John Steinbeck: Tortilla Flat

In der „Tortilla Flat“ leben Tagediebe und Lebenskünstler. John Steinbeck erzählt von einer tragisch-komischen „Tafelrunde“ im gesellschaftlichen Abseits.

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Es ist sicher nicht sein literarisch anspruchsvollstes Werk, aber mein heimlicher Favorit von John Steinbeck (1902-1968): Tortilla Flat. Zwar hatte der spätere Literaturnobelpreisträger schon zuvor einige Romane veröffentlicht, aber erst 1935 kam mit den Erzählungen über eine Handvoll Ritter von trauriger Gestalt der Durchbruch. Die Ritter-Assoziation kommt nicht von ungefähr: Steinbecks liebstes Jugendbuch handelte von den Geschichten rund um König Artur und seine Tafelrunde – und so finden sich die heldenhaften Vorbilder als weit weniger heroische Wiedergeburten zur Zeit nach dem 1. Weltkrieg im kalifornischen Monterey wieder. Aus König Artur wird der Veteran Danny, seine Tafelrunde besteht aus seinen Zechbrüdern Pablo, Pilon und Jesus Maria und die Heldentaten drehen sich eher um die Beschaffung von etwas Essbarem, der obligarotischen Gallone Wein (oder zweien oder dreien und gerne mehr davon) sowie um die Suche nach Streicheleinheiten und mehr bei den Damen.

Das Buch besteht aus 17 Kapiteln, kleine Erzählungen, die auch durchaus eigenständig gelesen werden können. 17 Kapitel, 17 Burlesken bis zum tragisch-komischen Finale. Damit spiegelt „Tortilla Flat“ auch die „Le Morte d’Arthur“ von 1485 wieder: Ein historisches Vorbild, das Steinbeck ab Ende der 1950er-Jahre in Neuenglisch übertrug. Veröffentlicht wurde dieses Buch jedoch erst nach seinem Tod: „The Acts of King Arthur and His Noble Knights, From the Winchester Manuscripts of Malory and Others“.

Wein, Weib und Gesang

Während König Artur Kettenhemd-starrend und steif sich in den Dienst edler Zwecke stellt, haben die literarischen Nachfahren damit wenig am Hut: Ihre Abenteuer handeln von Wein, Weib und Gesang. Auch wenn Steinbeck im Vorwort noch einen ganz erhabenen Ton anschlägt:

„Nein, wer von Dannys Haus spricht, meint die Einheit, deren Teile Menschen waren, von denen jugendliche Frische und Lebensfreude, Menschenliebe und schließlich eine mystische Trauer ausging. Denn Dannys Haus war König Arthurs Tafelrunde nicht unähnlich, und Dannys Freunde dürfen wohl mit ihren Rittern verglichen werden. Und unsere Geschichte erzählt, wie diese Gruppe ins Leben trat, wie sie erblühte und sich in Schönheit und Weisheit entfaltete. Sie handelt von den Abenteuern der Freunde Dannys, von dem Guten, das sie stifteten, von ihren Gedanken und ihrem Streben.“

Bei aller Schönheit und Weisheit darf nicht übersehen werden, dass Danny und Konsorten alles andere als Adelige und Ritter sind, sondern eigentlich zu den Ausgestoßenen gehören:

„Was ist ein Paisano? Eine Mischung aus spanischem, indianischem, mexikanischem und erlesenem kaukausischem Blut. Seine Vorfahren haben seit ein bis zwei Jahrhunderten in Kalifornien gelebt.“

Aber die Paisanos sind eben nicht in der amerikanischen Gesellschaft angekommen, stehen outside: Während der Ort Monterey vor allem von Fischern italienischer Herkunft besiedelt ist, denen es wirtschaftlich etwas besser geht als den eingesessenen Paisanos, leben diese in ihrer eigenen Siedlung, ihrer eigenen Welt, der „Tortilla Flat“. Tagediebe und Lebenskünstler, die sich mehr recht als schlecht durchschlagen. Das erzählt Steinbeck so unterhaltsam und liebevoll, dass einem die Außenseiter richtig vertraut werden.

Romantisierender Blick wurde kritisiert

In der späteren Rezeption erhielt der Schriftsteller für diesen etwas romantisierenden Blick auch sehr viel Kritik. Er habe mit diesem Buch dazu beigetragen, dass Bild des clownesken Mexikaner in der amerikanischen Öffentlichkeit zu prägen, lautete ein Vorwurf. Die Vorwürfe trafen Steinbeck schwer: Er hatte als Gelegenheits- und Wanderarbeiter die Lebensverhältnisse der Paisanos kennengelernt, unter anderem während eines Jobs in einer Zuckerfabrik viel auch von ehemaligen mexikanischen Strafgefangenen erfahren. 1945 griff er die Thematik in „Cannery Row“, eine Art Fortsetzung (deutscher Titel: Die Straße der Ölsardinen) wieder auf.

Eine andere Lesart könnte sich jedoch auch auf die Zeit, in der die Burlesken spielen, beziehen: Danny, die Hauptfigur, ist ein Kriegsveteran, der sich mit 25 Jahren freiwillig zur Armee meldet – „Als Danny dieses Alter erreicht hatte, wurde Krieg gegen Deutschland erklärt.“. Jahre später haben er und seine Freunde in der Heimat den Anschluss verpasst: Auch sie zählen gewissermaßen zu einer „lost generation“. Zurück aus dem Krieg wird Danny jedoch unvermittelt zum Hausbesitzer: Er erbt die beiden Bruchbuden seines Großvaters, vermietet davon eine zu einem symbolischen Wert von 15 Dollar an seinen Kumpel (wohlwissend, dass er dieses Geld nie sehen wird) und gelangt damit zu einer Art von gesellschaftlicher Reputation.

Tafelrunde voller Witz und Weisheit

Rund um die beiden Häuser drehen sich die Geschichten, dort spielen sich die kleinen Tragikomödien der „Tafelrunde“ ab, Dialoge voller Witz und ungewollter Weisheit. Diesen Ton trifft John Steinbeck so unnachahmlich gut, ironisch, lakonisch, ein wenig nostalgisch und so locker, dass sich die Burlesken allein dafür zu lesen lohnen. Und für diese Art der Lebensphilosophie darf man das Buch, trotz seiner Schwächen, loben.

Und sollte sich von der Lebenseinstellung eine große Scheibe abschneiden.
Siehe hier – die souveräne Art, wie Danny damit umgeht, dass seine Tafelrunde beim Gelage in der Nacht zuvor die Hälfte seiner Immobilien abfackelte:

„Als die Sonne sich über die Kiefern erhoben hatte, der Boden erwärmt war und der Morgentau auf den Geranienblättern trocknete, begab sich Danny auf die Veranda seines Häuschens und sann, in der Sonne sitzend, über verschiedene Ereignisse nach. Er zog die Schuhe aus und bewegte die Zehen auf den sonnengewärmten Planken. In einer früheren Morgenstunde war er unten gewesen und hatte den schwarzen Haufen Asche und geschmolzener Röhren besichtigt, der das einzige war, was von seinem zweiten Häuschen übriggeblieben. Er hatte sich ein wenig in den vorschriftsmäßigen Zorn über seine nachlässigen Freunde hineingesteigert und ein paar Augenblicke über die Unbeständigkeit alles irdischen Eigentums nachgedacht, die geistigen Besitz umso wertvoller macht. Einige Gedanken hatte er dem Verlust seines Ansehens als Besitzer eines Mietshauses gedwimet; und als die ganze Skala notwendiger und wohlanständiger Empfindungen durchlaufen und abgetan war, gab er sich zum Schluß seinem echten Gefühl hin: der Erleichterung, wenigstens die eine Last los zu sein.
Wenn das Häuschen noch dort stünde, dachte er, so würde ich nach der Miete trachten. Meine Freunde sind mir gegenüber kühl geworden, weil sie mir Geld schuldeten. Jetzt können wir wieder frei und glücklich miteinander sein.“

Die Botschaft des Buches ist einfach: Genieße das Leben. Aber das ist einem in der Literatur auch schon weitaus platter oder anstrengender vermittelt worden. Auf in die Tortilla Flat!

Kurz&knapp: Upton Sinclair, Theodore Dreiser und John Steinbeck

In den USA gibt es eine ausgeprägte Tradition engagierter Literatur: Schriftsteller, die von Präsidenten gerne auch als „muckraker“ beschimpft wurden.

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„Bis vor ein oder zwei Jahren waren auf den Schlachthöfen auch Pferde geschlachtet worden, angeblich zur Herstellung von Düngemitteln; aber nach langer Agitation hatte die Presse der Öffentlichkeit klarmachen können, dass die Pferde in die Fleischkonserven wanderten. Jetzt war es daher gesetzlich verboten, in Packingtown Pferde zu schlachten, und dieses Gesetz wurde sogar befolgt – jedenfalls vorläufig.“ 

Upton Sinclair, „Der Dschungel“, 1906


Eine große Zeit der politischen Romane in der amerikanischen Literatur gab es in den bewegten 1920er und 1930er Jahren. Insbesondere Sinclair Lews (1885-1951), der erste amerikanische Schriftsteller, der den Literaturnobelpreis erhielt, steht für diese Phase der kritischen Darstellung amerikanischer Gegenwart. Als Beispiele sind auf dem Blog zu finden „Main Street“ und „Babbitt“. Und drei weitere Autoren sowie ihre Romane, die die Welt ein wenig verändert haben (wenn auch oft nur kurz), sind unbedingt zu nennen.


Upton Sinclair

Upton Sinclair (1878-1968) landete 1906 mit seinem Debütroman “Der Dschungel” einen literarischen und politischen Sensationserfolg. Er verstand sich selbst als Enthüllungsjournalist, der mit seinen Texten Missstände offenlegen wollte. Für den Dschungel hatte er über Wochen hinweg in den Schlachthöfen Chicagos recherchiert – und war dort tatsächlich auf einen Dschungel gestoßen, in dem ein eigenes Gesetz gilt, in dem nur die Stärksten überleben. Sein Buch schildert schonungslos die menschenverachtenden Arbeitsmechanismen der Lebensmittelindustrie am Beispiel einer litauischen Familie, die an den Härten der Ausbeutung untergeht. 

Sinclair zeigt die Folgen eines gnadenlosen, nur auf Gewinn ausgerichteten Kapitalismus: Monopolisierung, Schieberei, Korruption, Zwangsprostitution, Ausbeutung, Armut, Umweltzerstörung. Das ganze Spektrum in einem Roman. Der Autor, der selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammte, wurde im Nachgang als „muckraker“, sprich Nestbeschmutzer angeprangert – man könnte das „muckraking“ fast schon als spezifische Stilart der nordamerikanischen Literatur bezeichnen: Auch John Steinbeck, Theodore Dreiser, John Reed und Dos Passos gehören mit zu dieser Klasse engagierter, linker, journalistisch geprägter Literaten. 

Neue Lebensmittelgesetze dank des Romans

Trotz der Diffamierungsversuche blieb das Buch nicht ohne Folgen: „Onkel Toms Hütte der Lohnsklaverei“ (Jack London) führte immerhin zu neuen Lebensmittelgesetzen. Sinclair war jedoch enttäuscht, dass die amerikanischen Bürger mehr an der Qualität der Konserve als am Schicksal der Arbeiter interessiert waren. „Ich zielte mit meinem Roman auf das Herz und das Gewissen der Amerikaner, aber ich traf nur ihren Magen“, beklagte er sich später….oder wie Brecht sagte: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral!“ 

Sinclairs Werke wurden in zahllose Sprachen übersetzt und gingen um die Welt. Eine Besprechung hier auf dem Blog gibt es zu „Boston“. In der Weimarer Republik war er einer der meistgelesenen Autoren. Stilistisch und literarisch gehören seine Romane nicht zur ersten Garde – Sinclairs Dschungel ist stark dort, wo er die Auswirkungen der Massenausbeutung auf einen seiner Protagonisten schildert. Das Buch ist aber auch streckenweise belehrend, detailversessen und trocken-mühsam: Die sozialistische „Erweckungspredigt“ mit fast schon biblischen Zügen wirkt etwas verstaubt.  


Theodore Dreiser

“The usual criticism of Dreiser is that, line for line, he’s the weakest of the great American novelists. And it’s true that he takes a pipe fitter’s approach to writing, joining workmanlike sentences one to the other. But by the end he will have built them into a powerful network, and something vital will be flowing through them.”

So lautete 2010 das Urteil von Richard Lacayo, der Dreisers “Eine amerikanische Tragödie” (1925) im „Time Magazine“ in die Liste der 100 besten englischsprachigen Romane aufnahm.

Stimmt: Ein Lesevergnügen ist dieser Wälzer nicht – vor allem, wer zuvor die Verfilmung mit Elizabeth Taylor und Montgomery Clift gesehen hat, der wird anhand der Dutzenden von Seiten, die von Erweckungspredigten und religiösem Eifer handeln, kapitulieren. Glamour ist was anderes. Und dennoch: So minutiös, wie Dreiser (1871 – 1945) den Aufstieg und Fall des jungen Clyde Griffiths, der schließlich auf dem elektrischen Stuhl endet, schildert, lässt einen das 800-Seiten-Buch nicht unberührt. Die Stärke des Romans liegt in seiner Gesamtheit: Ihn zu lesen, bedeutet Arbeit, doch das Ergebnis sind Figuren und Schicksale, die man nicht vergisst.

Das Scheitern des amerikanischen Traums

Die Story in der Kurzfassung: Clyde gelingt es, sich aus den Fängen des bigotten Vaters, der sich als Straßenprediger durchschlägt, zu befreien, in dem er zunächst Hoteljunge wird. Ein Leben immer am Rande von Armut und Kleinkriminalität. Durch Zufall trifft er auf einen reichen Verwandten, der ihm einen Job in seiner Fabrik vermittelt. Dort erfährt er zwar erstmals materielle Sicherheit, aber auch Ausgrenzung: Der Zugang zum “Geldadel” seines Onkels bleibt ihm verwehrt, bis sich ein Mädchen aus besseren Hause in ihn verliebt. Sein Aufstieg wäre perfekt, wäre da nicht die Arbeiterin Rosalie, die behauptet, von ihm schwanger zu sein. Clyde plant zwar, Rosalie umzubringen, tut es jedoch nicht – und wird dennoch (wegen anstehender Wahlen und dem Druck auf die Staatsanwaltschaft) zum Tode verurteilt. Ganz im Stil der französischen Naturalisten wie Zola und Balzac zeigt Dreiser an “der amerikanischen Tragödie” das Zusammenspiel des Dreigestirns “Sex, Geld und Macht” auf. Clyde Griffiths, so wird deutlich, hatte niemals eine wirkliche Chance, den amerikanischen Traum vom Tellerwäscher zum Millionär zu leben.

Eine ähnliche Geschichte von Aufstieg und Niedergang, allerdings mit einer weiblichen Hauptfigur, erzählt Dreiser in „Sister Carrie“. Dreiser war, trotz seines schwerfälligen und streckenweise moralinsauren Tons, auch in Europa und natürlich in der Sowjetunion ein vielgelesener Schriftsteller. Er stammte selbst aus einer Familie ähnlich jener seiner Hauptfigur Clyde – er war das zwölfte Kind in einer deutschen Einwandererfamilie, die unter Armut und der Bigotterie des Vaters litt. Das Schreiben bedeutete für ihn auch eine Befreiung aus diesen engen Verhältnissen.  


John Steinbeck

“Eine Minute lang saß Rose von Sharon still in der Scheune, auf deren Dach leise der Regen flüsterte. Sie ging langsam hinüber in die Ecke und blickte herab in das verwüstete Gesicht, in die großen angstvollen Augen. Und dann legte sie sich neben ihn. Er schüttelte müde den Kopf. Rose von Sharon lockerte ihre Decke an einer Seite und entblößte ihre Brust. “Du must”, sagte sie. Sie drängte sich dichter an ihn und zog seinen Kopf zu sich heran. “Komm, hier!” sagte sie. “So.” Sie schob ihre Hand hinter seinen Kopf und stützte ihn. Ihre Finger fuhren sanft durch sein Haar. Sie blickte auf und durch die Scheune, und ihre Lippen schlossen sich und lächelten geheimnisvoll.”

Das ist eines der literarischen Bilder, die man wohl nie vergisst: Die junge Frau, die eine Totgeburt erlitten hat und einen verhungernden Mann, einen Landstreicher wie sie, an ihrer Brust trinken lässt. Harter Tobak, mit dem John Steinbeck (1902 – 1968) seine “Früchte des Zorns” enden ließ. Man spürt in dieser Schlußszene förmlich, wie der Autor sein lesendes Publikum noch einmal packen und rütteln will: Schaut her, was bei uns im Lande geschieht.  

Grapes of Wrath erschien 1939

Der Roman entstand 1937/1938 und erschien unter dem Originaltitel “The Grapes of Wrath” 1939. Er erregte sofort Aufsehen, wurde in einigen amerikanischen Bundesstaaten verbrannt, in Kalifornien sogar zwischenzeitlich verboten, aber auch 1940 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und noch in diesem Jahr von John Ford erstklassig verfilmt. John Steinbeck kannte die Nöte der Wanderarbeiter aus eigener Erfahrung: Er hatte selbst in Kalifornien als Erntehelfer gearbeitet und die Not der Farmerfamilien, die in den Depressionsjahren ihr Hab und Gut verloren hatten und sich auf der Suche nach Arbeit auf Wanderschaft befanden, kennengelernt.

Passionsweg der Landarbeiter

In “Früchte des Zorns” schildert Steinbeck anhand der Familie Joad ein typisches Schicksal jener 1930er-Jahre: Schlechte Ernten, vor allem aber die drückende Kreditlast und die Unnachgiebigkeit der Banken führen dazu, dass die Familie ihre Farm in Oklahoma verliert. Kalifornien wird als das Paradies für Arbeitssuchende angepriesen – doch die Familie wird schon auf dem mühsamen Weg dorthin mit der Realität konfrontiert: Die landlosen Arbeiter werden ausgebeutet, kaum bezahlt oder um ihren Lohn geprellt, in den Schlaflagern ausgepresst und ausgenommen. Sie leben tatsächlich immer am Rande des Verhungerns. Steinbeck, der große Humanist, schildert diesen Passionsweg voller Anteilnahme für seine Figuren, zugleich aber auch mit dezidierter Kritik an den Verhältnissen.  

Wie “Der Dschungel” hatte auch “Früchte des Zorns” unmittelbare Auswirkung auf die amerikanische Gesetzgebung: Die beiden Romane wurden öffentlich so stark diskutiert, dass die Legislative folgen musste und jeweils die Rechte der Verbraucher und der Arbeiter stärkte. Die amerikanische Tragödie löste wieder einmal eine Diskussion um die Todesstrafe aus – ohne gravierende Folgen allerdings.

Zumindest kurzfristig konnten diese Bücher die Welt minimal verbessern – wenn man über eine “nachhaltige” Wirkung nachdenken würde, müsste man eigentlich verzweifeln.

John Steinbeck: Meine Reise mit Charley

Von einem, der auszog, sein eigenes Land wieder kennen zu lernen: Mit Pudel Charley im Gepäck erkundete John Steinbeck die USA zu Zeiten des Kalten Kriegs.

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„Dieses Monster von einem Land, diese mächtigste aller Nationen, dieses Keimbeet der Zukunft erweist sich als der Makrokosmos des Mikrokosmos meiner Person.“

John Steinbeck, „Meine Reise mit Charley“


Manchmal ist es vor der eigenen Haustür exotischer als in der Fremde. Nun ja, in den USA liegt zudem auch ziemlich viel vor der Haustür. Und deshalb fasste John Steinbeck (1902 – 1968) Anfang der 1960er-Jahre einen Plan.

„Mein Plan war klar, präzise und vernünftig, denke ich. Viele Jahre bin ich in allen Teilen der Welt gereist. In Amerika lebe ich in New York oder schaue kurz in Chicago oder San Francisco vorbei. Aber New York ist so wenig Amerika, wie Paris Frankreich ist. So entdeckte ich eines Tages, dass ich mein eigenes Land nicht mehr kannte.“

Von einem, der auszog, sein eigenes Land wieder kennen zu lernen. Davon erzählt „Die Reise mit Charley“. Und dass man von dem großen Linken der amerikanischen Literaten, dem Nobelpreisträger der „kleinen Leute“, keinen verklärenden Reisebericht erwarten darf, das ist vom Start an klar. Sein Blick auf das Land ist und bleibt kritisch: so kennt man ihn bereits aus seinem 1939 erschienenen Roman über die Ausbeutung der Landarbeiter, „Früchte des Zorns“, auch das gewissermaßen ein Reisebuch. So bitter, streckenweise melancholisch und resigniert der Erzählton in der Reise mit Charley jedoch klingt, wenn Steinbeck die Verhältnisse und Zustände schildert, mit soviel Wärme – wie man es auch aus der „Straße der Ölsardinen“ und „Von Mäusen und Menschen“ kennt – beschreibt er dagegen die  Begegnungen mit Bekanntschaften und Freunden, während er „on the road“ ist.

Von Long Island zum Pazifik

Es ist – so steht es auch im Untertitel – eine Suche, eine Reflexion über das eigene Verhältnis zum Heimatland, die Steinbeck bei seiner Fahrt von der West – an die Ostküste unternimmt. Diese Suche nach dem eigenen Standpunkt, vielleicht auch nach der eigenen Herkunft, den Wurzeln – unter anderem streift er auch seinen Heimatort Salinas – mag in der persönlichen Lebenssituation Steinbecks gelegen haben: Bereits 1954 erlitt er einen ersten Schlaganfall, 1959 erneut und diesmal auch ernsthafter. Eine Grenzerfahrung, die ihn auf die Straße führt. Im Herbst 1960 legt er mit einem zu einem Wohnmobil umgebauten Kleinlaster namens „Rosinante“ los, Reisebegleiter ist Pudel Charley, und fährt in drei Monaten von Long Island über Maine bis an die pazifische Küste und zurück nach New York.

Ein Land im Kalten Krieg mit sich selbst

„Auf der Suche nach Amerika“ findet Steinbeck ein Land in Erstarrung, wenn nicht gar im Niedergang. Steinbeck, auch schon in den 1960iger-Jahren ein engagierter Umweltschützer, geht menschlich mit den Menschen um, mit der Gesellschaft und Politik jedoch scharf ins Gericht. Eine Zustandsbeschreibung als Beispiel:

„Amerikanische Städte sind wie Dachsbauten: von Abfall umgeben – alle ohne Ausnahme -, umzingelt von Bergen rostender Autowracks und fast erstickt unter Müll. Alles, was wir brauchen, kommt in Kisten, Kartons, Behältern, der sogenannten Verpackung, die wir so lieben. Die Berge dessen, was wir wegwerfen, sind sehr viel größer als die der Dinge, die wir benutzen.“

Des Mülls zuviel, der Worte zuwenig – Amerika erstarrt in dieser Zeit im Kalten Krieg. Zwar werden die Begegnungen auf der Landstraße mit viel Humor beschrieben – köstlich ist der Dialog mit einem Farmer zu Chruschtschows berühmter „Schuh“-Rede bei der UNO. Doch deutlich wird daran auch, wie viel Kälte dieser Krieg nach Innen ausstrahlt. Politische Gespräche im Misstrauensmodus.

„Genau das sollte ich im ganzen Land finden – keine Argumente, keine Diskussion“, bedauert Steinbeck. Dagegen: Verunsicherung, Ängste, Hilflosigkeit – letztendlich auch dieses die Ursachen für den bitteren Hass, den Steinbeck in New Orleans erleben und beobachten muss. Er trifft dort ein, als ein kleines Mädchen von einem großen Polizeiaufgebot in eine Schule für Weiße eskortiert wird – auch heute noch verursachen die beschriebenen Szenen eines aufgebrachten Mobs aus gruseligen, überfütterten amerikanischen Frauen Kälteschauer.

Keine einfachen Wahrheiten

John Steinbeck durchstreift sein Land auf der Suche nach Wahrheiten – sein Fazit ist melancholisch:

„Wie schön wäre es, wenn ich über meine Reise mit Charley sagen könnte: `Ich bin ausgezogen, um die Wahrheit über mein Land zu finden, und ich habe sie gefunden.´ Wie leicht wäre es dann, meine Funde niederzuschreiben und mich bequem zurückzulehnen mit dem schönen Gefühl, Wahrheiten entdeckt und meinen Lesern mitgeteilt zu haben. Ich wünschte, es wäre so einfach.“

Zurück bleibt nach dem Lesen das Gefühl, eine einzigartige Reise mit einem wunderbaren Menschen und einem komischen Pudel miterlebt zu haben – und doch immer noch vor diesem großen, exotischen Rätsel namens Amerika zu stehen. Und dies macht das Buch auch heute noch, fünf Jahrzehnte später, über seinen literarischen Wert hinaus so lesenswert – vieles an dieser USA-Reise meint man auch heute noch so erleben zu können.

John Steinbeck und Robert Capa: Russische Reise

1948, als in den USA Anti-Kommunismus-Hysterie herrscht, unternehmen John Steinbeck und Robert Capa eine „Russische Reise“. Ein lesenswerter Zeitbericht.

Das Warenhaus Gum in Moskau. Bild von khazoff auf Pixabay

„Willy stellte uns die beiden hellgrünen Suissesses hin, und wir fingen eine Diskussion darüber an, was es in der Welt für einen ehrlichen und liberal denkenden Mann noch zu tun gäbe“.

John Steinbeck, „Russische Reise“


Ich hab zwar keinen grünen Schimmer, was ein Suissesse ist. Scheint aber ein extrem geistvolles Getränk zu sein. Denn John Steinbeck, der das in der Bar des Bedford Hotels in New York gemeinsam mit Robert Capa süffelt, kommt dabei auf eine Idee, die mancher seiner Zeitgenossen wohl auch als „Schnapsidee“ gewertet hat  – zusammen mit dem Fotoreporter eine „Russische Reise“ zu unternehmen. Auf Gegenliebe stießen die beiden dabei auf keiner Seite, behördlicher- und staatlicherseits.

„Wir stellten fest, daß Tausende an akuter Moskauitis litten – einem Zustand, der es erlaubt, jede Absurdität zu glauben und sämtliche Tatsachen beiseite zu schieben. Später stellten wir fest, daß die Russen unter Washingtonitis leiden – derselben Krankheit. Wir fanden heraus, daß uns die Russen ebenso verteufeln, wie wir die Russen verteufeln.“

Um Völkerverständigung zu betreiben, war das Jahr 1948 tatsächlich nicht der beste Zeitpunkt für das Vorhaben: Mit der Verkündigung der Truman-Doktrin am 12. März 1947 setzte der Kalte Krieg ein. In den USA wurde ab `47 hysterische Jagd nach Kommunisten getrieben (McCarthy-Ära), in der UdSSR herrschte der Stalinterror. Solche politischen Hintergründe lässt Steinbeck in seinem Reisebericht jedoch weitestgehend außen vor. Er und Capa haben ein Programm:

„…eine einfache Reportage, von Fotografien untermauert. Wir würden zusammenarbeiten. Wir würden Politik und heikle Themen vermeiden. Wir würden uns vom Kreml, von Militärs und Militärplänen fernhalten. Wir wollten das russische Volk kennenlernen, falls uns das möglich war.“

Darauf noch eine Suissesse, und los geht die Reise, 1948. John Steinbeck hatte 1937 bereits die Sowjetunion besucht, aufgrund seines Romans „Früchte des Zorns“ (für mich immer noch das beste, klarste und dezidierteste seiner Bücher) war er in seinem Heimatland unter „Linksverdacht“. Ebenso Robert Capa, Mitbegründer der Fotoagentur Magnum, der unter anderem vom Spanischen Bürgerkrieg berichtet hatte. Trotzdem werden sie in Moskau nicht nur mit offenen Armen empfangen. Dem Duo gelingt es jedoch, sich relativ frei zu bewegen – nur begleitet von einem Dolmetscher, der als ausgemachter Pechvogel und Trottel von ihnen den Spitznamen „Gremlin“ erhält, lernen sie Moskau, die Ukraine und Georgien kennen.

Steinbeck und Capra blicken hinter die Kulissen

Manches wirkt klischeehaft in diesem Reisebericht – das graue Moskau, die ernsten Moskowiter, die anpackenden, fleißigen Ukrainer, die wilden, stolzen Georgier. Manches wirkt auch naiv – das Lob des fleißigen Landmannes, der tagsüber auf der Kolchose schuftet und abends Tanzen geht, die üppig aussehende und kochende Babuschka. Doch John Steinbeck ist eben einer, der immer mit großen Respekt und mit viel menschlicher Wärme über die „einfachen“ Leute schreibt. Doch trotz des leichtgängigen Plaudertons, mit dem Steinbeck von Land & Leuten berichtet und über seinen Reisegefährten frozzelt (ein „typischer“ Fotograf, getrieben von der Jagd nach Motiven und die Sorge um seine Negative, ansonsten stundenlang in der Badewanne treibend), Steinbeck und Capra singen nicht nur das Lied vom glücklichen Aufgehen im Kollektiv. Der zum Teil absurde Bürokratismus, die ständige Bewachung durch Polizisten, vor allem aber auch der Stalinkult werden durchaus benannt.

„Bei öffentlichen Feiern sprengen die Stalinbilder alle Grenzen der Vernunft. Sie können bis zu acht Stockwerke hoch und fünfzig Fuß breit sein. An jedem öffentlichen Gebäude hängen monströse Portraits von ihm.
Wir sprachen darüber mit einigen Russen und bekamen verschiedene Antworten. (…). Eine vierte, daß dies Stalin selbst gar nicht gefällt und er verlangt hat, daß damit aufgehört wird. Doch uns kam es so vor, als würde alles, wogegen Stalin eine Abneigung gefaßt hat, umgehend verschwinden, die Bilder sich hingegen vermehren.“

Eine tiefgehende Analyse und deutlichere Kritik am Stalinismus, während dem Abertausende in den Gulags verschwanden, bietet die Reportage jedoch nicht. Dies darf man von der „Russischen Reise“ nicht erwarten – sie ist, was sie ist: Der Versuch, mit Humor und Ironie die Lebensverhältnisse der Bevölkerung darzustellen. Wo das Wort zuweilen zu spielerisch wird, sprechen Robert Capas Bilder eine umso klarere Sprache.

John Steinbeck zieht im letzten Absatz des Berichts eine durchaus auch selbstkritische Bilanz:

„Uns ist klar, daß dieser Bericht weder für die ekklesiastische Linke noch für die grobschlächtige Rechte besonders befriedigend ist. Erstere wird sagen, er sei antirussisch, und die zweite, daß er prorussisch sei. Ganz bestimmt ist er oberflächlich, und wie könnte er das nicht sein? Es gibt keine Schlußfolgerungen, die man ziehen könnte, außer jenen, daß sich das russische Volk nicht wesentlich von den anderen Völkern dieser Welt unterscheidet. Ganz bestimmt gibt es einige Bösewichte darunter, aber die weitaus meisten sind sehr anständige Menschen.“

Lesenswerter Zeitbericht

Lesenswert als Zeitbericht und unterhaltsam ist die „Russische Reise“ allemal, auch wenn sie, nicht ganz ohne Grund (und nicht nur wegen der politischen Umstände), das Buch Steinbecks blieb, das sich am schlechtesten verkaufte. Der Reisebericht erschien 2011 erstmals in deutscher Übersetzung (Susanne Urban) in der Reihe „Weltlese – Lesereisen ins Unbekannte“, die bei der Edition Büchergilde von Ilija Trojanow  herausgegeben wird.

Robert Capa kam 1954 in Indochina ums Leben. Steinbeck ging Jahre später wieder auf eine ähnliche Reise mit dem Ziel, das Leben der „normalen“ Menschen kennenzulernen: Diesmal in seinem eigenen Heimatland. Und statt des Fotografen in Begleitung eines Pudels: „Meine Reise mit Charley“.


Bibliographische Angaben:

John Steinbeck/Robert Capa
Russische Reise
Übersetzt von Susanne Urban
Edition Büchergilde, 2011
ISBN: 978-3940111845

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

Das mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Buch konnte mich nicht überzeugen. Denn die Grenze zum Kitsch ist manchmal schnell überschritten.

Fluchtpunkt Saint-Malo – im Roman ein wenig Licht am Ende des Tunnels. Bild von Lulu35 auf Pixabay

Ich nenne es eine Pulitzer-Preis-Verschwörung: Es muss in der Jury in den vergangenen Jahren insgeheim die Entscheidung gefallen sein, im Bereich Belletristik vor allem Bücher auszuzeichnen, die durch ihr Volumen bestechen. Seitenmasse vor literarischer Klasse. Nun haben sie wieder zugeschlagen, die Liebhaber des dicken Buches – die jüngste Auszeichnung ging an Anthony Doerr, dessen Roman bei C. H. Beck in deutscher Übersetzung vorliegt: „Alles Licht, das wir nicht sehen“.

Kein Aha-Erlebnis trotz Pulitzer-Preis

Ähnlich wie die zuvor preisgekrönten Werke – Donna Tartts „Distelfink und Adam Johnsons „geraubter Waise“ – hat dieser Roman für mich vor allem ein großes Defizit: Die Geschichte zerfleddert, hat ihre Längen, nimmt mich über die lange Strecke hinweg gesehen nicht bis zum Ende hin mit. Ebenso wie seine Pulitzer-Vorgänger ist dieser Roman stilistisch überwiegend durchaus gut, wenn auch konventionell erzählt, hat eine außergewöhnliche Geschichte im Mittelpunkt, ist thematisch also zunächst fesselnd…aber sie zerläuft im Sande an der Küste bei Saint Malo.

In nicht wenigen Rezensionen wird die poetische Sprache des Buches gewürdigt – für mich hangelte sich der Autor da nah an der Grenze zum Kitsch-Verdacht entlang. Ein Eindruck, den auch Hans-Peter Kunisch, der das Buch in der Süddeutschen Zeitung auseinandernahm, hatte:

„Erblinden ist eine Entdeckung der Unsicherheit: „(. . .) ihre Finger sind zu groß, immer zu groß. Was ist Blindheit? Wo eine Mauer sein sollte, greifen ihre Hände ins Leere. Wo nichts sein sollte, läuft sie gegen einen Tisch. Autos brummen durch die Straßen, Blätter flüstern am Himmel, Blut rauscht durchs Innenohr.“ Kurze, aber emotionsgeladen lyrische Sätze mit Human Touch setzen den Grundton. Doch je dicker ein Autor aufträgt, desto näher liegt die Grenze zum Kitsch. Doerr, der gern Flugblätter und Landschaften poetisch verzaubert („ein Morgen Ende Februar, die Luft duftet nach Regen und Ruhe“), setzt auf einfühlsames Pathos. Bei Marie-Laure trägt das noch am ehesten. In Untiefen aber gerät seine Sprache, wenn sie Werners Erziehung in der Napola schildert. Doerr legt auch hier viel Emphase in Atmosphäre und Charaktere. Aber statt der märchenhaften Zerbrechlichkeit um Marie-Laure entsteht, als saftiger Kontrast, ein übler Schauerroman.“

Zudem lässt sich an den drei genannten Büchern eines festmachen: Sie treffen vor allem den Zeitgeist. Spielt der Distelfink durch sein Ausgangsszenario mit den Terrorängsten der US-Amerikaner, nimmt Adam Johnson den mystischen Erzfeind der USA, Nordkorea, ins Visier. Doerrs Roman über eine Geschichte zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges kommt zum richtigen Zeitpunkt, da die Welt dieser Katastrophe mit symbolträchtigen Jubiläumsereignissen gedenkt.

Literarische Konfektionsware

Ich muss zugeben: Für mich sind die Auszeichnungen der 2010er-Jahre, Jennifer Egan ausgenommen, bislang eher enttäuschend. Literarische Konfektionsware. Die Fähigkeit, eine Geschichte stringent voranzutreiben, einfach und knallhart zu erzählen, die Kunst der Beschränkung auf das Wesentliche – sie sind verloren gegangen. Wurden geopfert auf dem Altar der ausufernden Erzählweise. Pulitzer-Preisträger früherer Jahre wie Steinbeck, Faulkner, Sinclair – sie besuchten die Schule des Lebens. Die Pulitzer-Preisträger unserer Tage studieren kreatives Schreiben. Vielleicht macht das den Unterschied.

Informationen zum Buch:

Anthony Doerr
Alles Licht, das wir nicht sehen
Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
C.H.Beck Verlag, 2015
ISBN: 978-3-406-68063-2

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