Ulrike Draesner: Die Verwandelten

Ulrike Draesner gibt in ihrem neuen Roman „Die Verwandelten“ den Frauen, die im Krieg und auf der Flucht Gewalt erfuhren und erfahren, eine Stimme. Ein beeindruckender Roman, der allerdings auch einiges voraussetzt – insbesondere ein Einlassen auf den spezifischen Stil der Autorin.

„Das Große Schlimme in Alissas Leben, der Lebensborn, hatte seinen Schatten auch auf mich geworfen. Der Lebensborn war unsere schwarze Sonne gewesen.“

Ulrike Draesner, „Die Verwandelten“


Das Thema der transgenerationalen Weitergabe ist immer wieder eines der deutschen Literatur. Wenig verwunderlich: Zwei Weltkriege hinterlassen über Generationen hinweg ihre Spuren in den Menschen. Rund 100 Jahre, so meint eine der Figuren in Ulrike Draesners neuem Roman, dauere es, bis die Kriegstraumata vergessen und vielleicht überwunden sind.

Skulptur in Breslau. Bild von peterart auf Pixabay

Doch noch sind die Menschen nicht verwandelt, noch wirken die grauenhaften Ereignisse nach, wie auch Kinga Schücking, Anwältin für Erbrecht, alleinerziehende Mutter eines Adoptivkindes, erfahren muss. Bei einem Vortrag begegnet sie Doro, Enkelin von Marolf, einst ein deutscher Theatermann in Breslau, der, wie es sich Zug um Zug in diesem voluminösen Roman entblättert, auch Großvater von Kinga ist. Seiner Leidenschaft für das Dienstmädchen Adele entspringt Alissa, Kingas Mutter, die in einem Lebensborn-Heim in Bayern zur Welt gebracht und schließlich von einem nationalsozialistischen Ehepaar adoptiert wird.

Spurensuche in Breslau

Die beiden Halbschwestern begeben sich auf Spurensuche: Doro entstammt der Ehe von Marolf und Else, die dessen Verhältnis zu Adele lange Zeit duldete. Auch Else ist, wie beinahe alle Frauen in diesem Roman, eine Gebrochene und zugleich Starke, eine, die sich immer wieder Lebensverhältnissen anpassen muss, die von der Außenwelt, der Männerwelt, diktiert sind und doch, trotz grauenhafter Erlebnisse im Krieg, einen ungeheuren Überlebenswillen an den Tag legt. Wie ihr Spiegelbild Adele, die zweite Frau in der Breslauer Ménage-à-trois, in der es vor allem darum geht, den bipolaren Marolf durch seine düsteren Phasen zu bringen, geschieht ihr das, was für eine Mutter zunächst als das Schlimmste erscheinen mag: Sie verliert in den Kriegswirren ihre Tochter Reni, die Mutter Doros. Doch bei beiden, sowohl bei Else als auch Adele, ist der Akt des Verlustes zunächst auch ein Akt der Befreiung, der Entlastung von der Sorge um noch einen Menschen: Der Krieg fordert seine Opfer auf vielfältige Weise. Und insbesondere von den Frauen, wie Alissas Adoptivmutter Gerda es formuliert:

„Als ich geboren wurde, hatte Deutschland Kolonien in West-, Süd- und Ostafrika. Die Geschichte unserer Generation ist noch nicht geschrieben. Wir, die Frauen von 1900, wurden in jedem der deutschen REICHE benutzt wie Teig. Durch die Kriege hindurch: geknetet, geknechtet, gebraucht.“

Einen Krieg und zwei Diktaturen überlebt

Eine der Frauen, die das am brutalsten erfahren, ist Reni, die sich zu Kriegsende in Walla verwandelt: Auf der Flucht aus Breslau mit ihrer Mutter Else mehrfach vergewaltigt, landet sie ausgehungert wieder in der Heimatstadt, um dort von ihren Eltern, die nach Ostdeutschland fliehen, im Stich gelassen zu werden. Sie nimmt eine polnische Identität an, schlägt sich durch, hat am Ende Nationalsozialismus, Kommunismus und allen anderen Ismen überlebt. Für mich die stärkste Frauenfigur in diesem vielstimmigen Buch der Frauen.

„Das polnische »wojna« hieß in der Kaninchensprache »Krieg«, aber klang nach einem ihrer anderen Wörter, »weinen«. Walla sagte, das sei sehr wahr. Im Krieg stecke das deutsche »Kriegen«, und durch das Polnische auch das »Weinen«, so waren die Wörter »wojna« und »Krieg« miteinander verbunden. Beide wirkten wie Lawinen. Das ausgesprochene Wort raste auf einen herab, riss Schutt und Staub mit sich.“

Diese Furcht vor der Lawine lässt diejenigen, die Krieg erfahren haben, oft verstummen. Ich kenne das aus der eigenen Familie: Fragten wir Enkel die Großväter und Großmütter nach ihren Erfahrungen in dieser Zeit, trat Stille ein, nahm man uns zur Seite und mahnte: „Das ist nichts für Kinder.“ Ulrike Draesner findet dafür ein geniales Wort: „Nebelkinder“ sind sie, Kinga und Doro, die von ihren familiären Verflechtungen nichts wissen, die das Schweigen ihrer Mütter zunächst suchend im Nebel tasten lässt.

„Menschen atmeten tief ein, öffneten die Lippen und heraus kamen ein, zwei Sätze, die sich niemals veränderten. Sie wurden mit einem falschen Lächeln gesagt, »es war …«, »wir schafften es …«, brachen ab. Die Gesichter klafften an sich selbst vorbei, die Münder wurden geschlossen, doch gingen nicht mehr ganz zu, und die Sätze, die sich nach außen kämpften, wurden durch die ständige Wiederholung zu Lügen.“

Auch Walla hüllt sich lange in Schweigen, überschweigt das Unsagbare. In mehreren Rezensionen wurde gewürdigt, dass es Draesner schaffe, die Grauen des Krieges darzustellen, ohne auf explizite Gewaltdarstellungen zurückgreifen zu müssen. Ein Urteil, dem ich mich anschließe: Was Walla als junge Frau durchleben muss, das Fürchterliche, wird deutlich genug in der Erzählung. Ihr Schweigen ist zudem Selbstschutz: Ihre neue, polnische Identität ist für ihr Überleben wichtig, die deutsche Vergangenheit muss in dem neuen Staat verleugnet werden.

Das Schweigen überwinden

Erst Doros Beharrlichkeit lüftet den Nebel, bricht das Schweigen. Sie und Kinga sind die Nachgeborenen, die die Hülle aufbeißen:

„Ihre Geschichten waren wie die Kätzchen, die aus der Nachbarkatze purzelten, taub und blind, umschlossen von einer Hülle, die aufgebissen werden musste. Nur dass niemand kam und biss.“

Mit Doro gibt Ulrike Draesner diesen Frauen ihre Sprache zurück, bis hin zu den antiken Vorbildern in den Metamorphosen:

„Sie wurden zu Bacchantinnen. Was das war, verstand ich damals nicht und verstand es sofort.
Es war die Gewalt-Zurück.
Es war Die-Frauen-Zusammen.
Das Sprechen der stummen Zungen.“

Mit dem Sprechen beginnt die Zurück-Verwandlung in diesem multiperspektivischen, klug konstruierten, sprachgewaltigen Buch.

Der ganz spezifische Draesner-Sound

Diese Sprachgewalt, die Sprachverliebtheit ist zugleich Draesners Markenzeichen, aber auch mein Kritikpunkt an „Die Verwandelten“: Mit ihrer „Grammatik der Gespenster“ durch die Lektüre einiger ihrer Romane vertraut (hier die Besprechung von „Schwitters“), war ich entsprechend eingestimmt auf die Lektüre ihres neuen Romans, wusste, es bedarf des konzentrierten, aufmerksamen Lesens und des Einlassen-Könnens in eine Sprache, die von literarischer Kunst zeugt. Aber, bis sich auch der Nebel über der Erzählung lichtet, war es diesmal für mich ein Ringen: Durch die mehrfachen Wechsel der Erzählperspektiven, die Vielstimmigkeit, das Vor- und Zurückschreiten in den zeitlichen Ebenen brauchte es seine Zeit, um in die Erzählung an sich zu finden. Manche Formulierung für meinen Geschmack zu sehr „l‘art pour l’art“, den Erzählfluss in meinen Augen eher behindernd denn erleuchtend. Und trotz der Vielstimmigkeit: Durch die Stimme jeder Frau hört man Ulrike Draesner, haben Doro, Kinga, Else, Alissa, Walla, Gerda und die anderen einen ähnlichen „Sound“.

Und dennoch: Das Ringen lohnt. Und während der Roman einen zunächst eher auf einer intellektuellen Ebene abholt, packt er einen mit seinem Fortschreiten auch emotional: Insbesondere, als die Stimme von Reni alias Walla mehr und mehr Raum erhält, als die Frauenfigur, die ein Schlüssel in dieser Geschichte ist, ihr Schweigen bricht und greifbare Gestalt annimmt. Walla, deren Schicksal auch exemplarisch steht für das vieler Frauen, prägt diesen beeindruckenden Roman bis zu dessen Ende.


Bibliographische Angaben:

Ulrike Draesner
Die Verwandelten
Penguin Verlag, 2023
ISBN: 978-3-328-60172-2

Francis D. Pelton: Sprung über ein Jahrhundert

1934 erschien ein utopischer Roman, der eine neue Wirtschaftsordnung feiert. Sein Autor entwarf ein Bild von einer besseren Welt, als diese besonders düster war. Das Buch bietet auch heute noch diskussionswürdige Denkanstösse.

Bild von Amy auf Pixabay

„Übrigens: Was ist Utopie? Alle Wirklichkeit ist die Utopie von gestern. Vor hundertfünfzig Jahren glaubte niemand, dass der Mensch je würde fliegen können. Und so ist alle Utopie nur die Wirklichkeit von morgen.“

Francis D. Pelton, „Sprung über ein Jahrhundert“, Erstveröffentlichung 1934.


Eine todbringende Pandemie, ein Krieg in Europa, Kriege und Krisen in der ganzen Welt, Inflation und Rezession und nicht zuletzt die über allem drohende Klimakatastrophe: Wer wünschte sich derzeit nicht zurück in die Zukunft, einen Trip in der Zeitmaschine, einen Ausweg in eine bessere Welt? So ähnlich muss es auch dem Helden aus diesem eigenartigen kleinen Roman gegangen sein, der 1932 auf seinem schwäbischen Anwesen die Zeitmaschine aus H.G. Wells Roman entdeckt und kurzerhand einsteigt. 100 Jahre später landet Hans Bachmüller genau dort, wo die Reise losging. Und doch in einer ganz anderen Welt.

Es ist eine kleine humoristische Petitesse, dass der Schwaben nach seiner Zeitreise sich zunächst nach Spätzle sehnt. Ansonsten aber ist dieses Buch geprägt von einem tiefen Ernst, literarisch etwas spröde – aber gerade darin liegt sein außerordentlicher Wert und auch seine Aktualität für unsere Zeiten: Denn diese Utopie zeigt eine Welt auf, in der der gnadenlose Raubtier-Kapitalismus überwunden wurde zugunsten einer Gesellschaft freier, gleichgestellter Menschen. Die aufgezeigte Alternative ist jedoch kein kommunistisches Modell, von dem der Autor, zu dem wir gleich noch kommen, ebenfalls nicht viel hielt:

Der von Max Bill gestaltete Umschlag der Erstausgabe ziert auch die Wiederauflage im Quintus-Verlag.

„Der Kommunismus war nichts als das fotografische Negativ des Kapitalismus: schwarz wo weiß, weiß wo schwarz war.“

Der Kommunismus sei ein System, das den Menschen als „Maschinenteilchen“ betrachtet hat, so bekommt es Hans Bachmüller von seinen Nachfahren aus dem Jahr 2032 erklärt. Der Kapitalismus befördere die Herrschaft einiger weniger Menschen und höhle die Demokratie aus. Kommt einem das bekannt vor?

Aufhebung der Klassen

Das ideale Gesellschaftssystem liegt, so will es der Roman vermitteln, in der Akratie, der Aufhebung der Klassengesellschaft, die das Ideal einer Gesellschaft ist, die von jeder wirtschaftlicher Ausbeutung befreit ist. Wie das im Praktischen geschehen kann, das erfährt Hans Bachmüller bei seinem Besuch in der Zukunft. Statt großer Monopolisten gibt es kleine Produktionseinheiten, die die Zusammenarbeit fördern, die Genossenschaftsidee steht im Vordergrund. Im Roman wird das insbesondere an der Landwirtschaft deutlich gemacht: Die Bauern behalten ihren eigenen Besitz, der in jedem Fall die ausreichende Selbstversorgung garantiert, und arbeiten darüber hinaus in der Lebensmittelproduktion zusammen. Ein Modell, das, wenn auch nur vereinzelt, auch in unserer heutigen, tatsächlichen Welt von 2021 umgesetzt wird: Landwirtschaftliche Kollektive von Bauern, die sich vom Brüsseler Subventionstopf unabhängig machen wollen und auf Direktvermarktung sowie genossenschaftliches Handeln setzen.

Auch der Autor dieses Romans versuchte solche Genossenschaftsmodelle, unter anderem in Palästina, durchzusetzen. Der Urheber dieser Fiktion war, wenn man zu Schubladen greifen will, ein liberaler Sozialist, eigentlich der „Großvater“ unserer sozialen Marktwirtschaft: Franz Oppenheimer (1864 bis 1943), der erste Inhaber eines Soziologie-Lehrstuhls in Deutschland. Einer seiner Schüler war Ludwig Erhard, der im Gedenken an ihn sagte:

„Etwas hat mich so tief beeindruckt, dass es für mich unverlierbar ist, nämlich die Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit. Er erkannte den »Kapitalismus« als das Prinzip, das zur Ungleichheit führt, ja das die Ungleichheit geradezu statuiert, obwohl ihm gewiss nichts ferner lag als eine öde Gleichmacherei. Auf der anderen Seite verabscheute er den Kommunismus, weil er zwangsläufig zur Unfreiheit führt. Es müsse einen Weg geben – einen dritten Weg -, der eine glückliche Synthese, einen Ausweg bedeutet. Ich habe es, fast seinem Auftrag gemäß, versucht, in der Sozialen Marktwirtschaft versucht, einen nicht sentimentalen, sondern einen realistischen Weg aufzuzeigen.“

Auf der schwarzen Liste der Nationalsozialisten

Als Oppenheimer 1933 seinen Roman beginnt, ist für den in Berlin geborenen Juden die Situation in Deutschland schon unhaltbar geworden: Zwei seiner Bücher, so Herausgeberin Claudia Willms, die den Roman für seine Wiederauflage 2017 ans Licht hob und mit einem kenntnisreichen Nachwort versah, standen bereits auf der Schwarzen Liste der Nationalsozialisten. Und dennoch wollte Oppenheimer zu den Krisen seiner Zeit nicht schweigen, die Menschen nochmals aufrütteln. So wählte er die Form einer Fiktion, so wählte er zudem ein Pseudonym, um „Sprung über ein Jahrhundert“ überhaupt veröffentlichen zu können. Der Roman erschien dann 1934 in der Schweiz.

„Sein Inhalt ist unter der Verkleidung von Science-Fiction ein dialogisierter Traktat über eine andere Möglichkeit des 20. Jahrhunderts, die zum Zeitpunkt seiner Entstehung ziemlich das genaue Gegenteil dessen darstellte, was sich gleichzeitig beim Aufstieg von Nationalsozialismus und Stalinismus vollzog“, schrieb Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung zur Wiederentdeckung dieses schmalen Buches.

Der an ein Traktat erinnernde Stil sowie insbesondere das etwas mystisch verbrämte Schlusskapitel mindern etwas den literarischen Genuss dieses Werkes, das aber andere Qualitäten zu bieten hat: Denkanstöße, wie eine bessere Welt wie die unsere, die momentan eigentlich Konkurs anmelden müsste, zu gestalten wäre. Neben den wirtschaftlichen Ideen ist dieses Buch auch in politischer (wenn auch nur eurozentrischer) Hinsicht visionär: In der Welt des Jahres 2032 gibt es keine Nationalstaaten mit ihren patriotisch-egoistischen Auswüchsen mehr, sondern – und hier war Oppenheimer außerordentlich modern – ein „Europa der Regionen“, das von unten her gestaltet wird und lediglich von einer Weltregierung aus Experten zurückhaltend verwaltet wird. Grundlage dafür ist die Überwindung der deutsch-französischen Erbfeindschaft. Und diese gelingt durch einen Wissenschaftler, der die Folgen für alle durch eine neue Massenvernichtungswaffe aufzeigt: Wer in diesem Herrn Albert Einstein zu erkennen glaubt, täuscht sich nicht, wie das Nachwort verdeutlicht.

Eurozentrischer Ansatz

Natürlich war Oppenheimer nicht in allem auf der Höhe der Zeit: Von der Klimakatastrophe konnte er noch nichts ahnen und so ist es ein Fortschritt 2032, dass jeder ein Auto besitzt. Frauenrechte lagen für ihn darin, dass dieselben zwar gebildet sein durften, aber nicht mehr berufsmäßig sein mussten. Und der Blick ist auf Europa verengt, der Umgang mit den Kolonialländern etwas schwierig. Dagegen aber spricht er in diesem Roman Dinge an, die heute immer wieder diskutiert werden: Eine Reichensteuer beispielsweise, neue Wirtschaftsformen, Arbeitszeitverkürzung.

Noch einmal Gustav Seibt:
„Man könnte lange fortfahren, die Details dieser in vielen Zügen urdeutschen, sogar patriotischen, ein bisschen sogar mystischen Technik-Garten-Fortschritts-Idylle aufzuzählen. Denn natürlich zeigt das Buch wie alle vergangene Zukunft tiefe Spuren seiner Entstehungszeit (…) Am besten man liest das Buch selber und staunt, was schöpferische Vernunft im düstersten Moment der europäischen Geschichte ausdenken konnte. Es ist eigentlich unglaublich.“


Nachtrag: Ich wäre auf dieses Buch nicht gestoßen ohne einen Hinweis von Wolfgang Hempel von der Wilhelm-Fraenger-Gesellschaft, die in der „Bibliotheca Fraengeriana“ dafür sorgt, dass solche Werke nicht vergessen werden.

Bemerkenswert ist nicht nur der Inhalt des Romans, sondern auch die Umschlaggestaltung – eine frühe Arbeit des später renommierten Formgestalters, Architekten und Künstlers Max Bill, der obendrein auch noch sein eigenes Konterfei – von seiner Frau fotografiert – in die Collage hineinmontiert hat.

Informationen zum Buch:

Francis D. Pelton (Franz Oppenheimer)
Sprung über ein Jahrhundert
Quintus Verlag, Bibliotheca Fraengeriana, Bd. II
Broschur, 192 Seiten
ISBN: 978-3-947215-01-0

Pablo Neruda: Die Verse des Kapitäns

Der September 1973 traumatisierte in Chile das ganze Land: Dem Militärputsch folgte wenig später der Tod des chilenischen Volksdichters Pablo Neruda.

Bild: (c) Michael Flötotto

REBELLION

Ausgepeitscht vom Regen und vom Wind
richten die Pappeln sich auf und klagen wild,
stehen am schwarzen Firmament und sind
mit zottiger Mähne aus grünem Astwerk ein Schild.

Doch bald sind sie müde, das Unerreichbare zu wollen,
nur einmal noch zeigt Rebellion ihre Statur …


Das Jahr 1973 hat für Chile eine tragische Bedeutung:
Am 11. September wurde Präsident Salvador Allende mit einem brutalen Militärputsch entmachtet, Diktatur und Unterdrückung unter dem Pinochet-Regime stürzten das Land in einen Abgrund.

Am 23. September verstummte zudem die lyrische Stimme Chiles für immer – Pablo Neruda (geboren 1904) starb in Santiago de Chile angeblich an seinem Krebsleiden, wie es hieß.

Für das Land ein doppeltes Trauma

Für das Land war dies ein doppeltes Trauma, an dem es bis heute noch trägt – noch Jahrzehnte danach beschäftigt die Menschen die wahre Ursache von Nerudas Tod. Im April 2013 wurde seine Leiche exhumiert. Zunächst wurde fortgeschrittener Prostatakrebs diagnostiziert, zwei Jahre später, nach einer vom chilenischen Innenministerium beauftragten Untersuchung, scheint festzustehen, dass der Dichter vergiftet wurde. Ein Mord durch die Schergen des brutalen Pinochet-Regime ist nicht unwahrscheinlich: Noch ist die Untersuchung nicht offiziell abgeschlossen, doch die Spekulationen um den Tod und eine wahrscheinliche Ermordung des Nationaldichters halten sich bis heute.

Für mich war Pablo Neruda zunächst vor allem als politischer Dichter und Denker ein Begriff, als Vertreter politisch engagierter Schriftsteller, wie es sie vor allem in Südamerika gab und gibt – Schriftsteller und Politiker in einer Person wie Alejo Carpentier, Ernesto Cardenal, Miguel Asturias, meist dem Sozialismus oder Kommunismus zuzuordnen. Und natürlich Vargas Llosa, der sich als „liberalen Demokraten“ bezeichnet, sich als Präsidentschaftskandidat in Peru aufstellen ließ und sich mit Gabriel García Márquez wegen dessen Freundschaft zu Fidel Castor und dessen Eintreten für Kuba entzweite.

Schriftsteller und Politiker

In dieser Zweieinigkeit von Schriftsteller und Politiker ist Neruda in Südamerika keine Einzelerscheinung. Mit Asturias (Guatemala) verbindet Neruda zudem nicht nur die politische Aktivität, der Kampf gegen Diktatur und Faschismus, die Exilerfahrung, sondern auch der Literaturnobelpreis: 1971 war Neruda erst der dritte Südamerikaner, der diese Auszeichnung erhielt, nach Asturias (1967) und Gabriela Mistral (1945) – letztere war übrigens die erste Lehrerin Nerudas am Gymnasium von Temuco.

Der 1904 geborene Neruda wurde schon früh lyrisch und politisch aktiv: ab 1923 veröffentlichte er regelmäßig Gedichte, ab 1927 war er als chilenischer Honorarkonsul im Fernen Osten, ab 1935 als Konsul in Madrid und später als mexikanischer Generalkonsul tätig. Die Zeit der konservativen Videla-Regierung in Chile, die vom Militär mitgeprägt wurden, verbrachte der überzeugte Kommunist zeitweise im Exil. 1970 wurde er von der Kommunistischen Partei als Präsidentschaftskandidat aufgestellt, er verzichtete jedoch zugunsten seines Freundes, dem Sozialisten Salvador Allende, der die linken Parteien in einem Bündnis vereinigen konnte.

Neruda soll einmal gesagt haben, sein wichtigstes Buch sei jenes, „das wir Chile nennen“. Und so wurde der Dichter und Kommunist vom Volk auch gebraucht und geliebt – sein Tod löste nicht nur Bestürzung aus, sondern stürzte das vom Putsch geschockte Land noch zusätzlich in Trauer. Sein Begräbnis wurde zu einem Protest gegen die Diktatur. Im Ausland war man entsetzt und bestürzt: Hatte die Diktatur es wagen können, Neruda zu ermorden? Isabel Allende, eine Nichte des entmachteten Präsidenten (der den Pinochet-Schergen durch Selbstmord entkommen war) schrieb in ihrem Roman „Das Geisterhaus“ über Nerudas Beerdigung, sie war das „symbolische Begräbnis der Freiheit“.

Sinnlich, zärtlich und politisch radikal

Weltweit bekannt wurde Pablo Neruda vor allem durch seine Liebeslyrik: Zärtlich, sinnlich, erotisch, schwelgend. Doch auch wenn Zyklen wie „Die Verse des Kapitäns“ oder „Der rasende Schleuderer“ die Liebe feiern – ganz ist sie nie vom politischen Kampf zu trennen, beide gehen Hand in Hand, bedingen einander zuweilen:

„Und weil Liebe kämpft nicht nur
auf eignem heißem Feld,
sondern im Mund auch von Männern und Frauen,
darum will ich denen entgegentreten,
die zwischen meine Brust und deinen Duft
ihre finstre Fußsohle setzen wollen.“

Aus: „Ode und frisches Keimen“, übersetzt von Fritz Vogelgsang

Nerudas Literatur sprach die elementaren Bedürfnisse, Wünsche und Träume der Menschen an, ohne durchgängig in den Duktus polit-agierender Aufklärer zu verfallen, seine Lyrik blieb von sprachlicher Schönheit geprägt. Neruda brachte die Stimme des einfachen Volkes zum Erklingen: Die der armen Landbevölkerung, der Indios in den chilenischen Anden, dem ausgebeuteten Proletariat in den Städten. Seine Sprache gebraucht Metaphern und Symbolik, die, so das Nobelpreis-Komitee in seiner Begründung, „eine Dichtung ist, die mit der Macht natürlicher Kraft Schicksal und Träume eines Kontinents zum Leben erweckt“.

Der große Gesang

Als Nerudas wichtigstes Werk gilt der „Canto General“, ein Gedichtzyklus über Südamerika, insbesondere über die Folgen und die notwendige Befreiung vom Kolonialismus. Es wurde auf Anregung von Salvador Allende von Mikis Theodorakis vertont.

In seiner Autobiografie „Ich bekenne, ich habe gelebt” beschreibt Neruda seinen “Großen Gesang” als die „Idee eines zentralen Poems, das die geschichtlichen Ereignisse, die geografischen Bedingungen, das Leben und die Kämpfe unserer Völker umschließt.“

Mit prachtvollen Bildern werden die Schönheiten des Kontinents nachgezeichnet:
“Es war die Morgenhelle der Leguanechse … die Affen flochten einen unendlich erotischen Faden, indem sie Wände von Blütenstaub niederrissen… die Nacht der Kaimane, die unberührte Nacht”.

Die Anaconda-Schlange, gigantisch, gefräßig, mörderisch, symbolisiert den Kapitalismus in Folge des Kolonialismus, den destruktiven Eingriff in die unberührte Natur. Anaconda ist auch der Name einer chilenischen Kupfermine. Die Schlange verschlingt das Beste des Paradieses, der Ausverkauf beginnt „an die Coca-Cola Inc., die Anaconda, die Ford-Motors und andere Wesenheiten”.

Kämpfer für die Freiheit

Mein persönliches Schlüsselerlebnis, mein Einstieg zu Neruda: 1991 oder 1992 bekam ich auf der Frankfurter Buchmesse am Stand eines kleinen Verlages „Maremoto – Beben des Meeres“, Neruda-Übersetzungen von „tia“, in die Hand gedrückt. Herr „tia“ war so erfreut, dass jemand an seinem Stand stehen blieb, dass er mir auf jede dritte Seite mit fettem Kohlenstift eine Widmung schrieb. Ich hab das Büchlein lange als eine Art „Souvenir“ an eine unterhaltsame Begegnung behandelt – bis ich im Kino Philippe Noiret als Neruda (siehe unten) erlebte. Der Film, obschon ein wenig gefühlsselig, brachte die Erinnerung an das Buch und war mein Einstieg, um Neruda nicht nur als Kämpfer für die Freiheit im Gedächtnis zu haben, sondern um ihn endlich auch zu lesen. Daher nun, als verspätetes Dankeschön an Herrn „tia“ für eine seiner Übersetzungen:

MUSCHELN

Leere Muscheln im Sand
Verlassen vom Meer, als es ging,
als es ging, das Meer auf die Reise,
auf die Reise zu anderen Meeren.
Es verließ seine Muscheln,
perfekt von ihm poliert,
bleich von den nie endenden Küssen
des Meeres, das ging auf die Reise.


Die Werke des Dichter-Diplomaten und lyrischen Kämpfers erscheinen beim Luchterhand Verlag, auf dessen Internetseite noch zahlreiche weitere Informationen über Neruda zu finden sind: Neruda bei Luchterhand.

Eine liebenswerte Hommage an Pablo Neruda ist der Roman „Mit brennender Geduld“ von Antonio Skármeta, erschienen beim Piper Verlag. Skármeta, wie Neruda Chilene, ist im Übrigen auch einer jener dichtenden Politiker – ab 1973 im Exil in Berlin lebend, kehrte er 1989 wieder in sein Heimatland zurück und wurde später, im Jahr 2000, für die demokratische Regierung chilenischer Botschafter in Berlin. Poet und Diplomat – in Südamerika nichts Ungewöhnliches. „Mit brennender Geduld“ wurde 1994 verfilmt und unter dem Titel „Der Postmann“ ein Kassenerfolg – Philippe Noiret als charmanter Dichter, der einem schwärmerischen Briefträger zur großen Liebe verhilft.

Ignazio Silone: Vino e pane

Silone schrieb dieses Buch 1936 im Schweizer Exil. Es gilt seither als eines der wichtigsten Bücher der italienischen Resistenza-Literatur.

Bild von Mandy Fontana auf Pixabay

Cristina, schrieb er, es ist richtig, dass man besitzt, was man hingibt, aber wem und wie soll man geben? Unsere Liebe, unsere Bereitschaft zum Opfer und zur Selbstverleugnung trägt nur Frucht, wenn sie in die menschlichen Beziehungen hineingetragen wird. Die moralischen Kräfte wachsen und gedeihen nur im praktischen Leben. Wir sind nicht nur für uns selbst verantwortlich, sondern auch für die anderen.
Wenn wir empfinden, dass um uns her das Böse herrscht, können wir nicht untätig bleiben und uns mit der Aussicht auf eine überirdische Welt trösten. Das Böse, das bekämpft werden muss, ist nicht das abstrakte Wesen, das man den Teufel nennt; das Böse ist all das, was Millionen von Menschen hindert, im wahrsten Sinne menschlich zu sein. Und dafür sind wir mit verantwortlich…

Ignazio Silone, „Wein und Brot“, 1936


1936 schrieb Silone dieses Buch im Schweizer Exil, das zunächst unter dem Titel „Brot und Wein“ erschien und seither als eines der wichtigsten Bücher der italienischen Resistenza-Literatur gilt.
Silone überarbeitete seinen Roman nochmals 1955. Und trotz bleibender stilistischer Mängel – manches wirkt unausgereift, manchmal bricht die politische Botschaft zu unmittelbar in die Prosa ein – ist und bleibt „Wein und Brot“ oder eben „Vino e pane“ ein berührendes, packendes Werk.

Armut in den Abruzzen

Der kommunistische Widerstandskämpfer Pietro Spina ist aus dem Exil zurück nach Italien gekommen. Doch kaum betritt er heimischen Boden, sind die faschistischen Häscher hinter ihm her. Er muss sich, ausgerechnet im Gewand eines Priesters, in einem ärmlichen Bergdorf in den Abruzzen verstecken. Hier trifft er auf besitzlose Landarbeiter und Tagelöhner, für die die Ankunft eines neuen Priesters beinahe einem Wunder gleicht. Zerrissen zwischen politischen Idealen, den Zweifeln an den Doktrinen seiner Partei, der Ohnmacht angesichts der Verhältnisse und seiner erzwungenen Untätigkeit ringt Spina ständig mit seinem Gewissen und seiner Gesundheit. Zudem lernt er die junge Cristina kennen, die eigentlich dazu bestimmt ist, Nonne zu werden. Er verliebt sich in sie, kann jedoch kaum im Gewand eines Geistlichen Avancen machen.

Neorealistische Elemente

„Wein und Brot“ ist ein Abenteuerroman, ein Heimatroman und ein Liebesroman mit neorealistischen Elementen. Silone zeichnet die Notlage der Kleinbauern und Landarbeiten mit viel anteilnehmender Sympathie. Diese kämpfen täglich ums Überleben – da bleibt nur politische Apathie oder der Hang zu Extremen, sei es der Glaube wahlweise an den Kirchenmann oder die Kräuterhexe, sei es die Hoffnung auf einen befreienden Sozialismus oder einen siegreichen „Duce“.

Etwas aufgesetzt wirkt zuweilen die Verbindung von Politik und Religiosität. Silone selbst war ein sozialistischer Christ, der sich, vor allem, als der Stalinismus die kommunistischen Ideale pervertierte, von der kommunistischen Partei abwandte.

„Das ist das traurige Schicksal aller Bewegungen, die sich das Heil der Menschheit zum Ziel gesetzt haben: Sie werden zu Fallen, in denen der Mensch sich selbst verliert.“

Sozialistische Predigten und christliche Symbolik – bis hin zum bitteren Ende, da Cristina, die Unschuld, der Naturgewalt zum Opfer fällt, niederkniend und das Kreuz schlagend ihr Ende erwartend – das könnte mühsamer Lesestoff sein. Doch Silone vermochte es dennoch, seine „Botschaft“ in einen Roman zu packen, der einen, auch aufgrund seiner schlichten Erzählweise, nicht unberührt lässt. Zudem sind die Fragen, wie denn die beste aller Welten zu erreichen sei, zeitlos und dürfen, auch in ruhigen Zeiten, immer wieder gestellt werden.

Auflockernder Humor

Auflockernd wirkt zudem der Humor des Schriftstellers. So sieht die Wirtin des falschen Priesters in ihm beinahe den Messias wieder herabgekommen auf Erden:

„Was muss man den tun, fragte Matalena, wenn er wirklich Jesus ist? Muss ich Don Cipriano benachrichtigen? Oder die Carabinieri?
An der Tür des Wirtshauses hing eine Tafel mit polizeilichen Bestimmungen, aber die Ankunft Jesu war darin nicht vorgesehen.“

Silone (1900-1978) stammte selbst von Kleinbauern aus den Abruzzen ab. Bereits 15jährig wurde er Vollwaise, seine Mutter und fünf seiner Geschwister kamen bei einem Erdbeben ums Leben. Schon als junger Mann setzte er sich als Gewerkschafter und Journalist für eine Verbesserung der Verhältnisse für die Landarbeiter ein. Als Mitglied der kommunistischen Partei musste er nach der Machtergreifung Mussolinis abtauchen und ins Exil. Dort wurde er jedoch wegen seiner Kritik am Stalinismus 1931 aus der KP ausgeschlossen. Ab 1944 wieder in Italien, gründete er eine eigene Splitterpartei im Sinne eines humanen christlichen Sozialismus, wendete sich dann später ganz von der Politik ab und konzentrierte sich auf das Schreiben.


Die deutschsprachigen Ausgaben seiner Bücher erschienen bei Kiepenheuer & Witsch. Auf der Verlagsseite findet sich auch ein kurzes Portrait von Silone.

Informationen zum Buch:

Ignazio Silone
Wein und Brot
Übersetzt von Hanna Dehio
KiWi-Taschenbuch 1984
ISBN: 978-3-462-01633-8

Die mobile Version verlassen
%%footer%%