#MeinKlassiker (3): Ilse Aichinger – poetischer Widerstand gegen eine Sprache der Lüge

Literaturkritiker Michael Braun bezeichnet es als sein „Lebensbuch“, sein poetisches Evangelium: „Schlechte Wörter“ von Ilse Aichinger.

Bild von Peter H auf Pixabay

Unerwartet und viel zu früh verstarb im Dezember 2022 der Lyrikkritiker und Essayist Michael Braun. „Man kann behaupten, dass er Deutschlands wichtigster Lyrikkritiker war“, würdigte ihn Gregor Dotzauer in einem Nachruf. Ich bin sehr dankbar, dass Michael Braun auch hier in dieser Reihe über seinen Klassiker in seiner unnachahmlichen Weise geschrieben hat.

Mein Klassiker von Michael Braun:

Im Zeitalter der beschleunigten Kommunikationsprozesse und des universellen Kommentar-Gezappels auf Facebook und Twitter ist das Schweigen zum Störfall geworden. In der Dichtung von Ilse Aichinger ist das Schweigen jedoch „die Hauptsache“. „Ich habe eigentlich nach langer Zeit erkannt“, so hatte die Dichterin 1993 erklärt, „dass das Schweigen die Hauptsache ist. Ich bin für Langsamkeit, für Verschwiegenheit, dass man nur dann schreibt, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.“ Der Glaube daran, dass es notwendig ist, den Wörtern „die Lautlosigkeit zurückzugewinnen, aus der sie entstanden sind “ – das ist der Ausgangspunkt jeder substantiellen Poetik, das ist die Voraussetzung für einen gültigen Satz.

Mit Ilse Aichinger, am 1. November 1921 in Wien geboren, ist die letzte lebende Zeugin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur am 11. November 2016 gestorben. Über ihrem Leben lag früh eine Todesdrohung. Da sie nach den Kriterien der Nationalsozialisten als „Halbjüdin“ galt, wuchs sie in Wien unter schwierigsten Bedingungen auf, immer in Gefahr, von den neuen Machthabern nach 1938 deportiert und ermordet zu werden. Nur mit viel Glück überlebte sie mit ihrer Mutter, einer jüdischen Ärztin, die Barbarei. Vor ihren Augen wurde ihre Großmutter 1942 in Wien verschleppt und dann später im Vernichtungslager Minsk ermordet. Diese Erfahrung der fortdauernden Todesdrohung hat Ilse Aichinger das Sprachvertrauen geraubt.

Ihr Buch „Schlechte Wörter“, das erstmals 1976 erschien, ist zu meinem Lebensbuch geworden, zu meinem poetischen Evangelium. Es müsste zur Pflichtlektüre für alle literarisch Ambitionierten erklärt werden. Denn dem bewusstlosen, reflexhaften Gebrauch der Sprache, dem Herumfuchteln mit den instrumentalisierten, ideologisch verseuchten Wörtern wird hier der Boden entzogen. Ilse Aichingers Schreiben vollzieht den poetischen Widerstand gegen eine Sprache der Lüge, die stets dort beginnt, wo man sich den gefälligen Wörtern, den verführerischen Großbegriffen überlässt. Der Titeltext des Bandes „Schlechte Wörter“ beginnt daher mit einem Misstrauensvotum gegen die „besseren Wörter“: „Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Früher wäre mir da etwas ganz anderes eingefallen. Damit ist es jetzt genug. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Das reicht.“ In einem späteren Buch, dem „Journal des Verschwindens“ (in „Film und Verhängnis“, S. Fischer Verlag, 2001), deutete Aichinger an, sie wolle selbst eigentlich nicht existieren, sie wolle verschwinden. Sie möchte das nachvollziehen, was ihre Angehörigen unfreiwillig getan haben, als sie ermordet wurden. Schon in ihrem phänomenalen Aufzeichnungsbuch „Kleist, Moos, Fasane“ hatte sie 1985 ihren Weg vorgezeichnet: „Schreiben ist sterben lernen.“ Und: „Die Hölle himmelt mich ein.“

Michael Braun

Ilse Aichinger: Schlechte Wörter. S. Fischer Verlag (Fischer Taschenbuch), Frankfurt am Main 1976 ff. 112 Seiten, 5,95 Euro.

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