Literarische Orte: Wieland unter „abgeschmakten“ Schwaben

Nichts wie weg hier: Als Kanzleiverwalter hat Christoph Martin Wieland in Biberach arg gelitten. Dafür umso mehr geschrieben. Ein Besuch in seiner Heimatstadt.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Es geht doch, sagt mir was ihr wollt,
nichts über Wald und Gartenleben,
und schlürfen ein dein trinkbar Gold,
o Morgensonn´, und sorglos schweben
daher im frischen Blumenduft,
und, mit dem sanften Weben
der freyen Luft
als wie aus tausend ofnen Sinnen,
dich in sich ziehn, Natur, und ganz in dir zerrinnen!

Christoph Martin Wieland, „Der Vogelsang, oder die drey Lehren“, in „Der Teutsche Merkur“, März 1778.

In meiner Jugendzeit war das Biberacher Kino ein großer Anziehungspunkt. Der damalige Besitzer zeigte all die Filme, mit denen wir uns als Provinzjugendliche in das freie, wilde Leben hineinsehnen konnten. Legendär die Nachtvorführungen von „Catch 22“, „M*A*S*H“ und Filmen ähnlichen Kalibers, in dem es mehr darum ging, selbst schlaue Sprüche abzusondern denn dem Film zu folgen.

Dass genau gegenüber, hinter Bäumen versteckt, jenes Gartenhaus schlummerte, in dem sich knapp 250 Jahre zuvor einer der kommenden Größen der Weimarer Klassik ebenfalls Gedanken machte über Freiheit, Gleichheit und andere Prinzipien der Aufklärung und sich wegsehnte aus der Provinz, davon hatten wir keine Ahnung. Man sah den „Wald vor lauter Bäumen nicht“ – übrigens auch eine der zahlreichen Redewendungen, mit denen dieser Schriftsteller und Aufklärer den deutschen Sprachschatz bereicherte.

Wieland, einer der Großen der Weimarer Klassik

Es ist im Grunde ein pädagogisches Armutszeugnis: Ich kann mich nicht erinnern, dass während meiner Schullaufbahn, die Mitte der 1980er-Jahre endete, nur einmal die Rede gewesen wäre von jenem Klassiker, der nur einen Steinwurf entfernt von unserem Gymnasium geboren worden war. Wieland, der erste der großen vier Weimaraner, der Mann, der den Roman als literarische Form salonfähig machte, der modernen Literatur den Weg bereitete und als Erstübersetzer zahlreiche Werke Shakespeares übertrug und damit in Deutschland erst das „Shakespeare-Fieber“ auslöste, er war in seiner Heimatregion lange vergessen. Inzwischen jedoch wird das Andenken in Oberschwaben vorbildlich gepflegt.

1733 kam der Pfarrersohn Christoph Martin Wieland in Oberholzheim zur Welt, einem kleinen Ort im Landkreis Biberach a. d. Riß, der, wie es sich Wieland später in einem Gedicht wünschte, bis heute „unscheinbar“ blieb:

„Du kleiner Ort, wo ich das erste Licht gesogen,
Den ersten Schmerz, die erste Lust empfand,
Sei immerhin unscheinbar, unbekannt.
Mein Herz bleibt ewig doch vor allen Dir gewogen,
Fühlt überall nach Dir sich heimlich hingezogen,
Fühlt selbst im Paradies sich noch aus Dir verbannt.
O möchte wenigstens mich nicht die Ahnung trügen,
Bei meinen Vätern einst in Deinem Schoß zu liegen.“

Geburtsstube in Oberholzheim

Im evangelischen Pfarrhaus wurde die Geburtsstube Wielands wieder eingerichtet und auf Initiative der Biberacher Wieland-Stiftung die berühmte Löwenzahn-Wiese angelegt:

„Mein Vater wurde durch ein hitziges Fieber ein Vierteljahr außer Stand gesetzt, sein Amt zu versehen; da erinnere ich mich noch, wie der sein Amt indeß vertretende Vicar mich im Käppchen auf die Wiese geführt hat und in den gelben Blumen spielen ließ, wie ich diese Blumen pflückte …“.

Doch schon 1736 wurde der Vater als „Siechenprediger“ in die heutige Kreisstadt Biberach berufen. Der junge Wieland war ein wissbegieriges Kind, lernte schnell und hatte schon als Jugendlicher alle römischen Klassiker gelesen. 1747 kam der Junge auf ein pietistisches Internat bei Magdeburg – bis 1760 kehrte er in seine Heimatstadt nur zu Besuch bei den Eltern zurück, seine Studienwege führten ihn indes unter anderem nach Tübingen und Zürich. Doch kam es 1750 in Biberach zu einer lebensentscheidenden Begegnung: Hier lernte er Sophie von La Roche kennen, ohne die, wie er später gestand, er niemals zum Dichter geworden wäre.

„Ein Blick von Sophie genügt, um alle anderen Frauen aus meinem Herzen auszulöschen.“

Einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit

Dass aus der Verlobung weiter nichts wurde, das lag vor allem an Wielands zögerlichem Hin und Her, der sich in jenen Jahren gerne auch platonisch auf Nebenwege begab. Ein Zimmer im heutigen Wieland Museum in Biberach ist diesen „Frauengeschichten“ gewidmet: So kann man auch spielerisch und doch anspruchsvoll an große Literatur heranführen.

Das Wieland Museum befindet sich im ehemaligen Gartenhaus, das sich Wieland, der 1760 als Kanzleiverwalter nach Biberach zurückkehrte, gemietet hatte, um dort musisch arbeiten zu können. Hier entstanden seine ersten Werke, „Die Geschichte des Agathon“, „Don Silvio von Rosalva, oder der Sieg der Natur über die Schwärmerey“, mit denen er seinen Weg zum bekanntesten und erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit begründete.

Literarisch war Biberach also fruchtbar – zumal er hier auch mit den Shakespeare-Übersetzungen begann und eine der ersten bedeutenden Shakespeare-Aufführungen stattfand. Als Direktor der Evangelischen Komödiantengesellschaft brachte er als Übersetzer und Regisseur 1761 „Der Sturm oder der erstaunliche Schiffbruch“ auf die Bühne. An diesen Meilenstein des deutschen Theaterlebens wird heute an der Fassade des Komödienhauses erinnert, das noch immer in Betrieb ist, als Kleinkunstbühne genutzt wird und Heimstatt des ältesten Amateurtheaters in Deutschland, dem Dramatischen Verein Biberach, ist.

Skandale und Geldnot

Trotz der literarisch erfolgreichen Zeit lässt Wieland jedoch kein gutes Haar an seinem Wohnort: Ihm fehlt der literarische und philosophische Austausch, eine „Mesalliance“ mit einer Katholikin führt zu einem handfesten Skandal und zudem plagen ihn Geldnöte.

„Sogar die Musen sind, vielleicht auf ewig, von mir geflohen, ach! (…) da ich durch einen Fluch, den mir die Götter verzeyhen wollen, meine Zeit, meine Schreibfinger und meine armen Musculos clutaeos dem Dienst der Stadt Biberach verpfändet habe! (…) und bald wird die ansteckende Dummheit einer Raths-Stube den wenigen wäßrichen Geist noch vollends auftroknen, den ihm ein fünfjähriger Auffenthalt unter den unwissendsten, abgeschmaktesten, schwermüthigsten und hartleibigsten unter allen Schwaben noch übrig gelassen haben mag.“

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

(Einschub: In seinen Abderiten greift Wieland die Geschichte von Esels Schatten, die Demosthenes zugesprochen wird, auf: Ein Zahnarzt mietet einen Esel für eine Reise. Als er sich in dessen Schatten legt, will der Besitzer, der ihn begleitet, auch dafür Geld, was zu einem Rechtsstreit führt, den Wieland satirisch zuspitzt. Die Skulptur von Peter Lenk auf dem Biberacher Marktplatz greift dies detailreich auf.)

Sophie von La Roche-Biograph Armin Strohmeyr meint dazu:

„Für Wieland hat die emsige Schriftstellerei auch ein profanes Motiv: Mit ihr versucht er Geld zu verdienen, da ihm die Auszahlung seines Gehalts als Kanzleiverwalter wegen eines Paritätsstreits zwischen katholischer und protestantischer Bürgerschaft vier Jahre lang verweigert wird. Ein Gerichtsverfahren vor der Wiener Reichsverwaltung, bei dem Wieland von Georg Michael La Roche unterstützt wird, zieht sich hin, und Wieland ist gezwungen, sich von Freunden Geld zu leihen. Kein Wunder, dass ihm die Arbeit im Amt sauer wird.“ 

Armin Strohmeyr, „Das Leben der Sophie von La Roche“, 2019

Ja, richtig gelesen: Geholfen wird Wieland vom Ehemann seiner ehemaligen Verlobten. Das Paar lebte inzwischen in Schloss Warthausen bei Anton Heinrich Friedrich Graf von Stadion, einem Wegbereiter der Aufklärung am kurfürstlichen Hof in Mainz. Man war sich – Warthausen liegt bei Biberach – also räumlich und auch persönlich wieder nähergekommen. Sophie hilft ihm aus der Misere mit der jungen Christine Hogel und vermittelt nicht zuletzt den Kontakt zu seiner künftigen Ehefrau, der Augsburger Kaufmannstocher Anna Dorothea von Hillenbrand. Mit ihr hat Wieland 13 Kinder – was ihn aber auch in späteren Jahren nicht davon abhält immer wieder aushäusig zu schwärmen und zu schielen.

Doch bringen ihn Ehe und der Familienstand in geistig ruhigere Bahnen und als er 1769 Biberach verlässt, um zunächst einem Ruf an die Universität Erfurt zu folgen und dann, als erster der vier Weimarer Klassiker (Goethe, Herder und Schiller folgten danach) an den Hof von Anna Amalia von Sachsen-Weimar zu kommen, ist er im Grunde ein gemachter Mann: In Weimar lebt er in so gesicherten Verhältnissen, dass seine Produktivität sich vollends entfalten kann. Dort zieht es ihn dann 1798 in ein Gartenhaus weit größerer Dimension als in Biberach: Er will sich auf Gut Oßmannstedt bei Weimar eine „Insel des Friedens und Glücks“ aufbauen. Lang kann er das Gut, in dem ebenfalls ein Wieland-Museum zu finden ist, nicht halten – aber das ist eine andere Geschichte. 1813 stirbt Wieland in Weimar – bis zuletzt schreibend, ein aktives Leben führend, dem Leben zugewandt.

Vor dem Wieland-Archiv in Biberach.

Weitere Informationen:

Klein, aber fein präsentiert sich das Wieland Museum in Biberach. Die Ausstellung konzentriert sich auf seine Jahre vor Ort und seine Beziehungen nach Warthausen. In einer Hörstation kann man Arno Schmidts Radio-Dialog „Wieland oder die Prosaformen“ lauschen.

Die Wieland-Stiftung Biberach ist auch zuständig für das Wieland-Archiv, eine Forschungsstätte mit rund 16.000 Bänden. Eine Sondersammlung besteht dort zudem zum Werk von Sophie von La Roche.

Bilder zum Download:

Bild 1, Eingang Gartenhaus
Bild 2, Skulptur
Bild 3, Skulptur
Bild 4, Skulptur

Tobias Döring: Wie er uns gefällt

Zum 450. Geburtstag von Shakespeare kam dieser Lyrikband heraus, der zeigt, welche Inspiration der Engländer für andere Autoren bis heute ist.

Bild von MikesPhotos auf Pixabay

„Nicht, dass Dein Name uns erweckte Neid,
Mein Shakespeare, preis` ich Deine Herrlichkeit,
Denn wie man Dich auch rühmen mag und preisen:
Zu hohen Ruhm kann keiner dir erweisen!“

Ben Jonson (1572-1637)

Schon sieben Jahre nach Shakespeares Tod pries ein Autorenkollege den Genius dieses Mannes, dessen Name auch 450 Jahre nach seiner Geburt unvergessen ist. Ben Jonson hinterließ diese Verse auf seinen Freund in dem berühmten Folioband, der Shakespeares Werke 1623 versammelte – ein Widmungsgedicht, das freilich ein wenig großsprecherisch wirkt, das aber seine Gültigkeit bis heute nicht verloren hat.

Jahr für Jahr erscheinen Tausende von neuen Publikationen über den berühmtesten aller Dramatiker. Wer zwischen all den Sachbüchern, Biografien und Neuübertragungen seiner Werke einen besonderen Zugang sucht, für den hielt der Manesse Verlag zum mutmaßlichen 450. Geburtstag Shakespeares etwas bereit: „Wie er uns gefällt“ ist ein schön aufgemachter Lyrikband, der rund 120 Gedichte an und auf William Shakespeare versammelt.

„Wir vergessen, dass es Dich gibt,
Nicht unachtsam, sondern weil Du in unserem Blut
Lebst und den Nerven und in jeder Zelle unsres Hirns.“

Elizabeth Jennings (1926-2001)

Für eine qualitätsvolle Auswahl steht schon der Name des Herausgebers: Tobias Döring, der an der LMU München einen Lehrstuhl für Englische Literaturwissenschaft innehat und von 2011 bis April 2014 Präsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft war.

Tobias Döring umreißt das Konzept in seinem Nachwort:

„In zwölf Dutzend Spielarten zeigt unser weltpoetisches Kabinett, welchen Reim sich Lyriker auf Shakespeare und sein Werk gemacht haben – in vier Jahrhunderten, zehn Sprachen und mehr als zwanzig Ländern.“

Nicht nur die Auswahl ist trefflich – schön ist es auch, dass die Gedichte nicht nur in der deutschen Übersetzung, sondern auch im Original abgedruckt sind.

„Weit entfernt vom Anspruch auf Repräsentativität oder gar Vollständigkeit, will unsere Sammlung einen möglichst vielstimmigen und vielgestaltigen Eindruck davon vermitteln, wie das Bühnenwerk in Gedichten aufgegriffen, verwandelt, neu akzentuiert, fort- und umgeschrieben worden ist. Darin wird zugleich erfahrbar, wie Autoren und Autorinnen vom 17. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart im Verweis auf Shakespeare ihre eigene Position bestimmen.“

Ein Gespräch komme damit in Gang, meint der Herausgeber – zwischen Shakespeare und den Lyrikern, zwischen den Lyrikern und den Lesern, die wiederum den Nachhall der Gedichte im Theater oder bei der Lektüre erfahren können – ein Lyrikkabinett und gleichsam eine Echokammer in dem anhaltenden Dialog mit dem großen Theatermann. Tatsächlich regen die Gedichte zur erneuten Auseinandersetzung mit dem dramatischen Werken an. Auch weil sie so viel über die Schreibenden selbst und deren Zugang beispielsweise zu „Hamlet“ oder „Wie es euch gefällt“, zu den Königsdramen und zu den Komödien verraten.

„Im Keller erteilt die Geheime Staatspolizei
dem Kommunisten Hans Otto Gesangsunterricht
ICH BIN SCHAUSPIELER KEIN VOLK sagt Hamlet
Wenn Laertes politisch wird Er seinerseits
weiß wie man sich dreht und wendet im
Gespräch mit Mördern aus Liebe zur Kunst.“

Heiner Müller (1929-1995)

„So setzt sich das Gespräch mit Shakespeare wie in einer großen Echokammer fort und ließe sich wohl nur dann ganz unterbinden, wenn unsere Kultur zugleich ihre Verständigung über sich selbst jemals einstellen wollte.“

Und diese Verständigung sowie der Dialog mit dem Theatermann hält bis heute an – namhafte Autoren der Gegenwartsliteratur sind in „Wie er uns gefällt“ mit Gedichten vertreten, die erstmals veröffentlicht werden: Mirko Bonné, Nora Bossong, Heinrich Detering, Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Ursula Krechel, Friederike Mayröcker, Alexander Nitzberg, Albert Ostermaier und Marion Poschmann.

Thematisch sind die Gedichte nicht, wie es auf der Hand läge, um die einzelnen Stücke angeordnet, sondern um inhaltliche Komplexe: Beispielsweise rund um die Inspiration, die Shakespeare so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie dem Schweizer Autodidakten Ulrich Bräker (1735-1798), unserem deutschen „Dichterfürsten“ Goethe oder Vladimir Nabokov gab. Oder auch um die Welt, die eine Bühne ist, um Figur- und Maskenspiele sowie Spielräume und Vorstellungswelten. Zwei Einzelfiguren des Shakespear`schen Kosmos regten von jeher die Phantasie an – so sind denn auch Hamlet und Ophelia besondere Objekte dichterischer Begierden. und werden daher mit zwei eigenen Kapiteln beehrt.

„Ich Hamlet habe kaltes Blut.
Die Welt da draußen ist durchtrieben.
Doch tief im Innern ist noch Glut
für dich – Ophelia – geblieben,

für dich, vom kalten Blut verbannt
aus der durchtriebnen Welt. Verginge
ich – Prinz – im eignen Heimatland –
an einer giftgetränkten Klinge!“

Alexander Blok (1880 – 1921)

Informationen zum Buch:

Tobias Döring (Hrsg.)
Wie er uns gefällt
Manesse Verlag, 2014
ISBN: 978-3717540861

#MeinKlassiker (1): Petra und ihr zielstrebiger, rachsüchtiger Hamlet

Petra Gust-Kazakos musste als ausgesprochene Shakespeare-Anhängerin nicht lange überlegen: Ihr Klassiker ist natürlich der Hamlet.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Dass bei Petra Gust-Kazakos die Klassiker nie zu kurz kamen, stellte sie regelmäßig auf Philea`s Blog regelmäßig unter Beweis. Insbesondere hatte sie ein Herz für Reisende und britische Snobs – da passte ihr größter klassischer Held, den sie in der Reihe #MeinKlassiker vorstellte, gut ins Bild. Petra verlor im April 2020 den Kampf gegen den Krebs. Dieser Beitrag ist auch eine liebevolle Erinnerung an diese kluge, warmherzige Frau.

Petra Gust-Kazakos über ihren Klassiker:

Ich mache jetzt nicht das Fass auf, was ich unter einem Klassiker verstehe oder was man darunter verstehen sollte, ich gehe davon aus, dass das geneigte Lesepublikum von Birgit da selbst gewisse Kriterien zu im Sinn hat. Mein Klassiker ist natürlich nur ein Klassiker von vielen, aber von Shakespeare, einem meiner Favoriten. Außerdem verbinde ich mit Hamlet allerlei Geschichten, weswegen er irgendwie im Laufe von über 25 Jahren zu „meinem“ Klassiker wurde.

Hamlet lernte ich im Studium näher kennen. Die Geschichte ist ja weitgehend bekannt. Auch wenn man weder Original noch Übersetzung je las –  Sein oder Nichtsein, to be or not to be, Schlafen! womöglich zu träumen, etc. – das sind längst geflügelte Worte und Verfilmungen gibt es ja auch etliche.

Prinz Hamlet, Student in Wittenberg (hier witzelte mein Professor einst, in Anspielung auf die altersmäßig gelegentlich unpassenden Besetzungen: Ein ewiger Student), kehrt nach Dänemark zurück. Sein Vater ist tot, ermordet und dies wohl von Hamlets Onkel Claudius, der nun der neue König ist und überdies mit der Witwe tändelt, Gertrude sogar heiratet. Der Geist von Hamlets Vater klärt den Prinzen auf und fordert Rache. Und die will auch Hamlet.

Interessanterweise wurde die Tragödie in einer Interpretationslinie für besonders deutsch gehalten, Hamlet, der melancholische Träumer und große Zauderer – sein oder nicht sein, tu ich’s oder lass ich’s lieber … Das wurde politisch auf die Deutschen übertragen, die ihrerseits zu träge oder unentschlossen für eine Revolution wie die französische gewesen seien und irgendwie sei Hamlet da ganz deutsch. Mehr dazu hier: http://www.zeit.de/1964/18/deutschland-ist-hamlet-ii

Ich finde Hamlet eigentlich recht zielstrebig, wenn er auch nicht sofort auf sein Ziel losprescht, so entwickelt er doch einen Plan, um den Mörder seines Vaters zu überführen, geht dabei recht unbekümmert über Leichen, spielt den Narren, stellt sich dumm und alles nur der Rache wegen. Selbst seine Liebste, Ophelia, weiht er nicht ein und nimmt ihr Leid, ihren Tod damit implizit in Kauf. Und der Rest ist Schweigen.

Ein blutiges, rachsüchtiges mitleidloses Drama, bei dem es keine Sieger gibt. Die Wahrheit mag ans Licht gekommen sein, doch der Preis! Verrat, Mord, fast alle tot – meine Güte! Und dabei so spannend wie ein Pageturner.

Meine erste Hamlet-Verfilmung war die mit Mel Gibson, die ich gar nicht übel fand. Meine zweite eine russische, in der Hamlet irritierender-, aber logischerweise „Gamlet“ hieß. Die Sichtung der russischen Version geschah absichtslos. Eigentlich waren wir ins Kino gegangen, um die lang verschollene Othello-Version mit Orson Welles zu sehen, die allerdings an jenem Abend erneut verschollen ward, weswegen man dem Shakespeare-geneigten Publikum den Gamlet zeigte. Meine dritte Verfilmung war recht modern, statt um ein Königsreich ging es um einen Konzern, Ethan Hawke gab den Hamlet. Diese Fassung gefiel mir fast am besten, obwohl ich Modernisierungen eigentlich schon grandioser Stücke nicht immer nötig finde.

Die Tragödie im Original zu lesen, ist – wenn es möglich ist – ein Genuss. Den wollte ich auch meinem Liebsten aufschwatzen, doch ich hatte nicht bedacht, dass das elisabethanische Englisch von heute aus gesehen ein bisschen speziell ist. Mit dem Kommentar „zu viel thou, thee, thine“ erhielt ich meinen zerlesenen Hamlet zurück. Interessanterweise hatte mein Liebster mit den Filmen im englischen Original kein Problem. Aber Stücke zu lesen ist ja auch nicht jedermanns Fall, der ständige Wechsel – er so, sie so – das liest sich anfangs etwas stockender als ein Roman.

Diese und viele weitere persönliche Geschichtchen und Anekdötchen um diesen Klassiker haben Hamlet zu „meinem“ Klassiker gemacht.

Petra Gust-Kazakos

Mark Twain: Ist Shakespeare tot?

Seit jeher rätselt man, ob Shakespeare wirklich der Mann aus Stratford-on-Avon war. Mark Twain hat dazu natürlich eine ganz besondere Theorie.

Bild von ANThy auf Pixabay

„Als Shakespeare 1616 starb, verfügte die Londoner Welt über großartige literarische Produktionen, die ihm zugeschrieben wurden und die seit vierundzwanzig Jahren höchstes Ansehen genossen. Doch sein Tod war kein Ereignis. Er sorge nicht für Betroffenheit, er erregte keine Aufmerksamkeit.“

Mark Twain, „Ist Shakespeare tot?“


Heutzutage ist das anders: Von den wenigen biographischen Daten, die man von William Shakespeare hat, ist zumindest der Todestag gesichert: Der 23. April 1616. Und 400 Jahre danach gedenkt die Welt jenes Mannes aus Stratford-on-Avon mit allerhöchster Aufmerksamkeit. Aber im Grunde bräuchte es keine Jubiläen, um an den berühmtesten aller Dichter zu erinnern. Denn jede Minute wird – bewußt oder unbewußt – irgendwo auf der Welt ein Shakespeare-Zitat ausgesprochen, jeden Tag irgendwo auf dem Globus ein Shakespeare-Stück aufgeführt. Der Mann und sein Werk: Sie überstrahlen noch immer alles und alle.

Doch wer war Shakespeare? Seit jeher brodelt die Gerüchteküche: Dass einer aus einfachen Verhältnissen, ohne nennenswerte Bildung, ohne akademische Karriere, ohne die entsprechenden Verbindungen zum berühmtesten Dichter seiner und der nachfolgenden Zeiten aufsteigt – das befeuert die Phantasie. Shakespeare – also jener Shakespeare aus Stratford – so ist die überwiegende Meinung, war nicht Shakespeare, jedenfalls nicht der Mann, der „Romeo und Julia“, „Hamlet“ und „Der Sturm“ schrieb.

Vergnügliche Note im ewigen Shakespeare-Streit

Im Grunde ist es für mich zweitrangig, wer Shakespeare wirklich war, solange es diese wunderbaren Stücke gibt und sie immer wieder neu adaptiert und interpretiert werden. Die zeitweise erbittert geführten Debatten zwischen „Shakespearianern“ und „Baconisten“ sind in ihrem Ernst und in ihrer Absurdität streckenweise befremdlich. Und wer für Aufsehen sorgen will, kommt irgendwann mit einem neuen Shakespeare – beispielsweise de Vere – daher. Doch wenn schon spekulieren, dann wenigstens so vergnüglich, wie es nun in einem von Nikolaus Hansen übersetzten Text des bejahrten Mark Twain geschieht.

1909 veröffentlicht der amerikanische Schriftsteller und Satiriker ein schmales Buch: „Is Shakespeare dead?“ und bekennt frei heraus:

„Im Wir-nehmen-an-Handel machen drei separate und voneinander unabhängige Kulte miteinander Geschäfte. Zwei dieser Kulte sind unter den Namen Shakespearianer und Baconisten bekannt, und ich bin der dritte – der Brontosaurier. Der Shakespearianer weiß, dass Shakespeare der Verfasser von Shakespeares Werken ist. Der Baconist weiß, dass Francis Bacon ihr Verfasser ist; der Brontosaurier weiß nicht so genau, wer von beiden sie geschrieben hat, ist aber recht entspannt und zufrieden der festen Überzeugung, dass Shakespeare es nicht war, und er hegt die starke Vermutung, dass Bacon es war.“

Ganz so entspannt bleibt der alte Mark Twain – beim Verfassen des Textes immerhin schon 73 Jahre alt – jedoch im Verlaufe des Büchleins nicht. Die hauptsächliche These, auf die er sich als Beinahe-Baconist stürzt: Die Shakespeare-Dramen zeugen von einem profunden juristischen Wissen, das sich ein ungebildeter Geldmensch aus einem Kaff namens Stratford niemals habe aneignen können. Francis Bacon dagegen war, so Mark Twain, ein Universalgenie mit klassischer Bildung, ein strahlender Stern am Horizont. Sicher ist es zwar in seinen Augen nicht, dass Bacon Shakespeare war – aber so gut wie unmöglich, dass eben jener Shakespeare Shakespeare war.

Hauptsache jedoch, er war:

„Es hat nur einen Shakespeare gegeben. Zwei kann es nicht gegeben haben; schon gar nicht zwei zur selben Zeit. Es braucht Ewigkeiten, einen Shakespeare hervorzubringen, und weitere Ewigkeiten für einen, der ihm ebenbürtig ist. Diesem war niemand vor seiner Zeit ebenbürtig; und niemand in seiner Zeit; und niemand seither. Die Aussichten, jemand könnte ihm in unseren Zeiten ebenbürtig sein, sind nicht gerade rosig.“

Neue Erkenntnisse in Sachen Shakespeare-Detektei birgt dieser Text von Mark Twain dem Leser nicht. Auch war der Satiriker schon in besserer Form: Es gibt unterhaltsamere und bissigere Texte von ihm. Aber dennoch: Mark Twain ist Mark Twain, gerade auch wenn er über einen Shakespeare schreibt, der nicht Shakespeare war. Und so ist der schmale Band eine vergnügliche Lesestunden-Fußnote für alle Shakespeare-Fans und oder eben Liebhaber jenes Dramatikers, der wer auch immer war …


Bibliographische Angaben:

Mark Twain
Ist Shakespeare tot?
Übersetzt von Nikolaus Hansen
Piper Verlag, 2016
EAN 978-3-492-97407-3

Die mobile Version verlassen
%%footer%%