Literarische Orte: Der Revoluzzer von der Alb

Zum Schubart-Jahr 2019: Schubart (1739 – 1791) wurde zum berühmtesten politischen Gefangenen seiner Zeit. Zu sehr hatte er gegen Adel & Kirche polemisiert.

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„Gottes Schild flamm‘ über dir! In dir werden Männer geboren stark und voll Kraft. Deutschheit, redlicher Sinn, schwäbische Herzlichkeit, redselige Laune, unschuldiger Scherz seyen immer, wie bisher, dein Eigenthum. Der Vorsicht Flügel schweb‘ über eurer Kirche, eurem Rathhause, euren Hütten, und – eurem Gottesacker!“

Christian Friedrich Daniel Schubart, Zitat aus „Simon von Aalen“, ca. 1775

Die Schwäbische Alb ist eine rauhe Landschaft. Geprägt vom Juragestein, ein Land, das den Menschen früherer Zeiten alles abverlangte. Der „Älbler“, er gilt gemeinhin als „eigen“. Und mitten hinein in diese herbe, karge Gegend wird 1739 ein wortstarker Freigeist und Luftikus geboren: Christian Friedrich Daniel Schubart. Geboren im württembergischen Obersontheim wurde für Schubart zur eigentlichen prägenden Stadt der Kindheit und Jugendjahre jedoch das nahegelegene Aalen: Hier wirkte der Vater Schubarts ab 1740 als Präzeptor und Musikdirektor.

In seinen Memoiren schrieb Schubart später:

„In dieser Stadt, die verkannt wie die redliche Einfalt, schon viele Jahre im Kochertale genügsame Bürger nährt – Bürger von altdeutscher Sitte, bieder geschäftig, wild und stark wie ihre Eichen, Verächter des Auslands, trotzige Verteidiger ihres Kittels, ihrer Misthaufen und ihrer donnernden Mundart, wurd ich erzogen… Was in Aalen gewöhnlicher Ton ist, scheint in anderen Städten trazischer Aufschrei und am Hofe Raserei zu sein. Von diesen ersten Grundzügen schreibt sich mein derber deutscher Ton…“

In Aalen lebte Schubart bis 1753, dann wurde er zur Universitätsvorbereitung auf das Gymnasium in dem etwa 40 Kilometer entfernten Nördlingen geschickt. Während des Theologiestudiums in Erlangen macht der Feuerkopf bereits das erste Mal Bekanntschaft mit dem Gefängnis – er, der zeitlebens Wein, Weib und Gesang zugetan war, landet dort wegen Schulden. Geknickt kehrt er 1760 nach Aalen zurück, wo er seinen Vater als Kantor und Prediger unterstützt. 1763 kommt er als Organist nach Geislingen, ebenfalls auf der Schwäbischen Alb gelegen, 1773 wird er jedoch als Stadtorganist wegen seines lockeren Lebenswandels und seiner frechen Zunge aus dem Dienst entlassen.

Herausgeber eines Wochenblatts in Augsburg

Sein weiterer Lebensweg führt ihn durch weite Teile Württembergs und Bayerns. 1774 ist ein bedeutsames Jahr: Schubart wendet sich dem Journalismus zu. In Augsburg gibt Christian Friedrich Daniel Schubart erstmals ein Wochenblatt, das in der Regel zweimal wöchentlich erschien, unter dem Namen „Deutsche Chronik“ heraus. Bereits nach fünf Wochen verbietet der Augsburger Magistrat jedoch den Druck des Journals, dieser wird dann 1776 bis 1777 beim Verlag Wagner in Ulm fortgesetzt.

Heiner Jestrabek schreibt dazu in der Broschüre „Sturm und Drang auf der Ostalb“:

Die „Deutsche Chronik“ war ein volkstümliches Blatt, das sich mit politischen Fragen befasste und literarische, pädagogische und poetische Beiträge brachte. Die Chronik war ausserordentlich erfolgreich und bald das wichtigste puplizistische Organ der bürgerlichen Opposition im ganzen Deutschen Reich. Schubart war jetzt 35 Jahre alt und hatte endlich einen Beruf, der Dauer und Einkommen versprach. 1775 wurden 1600 Exemplare verkauft. Da die Chronik viel herumgereicht wurde, hatte sie bis zu 20.000 Leser. Nach nur fünf Wochen wurde der Druck in Augsburg untersagt und musste nach Ulm verlegt werden. Die katholische Partei in Augsburg sah in Schubart ihren Hauptfeind. So wurde Schubarts Schlafzimmer mit einem Steinhagel bedacht, vor dem er nur unter seinem Bett Schutz fand. Besonders intensiv legte sich die Chronik mit dem Orden der Jesuiten an. Diese verbrannten sogar ein Spottgedicht des antiklerikalen Schubart öffentlich. Schubart schrieb in der Chronik: „den Geist dieses Ordens, der sich wie epidemischer Hauch im Finstern oder am hellen Mittage verderbend in einem Staat verbreitet“.

Schubart zieht 1775 nach Ulm, ist aber in der freien Reichsstadt gefangen. Nochmals Jestrabek:

„Auch mit seinen alten Widersachern, den Jesuiten gab’s Ärger. Ein Vorfall sollte die Brutalität und Gefährlichkeit dieser Klerikalen zeigen. Knapp ausserhalb der Ulmer Stadtmauern, in Wiblingen, wurde Josef Nickel, ein entlaufener Jesuitenschüler, der sich zu den Schriften Wielands, Lessings und Votaires bekannt hatte, gegen den Pater Gassner redete und offen für Schubart eintrat, unter dem Vorwurf der Ketzerei verhaftet, zum Tode verurteilt und „im Jahr des Heils 1776, am ersten Juni, Morgens 8 Uhr“ geköpft. Schubart, der ihm einen Roman geliehen hatte, wurde beschuldigt, der Verursacher der „Religionsbeschimpfung und Gotteslästerei“ Nickels gewesen zu sein. „Dieser Zufall kerkerte mich gleichsam in Ulm ein, weil mir ein gleiches Schicksal drohte“.

Schiller schreibt von Schubart ab

In diesen unruhigen Zeiten wird jedoch auch ein anderer Freiheitsdichter aus dem Württembergischen auf seinen Landsmann aufmerksam: 1775 veröffentlichte Schubart im „Schwäbischen Magazin“ seine Erzählung „Zur Geschichte des menschlichen Herzens“, Friedrich von Schiller liest diese später und verwendet sie in wesentlichen Teilen für sein Drama „Die Räuber“. Auch in der Erzählung, die Schubart mehrfach überarbeitete, zeigt sich seine spitze Zunge:

„Von uns armen Teutschen liest man nie ein Anekdötchen, und aus dem Stillschweigen unserer Schriftsteller müssen die Ausländer schließen, daß wir uns nur maschinenmäßig bewegen und daß Essen, Trinken, Dummarbeiten und Schlafen den ganzen Kreis eines Teutschen ausmache, in welchem er so lange unsinnig herumläuft, bis er schwindlige niederstürzt und stirbt. Allein, wann man die Charaktere von seiner Nation abziehen will, so wird ein wenig mehr Freiheit erfordert, als wir arme Teutsche haben, wo jeder treffende Zug, der der Feder eines offenen Kopfes entwischt, uns den Weg unter die Gesellschaft der Züchtlinge eröffnen kann.“


Als Schubart jedoch des württembergischen Herzogs Mätresse Franziska von Hohenheim in einem Schandgedicht als „Lichtputze, die glimmt und stinkt“ verspottet, ist er in den Augen der Obrigkeit fällig: Durch eine Intrige wird er 1777 nach Blaubeuren gelockt, von da aus geht es in den Kerker in Hohenasperg. Ohne Anklage oder gar Verurteilung wird Schubart in der Festung Asperg für zehn Jahre eingesperrt und damit der berühmteste politische Gefangene seiner Zeit. Er darf lange keine Besucher empfangen und wird in den Anfangsjahren mit Schreib- und Leseverbot belegt. Erst die politische Intervention Preußens führte zu seiner Freilassung 1787. Zwar setzt er seine angriffslustige Polemik auch dann wieder fort, unter anderem in der Vaterländischen Chronik. 1791 stirbt er jedoch, physisch wie psychisch gebrochen.

Zu seinem 275. Geburtstag würdigte ihn Frank Suppanz in einer Veröffentlichung des Reclam Verlages:

„Es wäre zu einseitig, in Schubart nur den literarischen Polemiker zu sehen. Er war ein hochbegabter Klavierspieler und Organist (…) Die Musik schien differenziertere Seiten in Schubarts Charakter zum Vorschein zu bringen. In seinen „Ideen zur Ästhetik der Tonkunst“ argumentiert ein Vollblutmusiker mit klassizistischen Normen – für Angemessenheit als Maßstab des musikalischen Ausdrucks und für feine Nuancierung als Voraussetzung eines schönen Vortrags.“

Der Marktplatz in Aaalen. Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Zu seinem 280. Geburtstag erinnert die Stadt, der er zeitlebens innerlich verbunden blieb, mit zahlreichen Aktivitäten an den freiheitsliebenden Dichter und Musiker: So findet in Aalen am kommenden Wochenende (22. und 23. Februar 2019) eine Tagung zu „Schubart und die französische Revolution“ statt, der renommierte Schubart-Preis wird an Daniel Kehlmann vergeben und in der Veranstaltungsreihe „wortgewaltig“ wird der Bogen von Schubart zur zeitgenössischen Kultur geschlagen.

Ein Besuch der oberschwäbischen Stadt lohnt sich auch unabhängig von den Schubart-Aktivitäten wegen ihrer Limes-Thermen und dem mit den Römern verbundenen Status als Stätte des Weltkulturerbes: Hier befand sich das größte römische Reiterkastell nördlich der Alpen. Das Limesmuseum, die größte Einrichtung Süddeutschlands am UNESCO-Welterbe Limes, ist allemal einen Besuch wert, war allerdings in den vergangenen drei Jahren wegen grundlegenden Umbaus geschlossen. Ab Ende Mai können die Spuren der Römer auf der Alb wieder besichtigt werden.

Texte von Schubart:

Gedichte und Texte in der Bibliotheca Augustana
Stoffgeschichte zu „Die Räuber“

Schubart in der „Deutsche Biographie“

Die „Zeit“ meint – diese Bücher überdauern die Zeit

Die Redaktion der ZEIT stellte einen „Kanon des jungen Jahrhunderts“ zusammen. 15 lesenswerte und wichtige Romane.

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Die Zeit stellte 2015 die wichtigsten Romane der aktuellen Literatur zusammen. Man habe die Weltliteratur durchforstet, leidenschaftlich diskutiert und sich für 15 Romane dieses Jahrhunderts entschieden, die die Redaktion für die besten hält, „für Meisterwerke, die bleiben werden und nicht mit dem Tag vergehen.“ Die Redaktion ruft ausdrücklich zu Widerspruch und Diskussion auf – und weist fürsorglich darauf hin, dass „Unendlicher Spaß“ bereits 1996 erschien.

Und das sind die Titel der Liste:

  1. Jonathan Franzen – Die Korrekturen. Jan Brandt schreibt: „Wenn es einen Einwand gegen Franzen gibt, dann ist es diese ästhetische Rückwärtsgewandtheit: Er ist ein reaktionärer Idealist, der einen Feldzug gegen die Verlockungen des Informationszeitalters führt.“
    Beitrag: „Der analoge Triumph“
  2. Jennifer Egan – Look at me. Der Roman erschien kurz vor 9/11 und handelt von einem geplanten Terrorakt in New York. „Mir kam der furchtbare Gedanke, dass ich eine Komplizin war“, äußert Jennifer Egan im Interview mit Susanne Mayer.
    Beitrag: „Ahnen, was passieren wird“
  3. Orhan Pamuk – Schnee. „Orhan Pamuk hat sein Meisterwerk Schnee vor den Attentaten von 9/11 geschrieben, der Roman spielt in den 1990er Jahren, erschienen ist er 2002, und er nimmt vorweg, was seit dem Einsturz des World Trade Center die globalisierte Welt aus den Fugen hebt: dass der Fundamentalismus im Namen des Islams in die westliche Modernisierung eingewoben ist, noch im abgelegensten Nest der Provinz und dass der Staat kaum Antworten auf die Gewalt kennt, außer seinerseits durch Gewalt, Militär, Überwachung zu reagieren“, schreibt Elisabeth von Tadden.
    Beitrag: „K wie Kristall“
  4. Daniel Kehlmann – Die Vermessung der Welt. Ulrich Greiner nimmt Stellung für das Buch: „Nein, Kehlmann war nicht dabei, und dies ist kein historischer Roman, sondern ein virtuoses Spiel mit Dichtung und Wahrheit. Die historischen Fehler, die dem Buch vorgeworfen werden, hat Kehlmann in poetischer Freiheit absichtsvoll eingebaut.“
    Beitrag: „Ein virtuoses ironisches Spiel“
  5. Marie NDiaye – Drei starke Frauen. „Als ich das Buch vor acht Jahren schrieb, sprach noch niemand von den Flüchtlingen. Für mich waren sie Helden“, äußert die Schriftstellerin im Gespräch mit Iris Radisch. Heute würde sie dieses Buch nicht mehr so schreiben – auch wenn sie hofft, „dass seine Geschichten wahr bleiben.“
    Beitrag: „Eine Chiffre für das Fremdsein“
  6. Péter Nádas – Parallelgeschichten. „Es gibt keinen anderen Autor, der mit dieser obsessiven Insistenz jede Pore der Epidermis untersucht hat, die dünne Membran zwischen innen und außen“, meint Michael Krüger. Und sagt: „Vielleicht lesen künftige Generationen dieses Buch als düstere Prophetie dessen, womit sie sich herumzuschlagen haben. Sie werden es nicht bereuen.“
    Beitrag: „Die Haut und das Ich“
  7. Haruki Murakami – 1Q84. „Japanische Literatur wirkt auf den Außenseiter so klar und so verschlossen wie ein Zengarten, der bei aller Übersichtlichkeit doch einen Sinn hat, der sich ihm nicht erschließt“: Burkhard Müller versucht dem Sinn, im „Opus Magnum“ des japanischen Starautors nachzuspüren.
    Beitrag: „Waisenkinder dieser Zeit“
  8. Herta Müller – Atemschaukel. „Das Besondere an diesem Buch ist die Sprache, in der das Schicksal von Leopold Auberg, dem Alter Ego Pastiors, in 64 kurzen Kapiteln erzählt wird“, meint Alexander Cammann. „Denn Müller poetisiert das Grauen.“
    Beitrag: „Die Schönheit der Wörter, das Grauen der Lager“
  9. Vladimir Sorokin – Der Schneesturm. Stefanie Schlamm sprach mit Sorokin über dieses Werk. Auf ihre Frage „Sie selbst werden gerne als moderner Klassiker bezeichnet. Doch sind Sie nicht eher ein düsterer Romantiker?“ antwortet Sorokin ganz lapidar: „Dazu möchte ich nichts sagen.“
    Beitrag: „Das eisige Drama der Provinz“
  10. Michel Houellebecq – Karte und Gebiet. Für den Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich ist der im Roman portraitierte Künstler, „der, gerade weil er als solcher unfasslich bleibt, viel provokanter als die Künstlerfiguren anderer Romane der letzten Jahre.“
    Beitrag: „Der Wahnwitz des Betriebs“
  11. John M. Coetzee – Tagebuch eines schlimmen Jahres. „In Coetzees Tagebuch eines schlimmen Jahres kehren die früheren Möglichkeiten des Romans zurück. Der Ruhm des Nobelpreisträgers macht sie auf der großen literarischen Bühne salonfähig“, urteilt Stephan Wackwitz.
    Beitrag: „Die erneuerte Tradition“
  12. Chimamanda Ngozi Adichie – Americanah. „Es passiert viel in diesem Roman, der auf drei Kontinenten spielt, doch es werden diese Blogeinträge sein, die Americanah seinen Nachhall bescheren. Sie sind ein Zeitdokument der Ära Obama, sie sind erhellend und unterhaltsam, ernüchternd und brutal“, urteilt Jackie Thomae.
    Beitrag: „Was Sie schon immer über Farben wissen wollten“
  13. Karl Ove Knausgård – Sterben/Lieben/Spielen/Leben/Träumen. „Aber ich wollte mich mit Min Kamp auch befreien von diesen stilistischen Erwartungen. Ob es gut oder schlecht geschrieben ist, finde ich uninteressant. Interessant ist, was darin zum Ausdruck kommt. Also versuchte ich, schnell zu schreiben und unterhalb meiner eigenen Standards, dafür näher am Leben.“ Der Norweger im Interview zu seinem Mammut-Schreib-Projekt.
    Beitrag: „Ein Bedürfnis nach Revanche“
  14. Rainald Goetz – Klage. In diesem Buch, meint David Hugendick, lärmt die Gegenwart so oft, „dass es bisweilen kaum auszuhalten ist.“ Aber der aktuelle Büchner-Preisträger lärmt halt besonders gut. AMORE!
    Beitrag: „Tiefenamputiertheit“
  15. Roberto Bolaño – 2666. „Aber oh Wunder: Bolaño lesen, das gilt auch für das von Christian Hansen bewunderungswürdig übersetzte 2666, ist ganz leicht. Er verzichtet auf hochtrabende Stilistik und geht seinen Lesern nie mit überlegener Besserwisserei auf die Nerven“, meint Heinrich von Berenberg. D`accord!
    Beitrag: „Ästhet und Folterknecht“

Jeffrey Eugenides: Die Selbstmord-Schwestern (1993). Middlesex (2002). Die Liebeshandlung (2011).

Jeffrey Eugenides flutscht hin und her zwischen Anspruch und Trivialität. Er schrieb sich vom ernsthaften Roman zum Flutschbuch durch.

Das „Flutsch-Buch“: Das sind Bücher, die man so richtig schön (und nicht ohne Vergnügen) durchflutscht, und die – manchmal mit der letzten Seite, manchmal später – wieder vollkommen aus dem Gedächtnis flutschen. Einer aus der Creative-Writing-Schule der USA beherrscht diese Flutscherei zwischen Unterhaltung und ein bißchen Anspruch ganz gut: Jeffrey Eugenides.

Seit seinem ersten Roman wird der in Detroit geborene Eugenides gefeiert – nicht nur in den USA, auch hier hat er mittlerweile eine große Fangemeinde. Ein wenig erinnert er in der Flüssigkeit des Stils an weitere US-amerikanische Autoren, die sich durch große Produktivität und reiche Fantasie auszeichnen, beispielsweise John Irving und T.C. Boyle. Man liest das gern, fühlt sich gut unterhalten, streckenweise amüsiert, manchmal zum Denken animiert – flutscht meist in einem Rutsch durch die Handlung, um sie dann flugs bald wieder zu vergessen. Vorteil des Flutschbuches: Man kann es, mit einem gewissen zeitlichen Abstand, wiederlesen, als sei es das erste Mal.

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Drei Romane von Jeffrey Eugenides in näherer Betrachtung:

Die Selbstmord-Schwestern

Der Erstling, „Die Selbstmord-Schwestern“ (von Sofia Coppola verfilmt), erschien 1993, ist noch schön schmal, aber für mich das am wenigsten Unflutschige. Mag auch sein, dass sich Buch und die gelungene Verfilmung von Coppola überdecken, dass Text und Bilder dadurch eingeprägt bleiben. Ganz kurz der Plot (Plot = ein wichtiges Wort bei Eugenides!): Fünf Schwestern, die Älteste 17 Jahre alt, nehmen sich innerhalb kürzester Zeit nacheinander das Leben. In der Nachbetrachtung rätseln einige Jungen über die „suicide sisters“. Eine konkrete Antwort auf die Selbstmordserie will das Buch nicht geben, dies bleibt der Interpretation der Leser überlassen – die engstirnige, bigotte Atmosphäre in dem Fünf-Mäderl-Haus mag mit ein Grund für die Selbsttötungen gewesen sein.
Der Autor psychologisiert oder philosophiert jedoch nicht. Hintergründe, Ursachen und auch eine Reflexion über die individuelle Freiheit (bis in den Tod) oder die moralischen Aspekte des Freitodes – sie interessieren ihn nicht. Der Roman ist im eigentlichen Sinne ein Entwicklungsroman. Es zeigt, wie die Jungen, die dieses Drama miterleben, sich entwickeln (oder auch nicht). Es zeigt auch, wie ein Autor sich entwickelt – hier noch in einer knappen, sparsamen Sprache, die doch vermag, zumindest vieles an ernsthafterem Denken anzudeuten.

Middlesex

Da ist der Nachfolger, das 2002 erschienene und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete „Middlesex“ schon deutlich anders: Ein Wälzer, der vor Sprachkapriolen, Andeutungen, Metaphern, Gleichnissen strotzt. Der 41jährige US-amerikanische Diplomat Cal erzählt seine Geschichte – in Vor- und Rückwärtssprüngen, durch die Geschichte seiner Familie und seine Lebensgeschichte mäandernd. Cal, eigentlich Calliope, ist ein Hermaphrodit, dessen Zweigeschlechtlichkeit jedoch erst in der Pubertät erkannt wird. Das ist die erzählerische Frage im Vordergrund: Was prägt einen Menschen mehr – die Biologie oder die Erziehung?
Der zweite erzählerische Strang schlängelt sich um die Nemesis: Cal ist der Enkel zweier griechischer Einwanderer, die eigentlich Bruder und Schwester sind. Ist der Hermaphrodit die Rache für diesen Inzest? Ist er die fleischgewordene Mahnung, dass man der Hölle (hier dem Brand von Smyrna) nicht um den Preis verkaufter Seelen entkommen kann? Und im dritten Strang entwirft „Middlesex“ zudem ein sehr gelungenes Bild über die Situation von Einwanderern, hier am Beispiel der Griechen in Amerika: Zwischen Heimweh und Überanpassung schwankend, mit dem Willen, „es zu schaffen“, es zu beweisen, dass man kein Amerikaner zweiten Ranges ist.

„Middlesex“: Ein Flutsch-Buch, das durchaus noch in der Lage ist, Spuren zu hinterlassen. Durchaus spannend, originell, gut zu lesen.

Die Liebeshandlung

Und dann: „Die Liebeshandlung“. Erschienen 2011. Bin durchgeflutscht und war enttäuscht – welch ein Absturz im Vergleich zu den beiden Vorgängern. Der „Marriage-Plot“ – so der Titel im Englischen – ist trotz seiner 620 Seiten schnell erzählt: Madeleine, eine gut betuchte und verwöhnte WASP-College-Studentin, verliebt sich in den armen, aber manisch-depressiven Leonard. Mitbewerber Mitchell, eher ihrer Klasse entstammend, hat keine Chance und stürzt sich in religiöse Experimente, die ihn sogar zu Mutter Teresa führen. Das Konstrukt ist: Madeleine ist eigentlich Anhängerin des viktorianischen Romans à la Jane Austen, wo Stolz und Vorurteil, Vernunft und Gefühl, Sinn und Sinnlichkeit zwar auch zu mancherlei Verwicklungen führen, aber letztendlich in den Hafen der Ehe leiten. Was Eugenides wohl beweisen will, ist, dass dies in den 1980er Jahren keine denkbaren Konstrukte mehr sind (an der Universität trifft Madeleine demnach auch auf die Anhänger der französischen Dekonstruktion à la Derrida). Keine Frage, das alles ist schmissig geschrieben. So schmissig und flutschig, dass die Augen über ganze Textpassagen hinweghuschen – weil hier das Mäandernde, die Nebeninformationen, die Einführung zusätzlicher Figuren (Warum? Wieso? Wozu?) noch ausgeprägter zu finden sind als in „Middlesex“. Vom ökonomischen Schreiben seit den Selbstmord-Schwestern hat sich Eugenides in diesen 20 Jahren eindeutig entfernt.

Und ich fragte mich am Ende: Diese ganzen Irrungen und Wirrungen – wozu? Zumal die eigentliche Hauptfigur, Madeleine, eigenartig blass bleibt – trotz ihrer existentiellen Erfahrungen in der Ehe. Madeleiene entwickelt sich nicht, bleibt eigentümlich passiv, bleibt das Ziel der Entscheidungen anderer: Leonard ist es, der sie verlässt, um sie von seiner Erkrankung zu entlasten. Mitchell, der Freund, ist dann für sie da – als Freund, entscheidet aber, die Lücke als Liebender, Liebhaber, nicht zu füllen. Madeleine, so scheint es, bleibt in ihrer Jane-Austen-Welt. „Die Liebeshandlung“ wirft zu viele Fragen auf und beantwortet zu wenige. Am Ende des Buches klappt man die Deckel zu und denkt sich frei nach Shakespeare: „Viel Text um Nichts“. Und dies ist der Haken an Büchern mit hohem Flutschigkeitsfaktor: Man bleibt dabei. Bis zum bitteren Ende.

Die Augen habe ich mir etwas gerieben über den Klappentext von Daniel Kehlmann: „Nur Jeffrey Eugenides konnte daraus etwas so schwebend Schönes komponieren, ein so helles, vollkommenes Werk.“. Hell ja, aber vollkommen? – das ist etwas anderes.

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