Nora Gantenbrink: Dad

Roadmovie und Coming-of-Age, Biographisches und Fiktion und am Ende leider mucho Kitsch trotz des lakonischen Tons.

„Von allen Momenten mit meinem Vater war dieser der schlimmste. Denn als er dort so lag, wurde mir klar, dass es vorbei war. Es gab für uns keine Hoffnung mehr auf eine gemeinsame Zeit. Die meisten Jahre meines Lebens war mein Vater nicht da gewesen, und jetzt würde er für immer fortbleiben. Ich nahm das Buch aus seinen Händen und ging raus. Er hätte nicht gewollt, dass ich ihn so sehe.“

Nora Gantenbrink, „Dad“

Sich die eigene Biographie mit all ihren Brüchen und schwierigen Episoden anzueignen, dies scheint ein Trend bei Debütromanen zu sein. Vielleicht braucht es für den ersten Roman diesen „therapeutischen“ Druck, der einen zum Schreiben bringt, vielleicht liegt das Biographische auch einfach nahe, weil, je jünger die Autorin, der Autor sind, desto geringer auch die Welt- und Lebenserfahrung ist. Sei es, wie es will: Im besten Falle kommt ein großer literarischer Wurf zustande und in vielen anderen Fällen gut lesbare Bücher, so „Süßwasser“ von Akwaeke Emezi, „Alles, was passiert ist“ von Yrsa Daley-Ward, jüngst „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber oder nun auch der im Februar erschienene Roman „Dad“ von Nora Gantenbrink.

Die Stern-Reporterin, die bereits den Erzählband „Verficktes Herz“ veröffentlichte, nähert sich in ihrem Roman einer Sehnsucht an, die wohl bei fast allen betroffenen Menschen nie zu stillen ist und je nach Konstitution das Leben stärker oder schwächer prägt: Die Sehnsucht nach einem Elternteil, das nie vorhanden oder kaum greifbar war.

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Von der Reeperbahn zurück in die Provinz

Das Buch führt seine Leser direkt von der Reeperbahn in die deutsche Provinz und dann um die halbe Welt. Die Journalistin Marlene lebt auf dem Kiez, schlägt sich mit freien Aufträgen für Musikmagazine durch und ist, abgesehen von zwei engen Jugendfreunden, mehr oder weniger bindungsscheu: Das ganze Leben auf Provisorium eingestellt:

„Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich nicht so enden möchte wie mein Vater.“

Dabei hat sie mit ihm etwas ganz Wesentliches gemeinsam, wie die Mutter feststellt:

„Den Hang zum Rausch und die Sehnsucht nach Sonne.“

Selten ist der Vater, der lieber Dad genannt werden möchte, für seine Tochter da: Sein Hang zum Rausch führt ihn zu den Hotspots der Hippiekultur in den 1970er-Jahren, nach Marrakesch, Goa und Thailand. Immer auf der Suche, immer auf der Flucht.

Keine Heldengeschichte

Die intensivste Zeit gemeinsam haben die beiden, als er todkrank, mit HIV infiziert, im Krankenhaus liegt – aber da ist es bereits zu spät, die offenen Fragen zu klären. Marlene begibt sich auf Spurensuche: zu den ehemaligen Kumpels, zu den Orten, an denen ihr Vater auf seinem immerwährenden Trip war. Eine desillusionierende Reise voller lakonisch-komischer Momente.

„Am Ende ist die Geschichte meines Vaters keine Heldengeschichte geworden, weil mein Vater eben kein Held ist. Aber die meisten Menschen sind keine Helden. Auf manche meiner Fragen habe ich Antworten gefunden, auf andere nicht. Manche Fragen sind damit selbst zu einer Antwort geworden. Ich glaube, dass mein Vater mich geliebt hat. Aber das Leben noch mehr.“

„Dad“ ist eine Mischung aus Fiktion und Biographie, ein Coming-of-Age-Roman aus der Retrospektive erzählt, ist Roadmovie und Provinzroman zugleich. Dass Marlene das Alter ego der Autorin ist, die auch in ihrem Leben ihrem Vater nachspüren musste, darüber erzählte Nora Gantenbrink bereits in mehreren Interviews.

Cool, zart und lebensklug

Gantenbrink psychologiert nicht zu tief, sondern erzählt lieber flüssig. Das hat seine lakonischen Momente, die großartig sind, das ist cool und zart und lebensklug zugleich. Nur leider überspannt sie in meinem Augen die Geschichte vom treuen Freund aus Kindertagen am Ende deutlich – natürlich ist Oleg, eine Mischung aus Seelenkumpel und Vaterersatz, seit Jahren heimlich in seine Marlene verliebt, schreibt ihr täglich Briefe, die er nie absendet, aber nach seinem frühen Unfalltod in ihre Hände gelangen.

Das ist ein wenig „mucho, mucho“, um Udo Lindenberg zu imitieren, der auf dem Cover zitiert wird. Das Zitat auf dem Cover löste bei mir übrigens ein breites Grinsen aus – wem fällt noch was auf?

„I love Gantenbeins Schreibe mucho, mucho.“ Udo Lindenberg

Informationen zum Buch:

Nora Gantenbrink
Dad
Rowohlt Verlag, 2020
Hardcover, 240 Seiten, 20,00 Euro
ISBN: 978-3-498-02535-9

Literarische Orte: Hermann Hesse im Tessin

1919 fand Hermann Hesse in Montagnola seinen Rückzugs- und Lebensort. Dort, im Tessin, kam er zur Ruhe.

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Kennst du das auch, dass manchesmal
Inmitten einer lauten Lust,
Bei einem Fest, in einem frohen Saal,
Du plötzlich schweigen und hinweggehen musst?

1919 fand Hermann Hesse für sich einen Rückzugsort: Montagnola im Tessin. Seit einigen Jahren gibt es nahe bei der Casa Camuzzi, in der Hesse bis 1931 lebte, das Museum, das einen guten Eindruck vermittelt von den Tessiner Jahren Hesses. Hier, nach Montagnola, zog er sich zurück, um seine Depression zu bekämpfen oder zumindest mir ihr Leben zu können, hier entstanden auch einige seiner Hauptwerke, so „Narziß und Goldmund“ und „Siddharta“. Und hier lernte er seine engen Freunde Hugo Ball und Emmy Hennings-Ball kennen, trennte sich von seiner ersten Frau Mia, ging eine kurze Ehe mit Ruth Wegner ein, um schließlich bei Ninon Dolbin Halt zu finden.

Trotz literaturtouristischen Trubels (auch Udo Lindenberg und Patti Smith zählten unter anderem zu Besuchern des Museums, wie dieser SPON-Artikel ausführt): Man kann noch immer die Ruhe erahnen, die Hesse hier fand und brauchte. Eine literarische Spurensuche durch Hesses Montagnola stellt die Süddeutsche Zeitung hier vor.

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