erfahrungen und überlässt es dem Leser, daraus Schlüsse zu ziehen. So gestaltet sich der Roman im Kopf
weniger als eine Erzählung denn als Reportage.“ – Reinhard Kalb, Nürnberger Nachrichten

„Kurzum: ein wahrer und wahrhaftiger Ausnahmeroman!“ – Die Lektorin Dr. Yvonne Schauch auf ihrem Blog

„Fischer schreibt das alles ohne erhobenen Zeigefinger oder ideologische Ermahnung an den Leser. So ist es gut erzählt und wird seine Wirkung nicht verfehlen.“ – Harald Loch in der Aachener Zeitung

„Mit diesem Kriegsenkel-Roman von Andreas Fischer könnte eine neue literarische Generation angebrochen sein, die das Grauen und die Schrecken des 20. Jahrhunderts aus Sicht der deutlich Nachgeborenen thematisiert.“ – Johannes Groß, lehrerbibliothek.de

„Das dramatische Psychogramm seiner Zeit und seiner verlorenen Kindheit (…)“ – Franz Becker, Musenblätter

„Andreas Fischer hat in seinem autobiografischen Debutroman ein außergewöhnliches und dennoch paradigmatisches Werk geschrieben, dass hoffentlich eine breite Leserschaft erreicht. Was hier für die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft beschrieben ist, kann als universell gelten. Die Auswirkungen von Krieg und Zerstörung enden nicht mit dem Einstellen der Kampfhandlungen. Unter der Geißel der Menschheit leiden auch die Nachfolgegenerationen. Eine unbedingte Leseempfehlung!“ – Sascha Thoma, koreander.net

„Mit „Die Königin von Troisdorf“ ist Andreas Fischer ein eindrucksvolles, sehr persönliches und tief bewegendes Zeitdokument der 60er und 70er Jahre gelungen. Er blickt nicht einfach nostalgisch zurück, sondern bringt die Verblendungen, Kälte und Verletzungen der Nachkriegsgenerationen ans Tageslicht. Ein faszinierender Roman und Schlüssel zum tieferen Verständnis dieser Zeit. Ein Buch, das geschrieben werden musste.“ – Jörg Liesegang, Horatio Bücher

„Mit Die Königin von Troisdorf bringt Fischer der Leserschaft die Befindlichkeit der Kriegsenkel näher, forscht in der Familiengeschichte nach den Ursachen und tut das, was ihm strengstens verboten wurde. Obwohl „Hindenburg und Ludendorff“ immer schwere Geschütze aufgefahren haben, um genau das schon im Vorfeld zu verhindern, hinterfragt Fischer die Dinge und scheut die kontroverse Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen nicht.“ – Helga Fitzner, Kultura extra

„Fazit: eine 3 Generationen umfassende Familiengeschichte, die man getrost als exemplarisch für diese Zeit nehmen kann. Ständig beschleicht eine beim Lesen das Gefühl der Allgemeingültigkeit des Erlebten von einem Erzähler, der das Herz am rechten Fleck hat.“ – Buchhändler Martin Hungenbach, Das Worthaus

„Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Erinnerungsfetzen fügen sich wie Puzzleteile zu einem berührenden und stimmigen Familien- und Gesellschaftsportrait.“ – Buchhändlerin Sabine Piechaczek von der Buchhandlung Lothar Junius

„Andreas Fischer, der mit großen offenen Kinderaugen schreibt, vermeidet jegliche Psychologisierung, was gut ist. Am Ende des Buches, dessen Cover mich erst einmal abgeschreckt hat,, das ich dann aber mit großer Spannung und in einem Rutsch gelesen habe, sind alle diese Menschen tot. Andreas Fischer hat ihnen ein faszinierendes literarisches Denkmal gesetzt.“ – Sabine Schiffner bei lovelybooks

„Nicht nur, weil ich im Rheinland geboren bin, musste ich dieses Werk lesen. Und was soll ich sagen: es hat mich sofort gepackt. Abwechslungsreich und intensiv wird man in das Leben des Erzählers und seiner Familienmitglieder in die verschiedenen Zeiträume und Handlungsorte mitgenommen. Durch Zeitdokumente und Bildmaterial werden die erzählten Eindrücke ergänzt und noch intensiver.
Eine tolle Aufarbeitung einer tragischen Familiengeschichte – eindrucksvoll geschrieben.“
– Buchhändlerin Simone Syska von Buch Otter (Ebersberg)

„Die Form ist eine brillante Entscheidung. Sie distanziert das Geschilderte und verhindert, dass Inhalt und Thema in einem überemotionalen, gefühlstriefenden Morast versinken. Der Leser wird auch genug durchgerüttelt, denn was Andreas Fischer zu berichten hat, führt in ein finsteres Tal, das er als Kind durchschreiten musste. Die Verlierer des Verwüstungskrieges haben ihre Wut an der nächsten Generation ausgelassen; und der übernächsten – unmittelbar oder mittelbar.“ – Schriftsteller Alexander Preusse bei schreibgewitter.de

„Schmerzhaft und sehr detailgetreu wird die familiäre Situation beschrieben, dessen Epilog länger als der tatsächliche Epilog ist. Der Roman liest sich nichtsdestotrotz als Zeitdokument der 1970iger Jahre und den technischen Erfindungen, die Andreas eine neue Welt eröffnen. Fischer sucht die Nähe zu den Leser:innen in den Orten seiner Kindheit: Baggergruben, Kirchen, kleine Kinderzimmer, Küchen und die Straßen von Troisdorf. „Die Königin von Troisdorf“ ist harter Tobak, Fischer hinterfragt Glaubensgrundsätze und historische Ereignisse, er geht mit selbst dabei am härtesten ins Gericht.“ – Katharina Peham, katkaesk


Bibliographische Angaben:

Andreas Fischer
Die Königin von Troisdorf
Wie der Endsieg ausblieb
eschen 4 verlag, Berlin
473 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen, 22,50 €
ISBN: 978-3-00070-369-0
Erscheinungstermin: 31.3.2022

Kontakt zum Verlag:

eschen 4 verlag
Eschenstr. 4
12161 Berlin
030 81006740
verlag@eschen4.de
https://www.eschen4.de/

Presseanfragen und Rezensionsexemplare: Birgit Böllinger, Telefon 0821 4509-133, kontakt@birgit-boellinger.com


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Autor

Ralf Rothmann. Im Frühling sterben

Ein Krieg macht Unschuldige zu Opfern und zu Tätern. Ralf Rothmann schreibt eindrücklich über die Traumatisierung einer Generation.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Der Psychiater Borwin Bandelow, einer der führenden Experten bei der Behandlung von Angststörungen, erinnerte in einem Interview im Schweizer Fernsehen daran, dass es in jeder Gesellschaft „Traumatisierungen“ gibt, individuelle und kollektive – speziell verwies er auf die europäische Generation jener, die den Zweiten Weltkrieg in irgendeiner Form miterleben mussten. Dies sei die Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die auf allen Seiten tausendfach zerstörte Seelen hinausspie, unbehandelt zurück entließ in ein zwar politisch scheinbar „befriedetes“ Leben, aber in persönliche und private Lebensentwürfe, die allermeist in Trümmern lagen.

Ob Opfer oder Täter – auch in der bundesrepublikanischen Wiederaufbau- und der folgenden Wirtschaftswunderzeit standen andere Prioritäten an, Geschichte wurde gemacht, es ging voran, alte Wunden wurden nur notdürftig verdeckt, die seelischen Schäden zur Seite geschoben, sie blieben unbehandelt. Kann Verschweigen Heilen bringen? Wohl nicht. Allenfalls eine Vertagung des Unverarbeiteten – vertagt und weitergegeben an die nachfolgenden Generationen.

Das Trauma des Kriegs wirkt über Generationen

Auch in meiner Familie gab es dies, das Schweigen der Großväter. Meinen eigentlichen Großvater mütterlicherseits lernte ich nie kennen: Er starb einige Jahre vor meiner Geburt an den Folgen seines Alkoholismus. Er sei ein lieber, liebenswürdiger und sensibler Mann gewesen, so wurde mir berichtet, der verändert und gebrochen aus dem Krieg zurückgekehrt sei. Der zweite Mann meiner Großmutter stammte aus jener Gegend, die Melinda Nadji Abonji in ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ beschreibt: Der Vojvodina mit ihrem bunten Völkergemisch. Eine Ansammlung verschiedener Nationalitäten, die sich in der Habsburger Zeit irgendwie arrangierten und kaum, war dieses einigende k.- u.-k.-Band zerschnitten, gegenseitig verfolgten.

Mein Großvater, ein Donauschwabe, war nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA ausgewandert, den größtmöglichen Abstand und materielle Sicherheit suchend. Über die Zeit und Erlebnisse vor seiner Auswanderung sprach er nie. Später, im Alter, von Alzheimer geplagt, fand man den alten Mann oftmals im Keller seines Hauses versteckt, zitternd vor Furcht und stammelnd: „Die Russen kommen.“ Der Großvater väterlicherseits dagegen kannte diese Angst nicht – wenn er von uns Enkeln in der kindlichen Erwartung einer Abenteuergeschichte aufgefordert wurde, „doch mal was vom Krieg“ zu erzählen, dann kamen allenfalls einige Episoden über seine lange Gefangenschaft und die Hilfe, die er und seine Kameraden von einigen russisch Bauern erhalten hatten. Er hatte überlebt, irgendwie – was er dafür zu tun hatte, auch was er im Krieg zu tun hatte (natürlich fragten wir als Knirpse auch unbefangen-sensationslüstern, ob er denn einen „totgeschossen“ habe) – darüber verlor er kein Wort. Seine dürftigen Erzählungen aus dieser Zeit glichen einem dünnen Reiseführer: Der Schwabe, der erstmals in Frankreich ein Baguette kostet und von einem russischen Bauern ein Hühnchen bekommt.

Das Schweigen gegenüber den Nachkommen

Das Schweigen der Großväter: Es prägte die Familie in mehrfacher Hinsicht. Über den Krieg wurde nur gemunkelt. Und auch die Brüche in den Biographien ihrer Kinder, die in den entscheidenden Jahren ohne Väter aufwuchsen, sie blieben: Brüche. Die Rolle der Ehefrauen, die zuhause ihren Mann standen und dann zurücksollten in ihre klassische Funktion – auch das ein Bruch. Wie umgehen mit den fremden, schweigsamen, veränderten Männern nach ihrer Heimkehr? Für meine Großmütter kam „Das Wunder von Bern“ zu spät in die Kinos.

Wie sehr prägen solche traumatischen Erfahrungen auch die nachfolgenden Generationen, wie sehr eine Familiengeschichte?
Wie lange braucht es, um solche Erfahrungen zu überwinden?
Wie sehr wird das Gefühl von Schuld und Angst weitergegeben?
Wann ist das Schweigen überwunden, wann wird aus Schuld die Übernahme von Verantwortung?
Welche Schlüssel gibt es, um das Schweigen aufzulösen?

Ein langer persönlicher Epilog zu einem wichtigen Buch.


„Im Frühling sterben“ von Ralf Rothmann

An einigen Stellen wurde es bereits als „der beste Roman“ dieses Jahres bezeichnet. Und auch wenn ich solche verallgemeinernden Prädikate scheue – für mich ist es auf jeden Fall eines der wichtigsten Bücher, die ich in den vergangenen Monaten gelesen habe. Rothmann, selbst Jahrgang 1953, also mit der fragwürdigen Gnade der späten Geburt ausgestattet, erzählt, so Hilmar Klute in einer Kurzvorstellung in der Süddeutschen Zeitung, „vom dunklen Erbe der Väter“. Im Mittelpunkt stehen die beiden 17jährigen Jungen Walter Urban und Fiete Caroli, beide in Norddeutschland auf einem Hof als Melker tätig. Beide jung, verliebt, voller Hoffnungen, trotz der Einschränkungen, die das Kriegsgeschehen mit sich bringt.

Rekrutiert im letzten Kriegsjahr

Es ist das letzte Kriegsjahr, die Fronten bröckeln an allen Seiten und trotz der absehbaren Niederlage werden alle Jahrgänge ins Feuer geschickt, verbrannt und verheizt. So trifft es auch die beiden Jungs, die bei einer Dorffeier  zwangsrekrutiert werden. Fiete ist immer schon der Aufsässigere, Temperamentvollere, der seiner kritischen Haltung gegenüber dem Nazi-Regime in spöttischen Bemerkungen Luft macht, aber vom ruhigen, bedächtigen Walter gedämpft und zurückgehalten wird. Fiete ist schließlich auch derjenige, der der andauernden Vergewaltigung seines Willens, seines Menschseins durch den Krieg und die Kriegsmacher (letztendlich ist der Krieg immer von Menschen gemacht – jene, die die Schlachtenpläne entwerfen und jene, die sie ausführen), entfliehen will: Er desertiert.

Mitschuldig am Tod des besten Freundes

Walter, der nur leise angesichts zahlloser Gräuel Aufbegehrende, wird einmal aus eigener Entscheidung aktiv, versucht für den Freund bei seinem Vorgesetzten einzutreten. Doch der Versuch ist nicht nur aussichtslos, sondern selbst nicht ohne Gefahr für den jungen Mann – er könne sich, so er sich nicht selbst auch am Standgericht beteilige, gleich mit an die Wand stellen. Walter, als Teil des Erschießungskommandos, macht sich mit Schuld am Tod seines besten Freundes – eine Last, die er nach der Heimkehr mit niemanden teilen kann, niemanden mitteilen kann, nicht einmal der Freundin und späteren Ehefrau. So ist deren spätere Wiederbegegnung ebenso gezeichnet vom Unsagbaren, die Rückkehr aus der Hölle, die Wiederaufnahme eines Lebens, eines Alltags, einer Normalität vom Schweigen und Verschweigen geprägt. Fazit: Im Krieg machen sich selbst die Unschuldigsten schuldig, ein Entkommen gibt es nicht. Tot oder lebendig, dann aber seelisch tot – vor dieser Wahl steht Walter. Und da er selbst niemals sprechen gelernt hat, da es aber ebenso wenig die Hilfen gibt, die heute zumindest zur Verfügung stehen, bleibt dieser Mann gefangen in den Gefühlen einer Schuld, die er alleine nicht tragen, die ihm aber auch keine helfende Hand nehmen kann.

Rothmann ist ein großartiger Erzähler

Ralf Rothmann zeigt sich hier einmal mehr als großartiger Erzähler, der eine Geschichte geradlinig voranzutreiben weiß, fast nüchtern, und dabei, wie Klute schreibt, „diese Zeit, die er selbst nicht erlebt hat, in schrecklich klare, magisch realistische Bilder“ zu bannen weiß. Leise-zurückhaltend in der Sprache – und gerade dadurch erreichend, dass die ganz Last und Wucht des Krieges unmittelbar spürbar wird, dass das Grauen den Leser in der Seele zerrt. Sparsam setzt Rothmann dazwischen beinahe schon irisierend wie winzig aufflackernde Hoffnungslichter poetisch-leise Naturbilder ein, kleine Atempausen, während derer die Waffen schweigen.

Für das Kernthema dieses Romans ist jedoch noch wichtiger als die Erzählung der Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs die schmale Rahmenhandlung. Auf wenigen Seiten entwirft zu Romanbeginn der Erzähler, Walters Sohn, an dessen Lebensende ein Portrait seines Vaters, das Portrait eines einsamen, gescheiterten Lebens – ein Mann, der aus seiner Schweigsamkeit nicht herausfand, der sich in den Alkohol flüchtete, im Versuch Schrecken und Last zu verbannen. Der im Grunde nicht anders handelte als der eigene Vater, selbst ein durch die Zeitläufte Gebrochener, dann ein im zweiten Krieg Gefallener. Die sich dann allmählich entblätternde Geschichte macht begreifbar: Das ist die verlorene Generation, die sich gewissermaßen noch einmal unverschuldet „mitschuldig“ macht an ihren Nächsten – die das unverarbeitete Trauma weiterreicht.

Am Ende kommt nochmals der Erzähler zu Wort, als er an das Grab der Eltern fährt, das aufgelöst werden soll. Lapidar die Mitteilung: „Ruhezeit beendet“. Was Rothmann damit aber auch in diesem autobiographisch geprägten Roman sagt, ist: Schweigezeit beendet. In einem Interview mit der „Welt“ betont er: „Was wir vererben sollten, ist die Verantwortung, Sorge dafür zu tragen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.“

Ein hochaktuelles Thema

Und gerade dieses macht den Roman heute – 70 Jahre nach Kriegsende – so hochaktuell: Die unsichtbaren Schäden, die dieser Krieg bei den Überlebenden hinterließ, die Schmerzen, die niemals behandelt wurden – sie wirken fort, sie wirken noch Generationen nach. Rothmann hat den Weg des Schreibens gefunden, um – vielleicht ein wenig pathetisch ausgedrückt – die Lasten seiner Eltern abzutragen. Und er erinnert nun mit diesem Buch in einer Zeit daran, als die Traumata, die sichtbaren und unsichtbaren, beinahe schon zu verblassen drohen, Aufarbeitung abgehakt. Vielleicht mag er auch ein wenig aufrütteln, jene Generation der Nachkommen, für die diese Erfahrungen nur noch Erzählungen der „Vorfahren“ sind, wo der „Krieg“ zum medialen Ereignis wird, für manche auch zum Abenteuer im Nahen und Fernen Osten, wo die Empathie mit Kriegsopfern, Flüchtlingen, traumatisierten Menschen sinkt. Wer weiß.


 Bibliographische Angaben:

Ralf Rothmann
Im Frühling sterben
Suhrkamp Verlag, 2015
ISBN: 978-3-518-46680-3

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