Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

„Die Insel des zweiten Gesichts“ von Albert Vigoleis Thelen: Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, welches Buch ich auf einen Inselaufenthalt mitnehmen dürfte, dann wäre es ohne Zweifel dieses.

„Wenn ein Deutscher sich an einer historischen Stätte niederläßt, schöpft er tief Atem, krempelt die Hemdärmel hoch, falls er nicht schon hemdärmelig die Stätte betreten hat, zückt seine Bleifeder und schreibt eine Ansichtskarte. Das ist schon so, seit es auf der Welt Deutsche und Ansichtskarten gibt, zwei Schöpfungen, die sich ergänzen.“

Albert Vigoleis Thelen, „Die Insel des zweiten Gesichts“


Mal abgesehen davon, dass es heute eher Selfies und Whatsapp-Fotos sind, die verschickt werden: Manche Dinge ändern sich nie. Und so pilgern wie in den 1930er-Jahren, als sich der in Süchteln am Niederrhein geborene Schriftsteller Albert Thelen (den Vigoleis eignet er sich als Pseudonym und Alter Ego im Laufe seines abenteuerlichen Lebens später an, in Anlehnung an das mittelalterliche Versepos Wigalois des Wirnt von Grafenberg) auf Mallorca zeitweise auch als Reiseführer durchschlug, auch heute noch Scharen von Touristen nach Valldemossa, um dort ihr Mallorca-Bildungsprogramm zu absolvieren.

Ein Mallorca-Roman sondersgleichen

Die Besichtigung der Klause, wo George Sand mit Frédéric Chopin einen Winter lang fröstelte und das unverheiratete Paar unter der Ablehnung der erzkatholischen Mallorquiner litt, gehört zum literarischen Bildungsprogramm eines Aufenthalts auf der Balearen-Insel. Wenn auch die wenigsten von ihnen „Un Hiver à Majorque“ gelesen haben dürften. Und unter uns: Es lohnt das Lesen nicht. Sowieso nicht im Vergleich zur Insel des zweiten Gesichts, dem eigentlichen Mallorca-Buch, „das größte Buch dieses Jahrhunderts“, wie Maarten ‘t Hart, ein Thelen-Aficionado, bekannte. Wer des Holländischen mächtig ist, lausche und schaue hier.

In Gefahr, ob der Begeisterung über diesen barocken Brocken von Buch in den „Kaktusstil“ seines Verfassers zu verfallen (dazu später noch eine Anmerkung), zurück zum Vergleich George Sand und Albert „Don Vigo“ Thelen: Es ist jedenfalls eine schreiende Ungerechtigkeit der Literatur, dass die kalte Kartause in jedem Reiseführer zu finden ist, aber kaum einer an die Calle del General Barceló No. 23 erinnert. Oder gar an den „Turm der Uhr“, ein Horst für eine kriminelle Schmugglerbande und Bordell zugleich – gut, diesen zu verorten, dürfte auch schwierig sein, schrieb Thelen doch später selbst darüber: „der Witz ist nur der, daß ich selbst tarnend hatte schreiben müssen, und ich verschleierte die katasteramtliche Örtlichkeit, denn schließlich deckte ich Dinge auf, mit denen sich Behörden auch nach Jahren noch beschäftigen können…. So griff ich zum Schleier der Maja in einem Buch, das von der Wahrheit lebt und worin alles der Wirklichkeit nachgebildet ist…” (AV Thelen: Brief an die Redaktion, MERIAN Mallorca, Heft 3 März 1960).
Quelle: http://www.vigoleis.de/content/insel/0/67.htm

In der Altstadt von Palma. Bild von seth0s auf Pixabay

Doch hier kommen Don Vigo und seine Herzensdame Beatrice zeitweilig unter, als sie völlig abgebrannt und ohne einen Peso sind, freilich ohne sich an den Machenschaften im Turm zu beteiligen. Als sie sich mit Gelegenheitsarbeiten – sie als Sprachlehrerin, er als Reiseführer und Sekretär für andere prominente Mallorca-Exilanten, darunter Harry Graf Kessler und Hermann Graf Keyserling – etwas besser durchschlagen, wenn auch nach wie vor kaum für täglich Brot, geschweige denn einen zweiten Tisch oder Stuhl sorgen können, folgt der Umzug in die Straße des Generals. Doch zurück zum Anfang: Wie gelangen Albert Vigoleis und Beatrice (die über dies ungleich länger als George und Frédéric miteinander verbunden blieben, nämlich bis zum Rest ihres langen Lebens) überhaupt auf diese Insel?

1931 kommt das Paar auf die spanische Insel

Das Buch in nüchternen Worten beschrieben: 1931 erreicht Beatrice, die ihren Albert Vigoleis in Köln kennengelernt hatte, ein Telegramm ihres Bruders. „Liege im Sterben, Zwingli“, schreibt der Luftikus, der als Hotelmanager auf Mallorca tätig ist. Das damals noch unverheiratete Paar eilt stante pede zur Hilfe – um den Bruder zwar etwas mitgenommen, aber durchaus leibhaftig anzutreffen. Seine lebensbedrohliche Erkrankung ist die Liebe zur Hure Pilar, die ihn nicht nur nach Strich und Faden ausnimmt, sondern regelmäßig auch mit fliegendem Geschirr, Mobiliar und einem Messer bedroht.

Zwar gelingt es Beatrice, den Bruder aus den Klauen Pilars zu befreien und alle Schulden zu begleichen, aber der Preis ist heiß und hoch: Danach sitzen Beatrice und ihr Don Vigo auf dem Trockenen, nicht einmal mehr Geld zur Rückreise bleibt. Aus dem geplanten Besuch wird ein Daueraufenthalt, der bis 1936 währt.

Auf der Flucht vor den Faschisten

Auch deshalb, weil die Machtergreifung der Nationalsozialisten alles in der ehemaligen Heimat verändert: Albert Vigoleis Thelen macht aus seiner Abscheu keinen Hehl, bricht mit seiner katholischen Familie am Niederrhein, die sich bereitwillig anschließen lässt und mit seinen Wurzeln. Als der Spanische Bürgerkrieg beginnt, muss sich das Paar unter abenteuerlichen Umständen dem Zugriff der Faschisten entziehen, ihre Flucht führt sie durch halb Europa bis nach Portugal, wo Thelen als Gutsverwalter und Übersetzer des von ihm hoch geschätzten Mystikers und Dichters Texeira de Pascoaes überlebt.

„Die Insel des zweiten Gesichts“ umspannt diesen Mallorca-Aufenthalt, endet, finis operis, 1936:
„Die Natur sorgte für einen letzten Effekt, der bei allem Gleisen doch nicht zu theatralisch genommen sein will. Wieder heulten die Sirenen auf, und im selben Augenblick schloß sich die Wolke. Wer hatte sie fallen sehen? Ein weißlicher Schein umhüllte uns, starr war die Planke, lautlos die Welt. Unsichtbar über uns blaute der glühende Meertag, und unten wallte die Nacht, die das Ziel verhüllt.
Das Ziel hieß: Freiheit.“

Die Kurzzusammenfassung erfasst nicht einmal annähernd, was dieses fast 1000-seitige Werk an Leben und Literatur in sich birgt. „Thelen brennt ein Sprachfeuerwerk ab, das in der Literaturgeschichte seinesgleichen sucht. Mit Hilfe eines Wortschatzes, der der umfangreichste in der gesamten deutschen Literatur sein dürfte“, schreibt der Thelen-Kenner und Germanist Jürgen Pütz. Inzwischen dürfte es mehr literatur- und sprachwissenschaftliche Arbeiten über die Verwendung neuer Wortschöpfungen, Wiederbelebung altdeutscher Worte und dem artistischen Umgang damit bei Thelen geben, als aktive Leser seines Werks. Was jammerschade wäre. Jürgen Pütz nennt in seinem Nachwort zur Ausgabe im Claasen Verlag einige Beispiele:

„Alleine für Zwinglis Freundin Pilar hält Thelen zahlreiche Synonyme bereit: Schlunte, Zaupe, Zauche, Lunze, Schindkracke, Bettunzel, Schöke, Hehre, Strunze.“

Wer so mit Wörtern umzugehen vermag, der braucht Raum. Doch nicht nur dieses führt dazu, dass „Die Insel des zweiten Gesichts“ zum ausufernden Leseerlebnis wird, von dem man sich wünscht, es möge nicht so schnell enden (was es in der Tat auch nicht tut – es ist eines dieser Bücher, die man immer wieder lesen kann und dabei immer wieder Neues entdecken wird). Es ist auch dieser mäandernde, digressive Erzählstil, den Thelen pflegt, der zum Volumen beiträgt. Immer wieder schießt er bei seinen Anekdoten vom Inselleben vor und zurück, führt uns in die Welt seiner niederrheinischen Familie oder auf das portugiesische Gut, integriert kunstvoll Abschweifungen und Ablenkungen von der eigentlichen Inselerzählung. Thelen selbst nennt das „Kaktusstil“:

„(…) es bilden sich Ableger, ins Wilde hinein, wie beim Kaktus, der gerade da Augen setzt, wo man sie nicht erwartet.“

Es braucht fast zwanzig Jahre, bis Albert Vigoleis Thelen, der bis dahin nur einen Gedichtband veröffentlichen konnte, die Mallorquiner Ereignisse in diese Mischung aus Autobiographie und romanhafter Erzählung goss. Ein Beispiel autofiktionaler Literatur, die heute wieder so en vogue ist – doch an Thelen reicht keiner heran, so funkensprühend, lebensprall, ausufernd, exorbitant ist dieses Buch.

Ein Solitär der deutschen Literatur

Ein Solitär, aber leider auch ein „One-Hit-Wonder“: Wiewohl die 1953 zugleich in den Niederlanden und Deutschland erschienene „Insel“ ein Jahr später mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet wurde, obgleich Thomas Mann, Paul Celan und Siegfried Lenz das Buch über die Maßen lobten, der große Erfolg blieb Thelen versagt. Mit ausschlaggebend dafür war, dass das Buch nicht in den Zeitgeist der Nachkriegs-Autoren passte, wie auch Agnes Steinbauer in einem Beitrag für den Deutschlandfunk hervorhob:

„Sein ausladend-verästelter Erzählstil, den er selbstironisch Kaktusstil nannte, passte nicht ins literarische Profil der frühen Nachkriegsjahre. Bei einer Lesung 1954 in Bebenhausen kam es zu einem Eklat, den Thelen nie verwand. Noch Jahrzehnte später erinnerte er sich: „Ich wurde von Hans Werner Richter sehr unfreundlich empfangen, ja ich darf es wohl sagen und ich muss es ja auch schließlich sagen, denn es entspricht der Tatsache und der Wahrheit: es war ungezogen.“ Richter – Vorsitzender der Gruppe 47 – hatte sich mit sarkastischen Bemerkungen über Thelens altertümelndes „Emigrantendeutsch“ mokiert.“

Oder, wie Jürgen Pütz es formuliert: „Regentropfen hätten sie toleriert, aber es kam ein Wolkenbruch.“

Diesem Wolkenbruch sind einige der schönsten, komischsten, tragischkomischen und gescheiterten Figuren zu verdanken, die man sich in der deutschsprachigen Literatur erlesen kann: Angefangen vom Autor selbst, der in mir das Bild eines melancholischen und zugleich witzigen Pierrots hervorruft, der vor Fantasie und Sehnsucht sprüht. Saludos a Don Vigo! Aber daneben auch die Beatrice mit ihren Inka-Wurzeln, der frustrierte ehemalige Kampfflieger Martenstein, der an einem Roman schreibt, in dem er eine Affenarmee aufmarschieren lässt, die anarchistischen Uruguayer, die regelmäßig mit ihren selbstgebastelten Bomben scheitern, die angebliche amerikanische Backpulver-Millionärin, von der sich Don Vigo adoptieren lassen will und der pornosüchtige jüdische Exilant Silberstein, um nur einige zu nennen: Was für ein köstliches Welttheater sich da entfaltet!

„Die Insel des zweiten Gesichts“: Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, welches Buch ich auf einen Inselaufenthalt mitnehmen dürfte, dann wäre es ohne Zweifel dieses.


Bibliographische Angaben:

Albert Vigoleis Thelen
Die Insel des zweiten Gesichts
List Verlag, 2005
ISBN: 978-3548605142

Siegfried Lenz: Schweigeminute

„Schweigeminute“ markierte im Leben von Siegfried Lenz Abschied und Neubeginn zugleich. 80 Jahre alt war Lenz, als er seine erste Liebesgeschichte schrieb.

Bild: Iris Jahnke

„Bevor sie ausstieg, küsste sie mich noch einmal, und vor der Haustür winkte sie mir zu, nicht flüchtig, nicht beiläufig, sondern langsam und so, als sollte ich mich abfinden mit dieser Trennung. Vielleicht wollte sie mich auch trösten. Damals dachte ich zum ersten Mal daran, mit Stella zu leben. Es war ein jäher, ein tollkühner Gedanke, und heute weiß ich, es war ein in mancher Hinsicht unangemessener Gedanke, der nur entstehen konnte aus der Befürchtung, dass das, was mich mit Stella verband, ein Ende haben könnte. Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt.“

Siegfried Lenz, „Schweigeminute“

„Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt“: Es sind solche beinahe lakonischen Sätze, die wie hingeworfenen wirken, die Siegfried Lenz zu einem ganz großen Erzähler machten. Es ist diese Kunst des ökonomischen Einsatzes von Sprache, die nicht nur „Schweigeminute“, sondern das ganze umfangreiche Erzählwerk, das dieser Schriftsteller hinterließ, prägt. In einem Satz die ganze Sehnsucht Liebender eingefangen, in einem Absatz die ganze Erzählung gebündelt: Von der Unmöglichkeit einer Liebe, vom Verlassenwerden, vom Überwindenwollen dessen, was trennt. Anfang und vorgezeichnetes Ende einer Liebe und die in ihr liegenden Schwierigkeiten so nebenbei und unaufdringlich in einem Absatz eingefangen – das ist die leise Erzählkunst von Siegfried Lenz gewesen.

„Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt“: Vielleicht auch ein Schlüsselsatz für die Entstehungsgeschichte dieser Erzählung, die, knapp 130 Seiten lang, ganz ruhig und unaufgeregt in Lenzscher Manier daherkommt und dennoch eine Wucht entfaltet wie die Brandung im Sturm. „Schweigeminute“ erschien 2008, zwei Jahre nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Liselotte. Als Liselotte nach 57 Ehejahren starb, stürzt Siegfried Lenz in eine Lebens- und Schreibkrise. Ulrich Greiner erzählte er in der „Zeit“ (Interview vom 14. Mai 2008):

„Meine Frau hat noch die ersten dreißig, vierzig Seiten der Schweigeminute gehört. Wir haben es immer so gehalten, dass ich ihr vorgelesen habe. Sie war sehr einverstanden damit. Dann starb sie. Ich habe später zweimal versucht, die Geschichte wiederaufzunehmen. Ich hatte den Eindruck, dass es katastrophal missglückte. Es ging so weit, dass ich glaubte, die Imagination habe mich verlassen. Aber dann, mit der Zeit, hat es sich wieder geregelt. Eine Freundin hat mir unendlich viel geholfen. So ist es doch geglückt. Ich möchte sagen, dieses Buch war meine Selbstrettung. Und jetzt höre ich von einem Pädagogen, dass er schon im nächsten Jahr dieses Buch als Abiturprüfungsbuch verwenden möchte.“

Das Buch der Weggefährtin Ulla gewidmet

Gewidmet ist das Buch jener Freundin und Nachbarin, Ulla, die Lenz aus der Krise half und die er 2010 heiratete. So markierte „Schweigeminute“ im Leben des Schriftstellers ein Abschiednehmen und einen Neubeginn zugleich. Und einen Höhepunkt im literarischen Schaffen: 80 Jahre alt wurde Lenz, bis er erstmals eine reine Liebesgeschichte schrieb – eine Erzählung, über die sich Marcel Reich-Ranicki in der FAZ 2008 so äußerte:

„Stella, die Ältere, die über mehr Erfahrungen verfügt, sieht alles skeptischer. Um aber Christian ihr Einverständnis zu erkennen zu geben, sagt sie ihm: „Du musst dir nun überlegen, was besser ist für uns … Es kann nicht so sein wie früher.“ Was immer sie im Sinne haben – sie sind zart zueinander, so zart, wie der Autor dieser Liebesgeschichte zu seinen Geschöpfen ist. Wir haben meinem Freund Siegfried Lenz für ein poetisches Buch zu danken. Vielleicht ist es sein schönstes.“

„Farm der Tiere“ die gemeinsame Lektüre

Ein poetisches Buch, wie wahr: Da ist Christian, der 18jährige, der sich in seine nur wenige Jahre ältere Englischlehrerin Stella verliebt. Sie tanzen nur einen Sommer lang – eine Liebe, die unmöglich scheint, an den gesellschaftlichen Konventionen zu scheitern drohte, wäre ihr nicht ein ganz anderes Ende vorgegeben. Stella verunglückt tödlich auf einem Schiff, „Polarstern“ ausgerechnet dessen Name. Denn in gewisser Weise ist die Ältere für Christian ein Leitstern, ein Fixpunkt. Viel ist von englischer Literatur die Rede, verknüpft mit Politik, gelesen wird Orwells „Farm der Tiere“. So erzählt Lenz im hohen Alter nicht nur von der ersten Liebe, die meist so prägend ist, sondern insgesamt von der Entwicklung der Persönlichkeit eines jungen Mannes. Dazu nochmals aus dem Zeit-Interview:

„Die Wahl fiel deshalb auf den jungen Mann – auch in anderen Büchern, der Deutschstunde zum Beispiel –, weil das Erzählen für mich gleichbedeutend damit ist, leben zu lernen. Mir klar zu werden über dieses unglaubliche Dickicht des Lebens. Erzählen ist eine Selbstbefreiung. Erzähl es, damit du es besser verstehst! Darum delegiere ich den Impuls des Erzählens an einen jungen Menschen, der im Prozess des Erzählens zu sich selbst kommt und zu leben lernt.“

Christian, der bei der Trauerfeier für die Schüler sprechen soll, verweigert sich dem: Zu nahe stand ihm die Verunglückte, zu tiefe Wunden riss ihr Tod. Doch er lernt danach, schreibend das Schweigen zu brechen, mit dem Verlust umzugehen – so wie für Lenz die „Schweigeminute“ eben selbst auch eine Unterbrechung des Erzählens geworden war, ein Weg von der Stille der Trauer zur Wiederaufnahme des Lebens, des Schreibens. Ein Buch, ein Mann, der Hesses „Stufen“ geradezu verkörpert. Dem jeden Anfang liegt ein Zauber inne.

Die Frage nach der möglichen Zukunft

Unweigerlich frägt man sich, wie diese Liebe hätte weitergehen können, ob die Liebe ein genügend starker Damm gegen die Wellen der Empörung gewesen wäre, wie sie miteinander hätten leben, lieben, lachen können. Ob das Ungleichgewicht – Stella vor allem, selbst überrascht von ihrer Zuneigung zu dem Schüler, ringt um ihre Autorität als Lehrerin, gibt sich in der Schule distanziert -, die Differenz der Jahre hätten überwunden werden können. Man wird es nicht erfahren. Und doch verflucht man beim Lesen die Urgewalten des Meeres, betrauert man den Tod – so sehr wünschte man sich auch, dass Christian und sein Stern, seine Meerjungfrau von der Vogelinsel beieinander hätten bleiben können. Die Liebe, sie endet dennoch nie.

So schmal das Buch, so dicht gewebt die Motive. Heinrich Detering in der FAZ am 21. Juni 2008:

Nicht um Wildnis und Zivilisation geht es hier, sondern bloß um Hafen und Vogelinsel, um das Steinriff in der Wassertiefe, um Windstille und Sturmböen am Badestrand; nicht um die Liebe als Feuersbrunst, sondern bloß um den kleinen Brandfleck auf dem Bettlaken. Der einfache Umstand, dass der Vater des Erzählers als „Steinfischer“ Felsbrocken aus den Fahrrinnen heraufholt und Molen aufschüttet, macht auf die lässigste Weise so Hemingwaysche Sätze möglich wie die Erläuterung gegenüber einem schottischen Besucher: „We are only fishing for stones.“

Heinrich Detering über Lenz‘ Erzählkunst

Die Kuhle im Kopfkissen – das ist das äußerste, was Lenz an den körperlichen Spielformen der Liebe beschreibt. Das mag, wo nichts mehr als unbeschreibbar erscheint, wo Seelen- und Körperstriptease zum täglichen medialen Programm gehört, mit dem wir konfrontiert werden, altmodisch erscheinen. Und dennoch liegt in dieser Kuhle gerade die tiefste Zärtlichkeit, die ein Schriftsteller seinen Figuren widmen kann. Es ist, als rieche man noch den Duft der Liebenden im Kissen.

Noch einmal Heinrich Detering zur Erzählkunst des Siegfried Lenz:

„Die Romane, die Siegfried Lenz seit der „Deutschstunde“ veröffentlichte, haben ihrem Autor bis heute eine zweischneidige Popularität eingebracht. Der Rückzug in zeitferne Gegenwelten und eine Neigung zum Bedächtigen, wenn nicht Betulichen, die manche Leser entzückten, haben die Literaturkritik oft auf skeptische Distanz gehen lassen; eher höflichen Respekt als Neigung hat sie diesem Schriftsteller seither weithin entgegengebracht. Gegen diese wohlwollende Unterschätzung ist beharrlich daran zu erinnern, dass Lenz in seinen kurzen Erzählungen die amerikanische short story so stilsicher adaptiert und mit einer genuin deutschen Novellentradition zusammengeführt hat wie kein zweiter Autor seiner Generation, vom Frühwerk bis in Erzählungen wie „Ein Kriegsende“ von 1984.

Wer immer schon der Ansicht war, dass Lenz‘ eigentliche Stärke in diesen Erzählungen kurzen und mittleren Umfangs liege, kann sich durch diese Novelle bestätigt finden. Meisterhaft ist sie in einem ganz handwerklichen Sinne. Und ebendeshalb erreicht sie so sicher jenen Punkt, an dem die stupende Präzision der pièce bien faite umschlagen kann in die Magie des Geschichtenerzählens. Altmodisch? Modern? Die alten Streitvokabeln der Lenz-Liebhaber und -Kritiker verblassen vor dieser souveränen Lakonie. Darin liegt das eigentlich Wunderbare dieses Buches: Es ist eine einfache Geschichte.“

Siegfried Lenz, der am 7. Oktober 2014 verstorben ist, hinterließ mit „Schweigeminute“ nicht nur eine wunderbar einfache Geschichte, sondern tatsächlich, wie Marcel Reich-Ranicki schrieb, sein poetischstes Werk. Man darf dankbar sein, dass er letzten Endes nach so langem Schweigen auch von der Liebe erzählt hat.

Informationen zum Buch:

Siegfried Lenz
Schweigeminute
Hoffmann und Campe Verlag, 2008
Taschenbuch 2021
ISBN: 978-3-455-01165-4

Die mobile Version verlassen
%%footer%%