Sven Recker: Der Afrik

Um die Armen loszuwerden, schickten manche Ortschaften in Deutschland ihre Tagelöhner im 19. Jahrhundert als Wirtschaftsflüchtlinge nach Nordafrika. Sven Recker erzählt in „Der Afrik“ auf beeindruckende Weise von solch einem Schicksal.

„Die Kutsche fuhr los und aus dem Schwarzwald blies der Schmerzensschrei des Nachtkrapps orkangleich runter ins Tal. Die Wipfel der Tannen flatterten, es regnete Zapfen, im Fallen drehten sie sich wie Derwische, Schrapnellen gleich zerbarsten sie unten im Laub.“

Sven Recker, „Der Afrik“


Das Markgräfler Land steht heute als Synonym für Wohlfühl-Tourismus, Sporturlaube und Freizeitvergnügen. Doch es ist eine harte, archaische Welt, in die Sven Recker mit seinem dritten Roman „Der Afrik“ entführt: Armut, Hunger und Krankheit prägen das Leben der Landbevölkerung im 19. Jahrhundert. In Pfaffenweiler, keine zehn Kilometer von Freiburg entfernt, griff die Obrigkeit zu einer besonderen Maßnahme, um ihre Tagelöhner und deren zahlreiche Kinder loszuwerden: Man versprach ihnen das Blaue vom Himmel, das Paradies auf Erden in fernen Ländern und überredete sie zur Auswanderung nach Algerien.

„Es war Dienstag, der 13. Dezember des Jahres 1853. Die erste von vier Kutschen verließ Pfaffenweiler vom Marktplatz aus um ein Uhr in der Nacht.“

132 Einwohner werden auf eine beschwerliche Reise nach Nordafrika geschickt. Um die Verschiffung von Marseille aus – bis dahin bewältigten die Menschen die Reise weitestgehend zu Fuß, einige überlebten schon dieses nicht – zu finanzieren, wird ein Stück Wald abgeholzt und als Weinberg verpachtet. Noch heute erinnert an diesem Weinberg namens Afrika ein Denkmal an das Schicksal der Zwangs-Ausgewanderten:

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„Schwer war das Los in der Fremde und die Hoffnungen zerrannen in Tränen und Bitterkeit wie uns Briefe und Hilferufe berichten.“

Die Hilferufe verhallten ungehört: Für die Verschickten gibt es keinen Rückfahrschein. Unter den Auswanderern ist auch der erst 15-jährige Franz Xaver Luhr mit seiner Mutter. Vom Rest ihrer Habseligkeiten, die sie schon während der Reise größtenteils verkaufen mussten, mieten die beiden für ein Jahr ein Stück Land und eine Hütte im algerischen Nirgendwo, dem Wetter und seinen Unbilden schutzlos ausgesetzt.

„Selbst im kommenden Frühjahr wuchs nichts. Schlimmer war nur der Winter und mit ihm der Regen, der im Januar kam. Bis März floss das Wasser in Bächen durch euer undichtes Dach.“

Die Mutter beginnt Briefe an die Heimat zu schreiben, „doch es nützte so wenig wie ihre Gebete“. Schließlich rafft sie das Fieber dahin, erst 39 Jahre alt, „eine abgemagerte Frau, die einen Stapel Briefe umklammerte, als wären diese ihr Testament.“

Der einzige Rückkehrer wird zum Einzelgänger

Franz verbringt noch einige Jahre in Algerien, nur begleitet von seinem Freund Djilali, den er später auf beinahe wundersame Weise in Karlsruhe als Mitglied von Buffalo Bill’s Wild West Show wiedertrifft, und vom Nachtkrapp, jenem Kinderschreck, dessen Boshaftigkeit nie verstummt. Franz mit dem Nachtkrapp auf dem Rücken ist schließlich der Einzige der Auswanderer, der nach Pfaffenweiler zurückkehrt: Er hat alles verloren, die Heimat, die Mutter und bei der Rückkehr auch seinen Namen, er wird zum „Afrik“, einem Einzelgänger, der einsam in einer Hütte beim Weinberg haust.

Was keiner ahnt: Jahrzehntelang plant dieser einsilbige Mann, der mit anderen kaum mehr als durch „gebellte“ Einzelwörter spricht, seine Rache. Franz gräbt über 30 Jahre hinweg einen Stollen zum Weinberg, stiehlt Sprengstoff, sein einziges Ziel vor Augen ist es, diesen verhassten Weinberg namens „Afrika“, der für sein Schicksal steht, in die Luft zu jagen. Doch da bricht, gleichsam wie eine Naturgewalt, ein neuer Mensch in sein Leben ein: Das Kind Jacob, ein kleiner Junge, so einsilbig und menschenentwöhnt wie der Afrik, sitzt plötzlich vor seiner Hütte, bei sich nur einen Zettel mit den Worten:

„Je m’appelle Jacob. Tu es famille.“

Zunächst gezwungenermaßen, dann aber mit mehr und mehr Anteilnahme beginnt sich der 70-jährige Alte um das geistig verwirrte Kind zu kümmern. Eine anfängliche Zwangsgemeinschaft, die nicht zuletzt auch die Rachepläne des „Afrik“ unter ein neues Licht stellt.

Die Sprache greift das Archaische dieser Welt auf

Sven Recker erzählt diese Geschichte aus der Perspektive des Alten, der sich an sein Leben zurückerinnert, in einer herben Sprache, in der sich das Archaische dieser harten Welt widerspiegelt. Für die Einsamkeit und das Ausgeschlossensein von der Dorfgemeinschaft findet der Schriftsteller den passenden Ton, immer wieder wird der Erzählfluss durch einzelne Ausrufewörter und Aufforderungssätze unterbrochen, „gebellte“ Aussagen des sprachentwöhnten Einzelgängers. Zugleich aber entfaltet sich sprachlich aber auch die ganze Wucht der harten Natur im tiefverschneiten Schwarzwald ebenso wie in der dürren Wüste Algeriens.

Manche Einsprengsel – die Wiederbegegnung mit Djilali, das Wiederfinden eines grünblauen Steins bei einem Indianer, der einst dem Vater von Franz gehört hatte – sowie die Stimme des Nachtkrapp und die letztlich ungeklärt bleibende Herkunft Jacobs verleihen dem Roman zudem etwas Magisches: Eine Reminiszenz an den Aberglauben, der unter der notleidenden Bevölkerung im 19. Jahrhundert noch weit verbreitet war.

Eine beinahe altertümliche, archaische Geschichte, die nicht zuletzt aber auch eindrucksvoll eine Brücke in die Gegenwart schlägt: Es ist noch nicht allzu lange her, dass wir Europäer als Wirtschaftsflüchtlinge durch die Welt ziehen mussten. Die Erinnerung daran und die damit verbundenen Schicksale könnte Empathie wecken für die Menschen heute, die auf der Suche nach einem besseren Leben zu uns kommen.


Bibliographische Angaben:

Sven Recker
Der Afrik
Edition Nautilus
Erscheinungsdatum: 4. September 2023
ISBN 978-3-96054-324-4

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

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