Octave Mirbeau: Diese verdammte Hand

Octave Mirbeaus Roman „Diese verdammte Hand“ ist ein zeitnahes Künstlerportrait des Vincent van Gogh. Eine wunderbare Wiederentdeckung.

Sternennacht über der Rhone, 1888. By Vincent van Gogh – Copied from an art book, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9478627

„Als ich eines Nachts keinen Schlaf finden konnte, öffnete ich das Fenster meines Zimmers, stützte die Ellbogen auf den Rahmen und betrachtete den Himmel über dem in Dunkelheit getauchten Garten. Der Himmel hatte die Farbe von Veilchen. Millionen von Sternen funkelten. Zum erstenmal wurde ich mir dieser gewaltigen Unendlichkeit bewußt, die ich mit den anrührenden Blicken eines Kindes zu ergründen suchte, und ich wurde davon förmlich erschlagen. »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume machte mich schaudern«; mir graute vor diesen so stummen Sternen, deren bleiches Flackern vor dem schauderhaften Geheimnis der Unermeßlichkeit zurückweicht, ohne es jemals zu erhellen.“

Octave Mirbeau, „Diese verdammte Hand“


Und immer wieder ist in diesem Roman vom Himmel die Rede. Eine Metapher für Unendlichkeit. Für Freiheit. Der Künstler als Himmelsstürmer. Der das Mysterium erfassen will und daran zerbricht. Himmelhochstrebend, zu Boden gedrückt. Der verblichene Ton eines blauen Kittels, ein „Fleckchen Aprilhimmel“, Gedanken, wie fliehende, rasende Bestien, chimärischen Vögeln am großen, unbeweglichen Himmel gleich, der Blick einer Stummen, „weit wie Himmel und tief wie ein Abgrund“.

Was man vielleicht aus eigener Erfahrung kennt – Sommernachmittage, an denen man stundenlang dem Zug der Wolken nachblickt und sich frei und luftig dabei fühlt, aber ebenso auch der bleigraue Winterhimmel, bedrückend schwer auf dem Gemüt lastend – dies alles empfinden die Protagonisten in Octave Mirbeaus (1848 bis 1917) Roman um ein Vielfaches potenziert. „Diese verdammte Hand“, sein vierter Roman, erschien in Fortsetzungen im „L`Écho de Paris“ vom September 1892 bis zum Mai 1893. Für die Leser dieser konservativen Tageszeitung sicher keine geringe Herausforderung, war doch Mirbeau mit dem Vorsatz angetreten, die Konventionen des Romans zu sprengen – ähnlich wie Lucien, die eigentliche Hauptfigur des Buches, in dem unschwer Vincent van Gogh zu erkennen ist, die Grenzen der Malerei sprengen wollte.

Zwei Erzählebenen miteinander verknüpft

Der Aufbau des Buches erforderte – zumal es jener Tage „nur“ in Fortsetzungen zu lesen war – Konzentration, führt Mirbeau doch zwei Erzählebenen ein, hält den Leser lange im Ungewissen, welche der drei Figuren die zentrale Rolle spielt. Zunächst tritt ein namensloser, wenig sympathischer Erzähler auf. Er besucht nach 15 Jahren widerwillig seinen Freund Georges, einen gescheiterten Schriftsteller, an dessen Wohnort, einer Abtei auf einer Bergspitze, die eigenwillig mitten in der flachen französischen Provinz alles überragt. Er trifft Georges am Leben verzweifelt und halb wahnsinnig an. Um seinen Geisteszustand zu erklären, übergibt Georges ihm sein Tagebuch: Das Protokoll einer Kindheit und Jugend, in deren Verlauf der sensible, körperlich schwache Georges beinahe an der Enge und Beschränktheit des Elternhauses, an der Strenge der Lehrer und Erwachsenen und an den Anforderungen des Alltags zerbricht. Erst die Bekanntschaft mit Lucien, der ihn nach Paris mitnimmt, bringt Georges eine Art von Befreiung. An der Seite des Malers wächst das Selbstbewusstsein des schüchternen George, erfährt er eine erste Liebelei und die Intensität der Gefühle.

Die „Himmelfahrt“ der beiden birgt jedoch auch ihre Schattenseiten. Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt ist vor allem der schwärmerische Lucien, der stets mit sich und den Grenzen der Kunst ringt:

„Aber präge dir ein, daß die Kunst nicht dem Zweck dient, einen mit der Nase auf etwas zu stoßen … Die Kunst dient nur dem Zweck, die unter den Dingen verborgene Schönheit zu suchen …“

Die Suche, an der Lucien letzten Endes zu scheitern glaubt, führt ihn, noch lange vor Georges, auf die einsame Bergspitze – hier, nah am Himmel, erhofft er, „die Wahrheit und Schönheit zu finden!“ Zu finden und in Bilder zu bannen – vielleicht ein vermessenes Anliegen?  Ein Ziel, an dem jeder Übersensible, der die Grenzen der Bodenhaftigkeit sprengen will, verzweifeln müsste? Lucien jedenfalls verfällt dem Wahnsinn: Sein größter Feind wird „diese verdammte Hand“, die seiner Auffassung nach nicht malen kann, was sein Auge sieht, sein Geist empfindet. Der Roman endet mit dem Tod Luciens, der beim Absägen der eigenen Hand verblutet.

Roman erschien nach dem Tod von Vincent van Gogh

Der Fortsetzungsroman erschien zwei Jahre nach dem Freitod van Goghs. Über die Art der psychischen Erkrankung dieses genialen Malers wird bis heute in der Fachwelt gestritten. Doch gleichwohl, wie man die Krankheit benennen mag: Mirbeaus Roman gibt als frühes literarisches Künstlerportrait eine Ahnung davon, welche furchtbaren inneren Erschütterungen van Gogh erlebt haben muss. Octave Mirbeau, wohl selbst ein faszinierender Mensch mit zahlreichen Facetten, kannte van Gogh, förderte ihn in seiner Funktion als Kunstkritiker und war einer der ersten Käufer seiner Bilder. Doch das Werk geht weit über ein Einzelportrait hinaus – es stellt die Frage, was Kunst vermag. Und damit stellt es im Grunde auch die universellen Fragen nach dem Wert der Schönheit und dem Sinn des Lebens.

Als der Schriftsteller „Diese verdammte Hand“ schrieb, befand er sich selbst, wie der Literaturwissenschaftler und Mirbeau-Experte Pierre Michel im Nachwort zu dieser Ausgabe schreibt, in einer existentiellen Krise, sah sich kreativ gescheitert und zur Unproduktivität verbannt. „Es ist kein Wunder, daß Diese verdammte Hand vom schwärzesten Pessimismus erfüllt ist.“ So ist Georges, der sensible Literat im Roman, wohl auch ein Selbstbildnis Mirbeaus. Und doch, so führt auch Pierre Michel an, gibt es trotz (oder gerade wegen?) der dem Buch innewohnenden Düsternis und Verzweiflung gute Gründe, es mit „Genuss“ zu lesen:

„Daß dieses Werk den Eindruck erweckt, nicht mehr »Kunst« zu sein, sondern »Leben«, wie Mirbeau über die Gemälde seines Freundes Claude Monet schreibt, ist darauf zurückzuführen, daß er es nicht überarbeitet, daß er es aus einem Guß geschrieben hat, ohne sich irgendeinem ästhetischen Maßstab zu unterwerfen. Nun, ist es nicht umso erstaunlicher, daß wir in dieser Geschichte, die von Verzweiflung gezeichnet ist, ein intensives Leben bewundern können, das »von Herrlichkeit erfüllt ist«?

Ein intensives Leseerlebnis

In seiner Intensität lässt dieses kurze Buch keinen unberührt. Und vor allem eines ist gewiss: Man wird sowohl den Himmel über dem eigenen Lesehorizont als auch den Himmel in van Goghs Bildern danach nochmals mit anderen Augen betrachten.

Mirbeau selbst kämpfte sich aus seiner Existenzkrise heraus, findet Sinn im „vita activa“, im sozialen und politischen Engagement. Der Schriftsteller, der auch von Leo Tolstoi bewundert wurde, wurde danach lange vergessen. Wer des Französischen mächtig ist, findet umfassende Informationen auf dem Blog von Pierre Michel: http://michelmirbeau.blogspot.de/

Und hierzulande macht sich der Weidle Verlag um die Erinnerung an Octave Mirbeau verdient.

2013 erschien dort der Reiseroman „628-E8”:
“Hier also das Tagebuch dieser Reise im Automobil durch einen Teil von Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland und vor allem durch einen Teil von mir selbst. Ist das aber wirklich ein Tagebuch? Ist das überhaupt eine Reise? Sind dies nicht eher Träume, Träumereien, Erinnerungen, Impressionen, Erzählungen, die zumeist überhaupt keinen Bezug, keine sichtbare Verbindung zu den besuchten Ländern haben, sondern ganz einfach in mir eine Figur, der ich begegnet bin, erstehen oder wiedererstehen lassen, eine flüchtig gesehene Landschaft, eine Stimme, die ich meinte im Wind singen oder weinen zu hören?”


Bibliographische Angaben:

Octave Mirbeau
Diese verdammte Hand
Übersetzt von Eva Scharenberg
Weidle Verlag, 2017
ISBN: 978-3-938803-84-4

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