Wolfgang Borchert: Hinter den Fenstern ist Weihnachten.

Diese Weihnachtsgeschichte von Borchert wurde erst 1961 in der Erzählsammlung „Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß“ veröffentlicht.

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Im Bunker hält man das nicht aus. Und als dein Gesicht von dem Auto hellgemacht wurde, sah ich, daß du blaue Schatten um die Augen hast. Vielleicht ist das eine, bei der man`s leichter hat, dachte ich. Deswegen laufe ich hinter dir her.

Wir beide sind ganz allein in der Stadt. Hinter den Fenstern, da ist Weihnachten. Manchmal sieht man hinter den Gardinen die Kerzen vom Tannenbaum. Im Bunker könnte man das jetzt nicht aushalten, wenn sie singen. Du hast blaue Schatten unter den Augen. Vielleicht bist du eine von denen, die abends unterwegs sind. Die Schatten hast du von der Liebe. Aber jetzt sind sie ganz anders, jetzt singen sie Weihnachtslieder und schämen sich, weil sie weinen müssen. Ich bin weggegangen.

Ob du ein Zimmer hast? Und einen Tannenbaum? Mein Gott, wenn du ein Zimmer hättest? Merkst du, daß ich hinter dir hergehe? Wir sind ganz allein in der Stadt. Und die Laternen stehen Posten. Die Posten haben Zigaretten, weil heute Weihnachten ist, und die glimmen im Finstern: Hörst du, hinter den Fenstern machen sie Weihnachten. Sie sitzen auf weichen Stühlen und essen Bratkartoffeln. Vielleicht haben sie sogar Grünkohl. Aber dann sind sie reich. Aber sie haben ja auch Gardinen, dann haben sie auch Grünkohl. Wer Gardinen hat, ist reich. Nur wir beiden sind draußen. Da hast blaue Schatten an den Augen, das hab ich gesehen, als das Auto vorbeifuhr. Ich möchte, daß du die Schatten von der Liebe hast. Ich weiß sonst nicht, wohin. Im Bunker singen sie. Das hält man nicht aus.

Immer wenn eine Laterne kommt, seh ich deine Beine. Da kann man schon allerhand dran sehen, wie die Beine sind. Die anderen reden auch immer von den Beinen bei ihren Weibern. Sie sagen immer Weiber. Wenn sie abends nach Hause kommen, reden alle von ihren Weibern. Weiber, sagen sie immer. Immer bloß so Weiber. Die ganze Bude ist dann voll davon, wenn sie von den Beinen reden, von ihrer Brust und der rosa Unterwäsche.

Merkst du nicht, daß ich immer hinter dir hergehe? Immer, wenn eine Laterne kommt, hälst du den Kopf weg. Ich bin dir wohl zu klein, wie? Ja, mit einmal ist man wieder zu klein. Für den Krieg war man auch nicht zu klein. Nur für so was, was schön ist. Du brauchst gar nicht so zu rennen, ich lauf dir doch nach. Wenn ich denke, was du noch alles hast außer den Beinen, dann kann man sich schon allerhand ausdenken. Die andern haben das jeden Abend. Unter den Laternen sind deine Knie ganz weiß. Immer wenn ich dich bei einer Laterne überhole, hälst du dein Gesicht weg.

Im Vorbeigehen kann ich dich riechen. Aber du merkst gar nicht, daß ich was von dir will. So schnell wirst du mich nicht los. Ich weiß sowieso nicht, wohin. Bei solchem Nebelwetter ist es im Bunker immer naßkalt. Kann doch sein, daß du ein Zimmer hast. Bloß nicht bei deinen Eltern. Bei Freunden. Dann kannst du mich doch mitnehmen. Dann sitzen wir nebeneinander auf deinem Bett. Und der Nebel und die Kälte stehen vor der Tür. Und dann sind deine hellen Knie ganz dicht neben mir. Und du hast einen Tannenbaum. Und dann teilen wir uns ein Stück Brot. Du hast doch bestimmt Brot. Die andern erzählen immer, daß sie von ihren Weibern was zu essen kriegen. Ihr eßt ja nicht soviel wie wir. Wir haben meistens Hunger. Ich auch, du. Aber du hast vielleicht was. Wenn du bei deinen Eltern wohnst, das ist natürlich Mist. Dann müssen wir unten im Treppenhaus bleiben. Das geht auch. Die andern bleiben auch oft mit ihren Weibern im Treppenhaus. Aber Weihnachten? Mein Gott! Im Treppenhaus.

Du riechst gut. Ich gehe ganz dicht hinter dir und kann dich riechen. Mein Gott, du riechst so nach allerhand. Da kann man sich allerhand bei vorstellen. Wenn das bei uns im Bunker man mal so riechen würde. Aber da riecht es immer nach Tabak und Leder und nassen Klamotten. Du riechst ganz anders, so was hab ich noch nie gerochen. Bei der nächsten Laterne rede ich dich an. Die Straße ist gerade ganz leer. Aber wenn ich dich anrede, ist vielleicht alles vorbei. Du antwortest vielleicht gar nicht. Oder du lachst mich aus, weil ich dir zu jung bin. Älter als zwanzig bist du aber auch noch nicht.

Da kommt die Laterne. Deine Knie sind ganz hell im Dunkeln. Die Laterne kommt. Jetzt muß ich gleich was sagen. Oder doch nicht? Vielleicht ist dann alles aus. Die andern können das alle. Die haben alle ihre Weiber. Da ist die Laterne. Wenn ich jetzt rede, ist vielleicht alles aus. Die Laterne. Nein, ich warte noch ein paar Laternen. Noch nicht. Der Nebel ist gut. Du siehst wenigstens nicht, daß ich noch nicht so alt bin. Aber ich kenn welche, die haben schon eine, und sind auch nicht älter. Ja, jetzt ist man mit einmal wieder zu klein. Fürs Soldatsein war man nicht zu klein. Und jetzt läuft man rum. Im Nebel nachts. Und jeden Abend reden die andern von ihren Weibern. Davon kann man nachher nicht einschlafen. Die Luft im Bunker ist dann ganz voll davon. Von ihren Weibern. Und von dem nassen Nebel nachts. Draußen. Aber du, du riechst gut. Deine Knie sind ganz hell im Dunkeln. Sie müssen ganz warm sein, deine Knie. Wenn die nächste Laterne kommt, rede ich dich an. Vielleicht wird es was. Mensch, du riechst so. Das hab ich noch nie gerochen. Kuck mal, hinter den Gardinen haben sie Weihnachten. Vielleicht auch Grünkohl. Nur wir beide sind draußen. Wir sind ganz allein in der Stadt.-

Wolfgang Borchert

Diese Weihnachtsgeschichte von Wolfgang Borchert (1921 – 1947) wurde erst 1961 in der Erzählsammlung „Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß“ veröffentlicht. Sie mag ein wenig ungehobelt, unausgereift wirken – aber dennoch zeugt sie vom großen Talent des jungen Schriftstellers, der viel zu früh starb. Er prägte das Schreiben der jungen Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg erst wieder zu sich finden musste – und die wußten, wie es ist, nach Krieg, Flucht und Vertreibung „draußen vor der Tür“ zu sein.

Mir scheint diese Geschichte für dieses Weihnachten passend: Soviele Menschen bleiben draußen, haben ihre Heimat verloren und fühlen sich als Fremde in diesem Land. Und in den nächsten Tagen wird ihnen dieses vielleicht noch verstärkt bewußt. Und im Grunde ist ja die ganze Weihnachtsgeschichte die Geschichte von der Unbehaustheit eines Paares, vom Ankommen und neuer Hoffnung.

#MeinKlassiker (24): Wolfgang Borchert und ein eindringlicher Appell an die Leser heute

Es ist bewegend, den Text von Bloggerin Marion Birkenfelder-Linn über ihren Klassiker zu lesen: Sie bringt uns Wolfgang Borchert näher.

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Als mich Birgit von Sätze&Schätze fragte, ob ich nicht auch einen Beitrag schreiben wolle, war ich zunächst ratlos. Ich hatte schon hin und wieder überlegt, welchen Klassiker ich wählen würde, bin aber nicht so recht einig mit mir geworden. Auch schien mir die Messlatte der vorgestellten Beiträge zu hoch, als dass ich da mithalten könnte.

Doch mit einem Mal war die Sache klar. Es gab keine Zweifel mehr. Kein dicker Wälzer, sondern die Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert „Nachts schlafen die Ratten doch“ musste es sein.

Der Text wurde 1947 veröffentlicht und spielt am Ende des Zweiten Weltkriegs in den Trümmern einer deutschen Großstadt. Der kleine Bruder eines neunjährigen namenlosen Jungen liegt verschüttet unter einem zerbombten Haus. Um ihn vor den Ratten, die sich nach Aussage seines Lehrers von Toten ernähren, zu schützen, bewacht der Junge den Bruder und weigert sich beharrlich, den Platz zu verlassen. Er raucht – ein Hinweis, dass seine Kindheit schon zu Ende ist. Vor der Zeit gealtert. Hier trifft er auf einen ebenfalls namenlosen älteren Mann, der ihn mit dem (falschen) Hinweis beruhigt, dass nachts die Ratten schlafen und der übermüdete Junge deshalb abends nach Hause gehen und sich ausschlafen kann. Er verspricht ihm für den anderen Tag, ein Kaninchen mitzubringen. Das Tier als Symbol für das Leben – eine Zukunftsperspektive, die der Mann dem Jungen bietet.

Die Geschichte besteht überwiegend aus Dialogen, sehr knapp und lakonisch, sachlich, mit wenigen Erklärungen, und dennoch schwingen im Hintergrund so viele Emotionen mit. Für mich ist das ganz große Kunst – jenseits von Geschwafel die Dinge auf den Punkt zu bringen. Die Kriegsnachwirkungen ohne große Gefühlsausbrüche sichtbar zu machen. Und deshalb umso eindringlicher in seiner Wirkung.

Ich habe den Text, wie so viele, in der Schule kennen gelernt.
Im Gegensatz zu vielen anderen Schullektüren berührte mich diese Geschichte sehr. Im Laufe der Jahre kam sie mir hin und wieder ins Gedächtnis. Ich kann sie nicht vergessen. Auch meine Kinder lasen sie in der Schule. Alles wiederholt sich.

Auch jetzt wieder erinnere ich mich an sie. Wenn es um die vermeintliche Lügenpresse oder Ausländer geht, gibt es Demonstrationen. Andersdenkende werden nieder gebrüllt. Das Gespräch wird verweigert. Wo ist der Aufschrei auf den Straßen gegen die Kriegshölle von Aleppo? Was ist das für eine seltsame Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Kindern? Dieser Mangel an Empathie? Eine ganze Generation wächst mit Traumata auf, ohne Eltern, ohne Dach über dem Kopf, ohne Schule. Eine Untersuchung hat einmal gezeigt, dass sich Kriegstraumata vererben, selbst wenn nachfolgende Generationen in Frieden leben. Mangelnde Bildung macht den Weg frei für Verführer, für Terroristen, die sie für ihre Zwecke missbrauchen. Was kommt da noch auf uns zu? In welche Welt wird mein noch ungeborener Enkel ankommen?

Lasset die Kindlein zu kommen, heißt es in der Bibel. Er soll die Wertschätzung der Kinder im Christentum verdeutlichen. Man muss kein gläubiger Mensch sein, um diesen Satz zu bejahen. Die Kinder brauchen wieder eine Lobby. Deshalb muss dieser Text von Borchert weiter gelesen werden.

„Nachts schlafen die Ratten doch“ ist eine der bekanntesten Kurzgeschichten Wolfgang Borcherts. Wie alle Werke des Autors zählt sie zur Epoche der Trümmerliteratur. Sein Werk ist geprägt von seine Kriegserfahrungen und dennoch zeitlos. Sein Aufbäumen gegen den Krieg – „Sag nein!!“ – ist heute noch aktuell. Deshalb passt er als Klassiker in diese Reihe. Weil man seinen Text zu allen Zeiten wieder modern finden kann.

Er hat nur wenig hinterlassen. Mit 26 Jahren stirbt er an einer kriegsbedingten Krankheit.

Eine frohe Weihnacht wünsche ich allen! Trotz alledem. Und vielleicht als Lektüre unterm Tannenbaum „Das Gesamtwerk“ von Wolfgang Borchert, herausgegeben 2009 von Michael Töteberg, erschienen im Rowohlt-Verlag.

Marion Birkenfelder-Linn
https://gazelleblockt.wordpress.com/

Wolfgang Borchert: Schischyphusch

Lebensfroh, verspielt, bunt – auch so schrieb der früh verstorbene Schriftsteller Wolfgang Borchert, ganz anders, als es sein berühmtes Drama vermuten lässt.

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„Er wußte nicht: Hab ich nun eben Schischyphusch geschrien? Oder nicht? Hab ich schechsch Aschbach gekippt, ich, der Kellner dieschesch Lokalsch, mitten unter den Gäschten? Ich? Er war unsicher. Und für alle Fälle machte er eine abgehackte kleine Verbeugung und flüsterte: „Verscheihung!“ Und dann verbeugte er sich noch einmal: „Verscheihung. Ja. Verscheihen Schie dasch Schischyphuschgeschrei. Bitte schehr. Verscheihen der Herr, wenn ich schu laut war, aber der Aschbach, Schie wischen ja schelbscht, wenn man nichtsch gegeschen hat, auf leeren Magen.
Bitte schehr darum. Schischyphusch war nämlich mein Schpitschname. Ja, in der Schule schon.
Die gansche Klasche nannte mich scho.“

Wolfgang Borchert, „Schischyphusch oder der Kellner meines Onkels“

Da begegnen sich zwei: Der eine Herr, der andere Diener. Der eine wohlhabend, der andere vom Leben gebeutelt. Da ist der Onkel: Lebenslustig, abenteuerlustig, überhaupt lustig. Kraftvoll, kraftstrotzend, trotz Kriegsversehrung, alles an ihm ist groß, auffallend, laut. Und der andere, jener Kellner: Klein, grau, niedergedrückt. Alles an ihm etwas schäbig. Vom Leben gezeichnet.

Sprachfehler als einendes Element

Das Einzige, was sie eint – ein Sprachfehler. Dem Onkel haben sie in Frankreisch die Zungenschpitze weggeschosschen, der Kellner trägt die sch-Laute scheid Geburt mit schich herum. In einem Gartenlokal geraten sie aneinander – jeder fühlt sich vom anderen bei der Bestellung („Alscho: Schwei Aschbach und für den Jungen Schelter oder Brausche. Oder wasch haben Schie schonscht?“) „veruscht“. Ist es die Hitze, der Lärm, sind es die fordernden Gäste, man weisch esch nicht. Doch an diesem Tag ist für den kleinen Kellner das Maß voll: Einmal wehrt er sich, einmal begehrt er auf, läßt die vermutete Veralberung wegen seines Sprachfehlers, der ihn seit seiner Kindheit Witzen aussetzt, nicht auf sich sitzen. Und hat Glück: Er trifft nicht auf den Typ eines autoritären Herrenmenschen, sondern auf diesen großzügigen, lebenslustigen Onkel (erzählt ist die Geschichte aus der Perspektive eines Kindes, des Neffen). Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Eine anrührende Geschichte, humorvoll, zärtlich im Ton, die von Freundschaft, Toleranz und von Würde spricht. Und eine Erzählung, wie ich sie von Wolfgang Borchert nicht vermutet hätte – so lebensfroh, so kindlich auch im besten Sinne, so bunt.

Bekannt für „Draußen vor der Tür“

Wie wohl viele kenne ich das Drama „Draußen vor der Tür“ des viel zu früh verstorbenen Hamburger Schriftstellers (1921 – 1947). Die dramatische Geschichte eines Kriegsheimkehrers, der keinen Platz mehr findet in der Heimat. Das Drama war Schulstoff zu meiner Zeit. Die Lektüre ist mit persönlichen Erinnerungen verknüpft, die bis in die heutigen Tage meine Borchert-Wahrnehmung prägten – ich las es in einer Zeit, als ich häufig bei meiner Großmutter essen war. Und die kochte auch in den 70ern immer noch so, als stünde draußen vor der Tür der nächste Krieg. Eine von Kriegsnot, Lebensmittelknappheit und zurückliegender Armut geprägte Küche: Eierflockensuppe. Allenfalls Sonntags ein magerer Braten, Resteverwertung am Montag dann. Borchert, das war für mich bislang: Bedrückende Atmosphäre. Der Geruch nach Kohl und Eierflockensuppe.

Und nun diese Erzählung, deren Stimmung wunderbar unterstrichen wird durch die Illustrationen von Birgit Schössow. Die Hamburgerin, die unter anderem auch für den New Yorker arbeitet, hat zarte, pastellfarbene Töne für dieses durchgehend bebilderte Buch gewählt. Ihre Figuren – Kinder in Matrosenanzügen, Frauen in Flatterkleidern – lassen den Schwung, die schwunghafte, lebendige Seite der 1920er-Jahre wieder auferstehen. Ein – im positiven Sinne – hübsches Buch. Das zudem eine gute Anregung für mich ist, endlich – ohne Kohlgeruch in der Nase – mehr zu lesen von Wolfgang Borchert.

 Informationen zum Buch:

Wolfgang Borchert
Schischyphusch oder der Kellner meines Onkels
Mit Illustrationen von Birgit Schössow
Atlantik Verlag, 2016

Buchtrailer:

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