Kurt Tucholsky: Rheinsberg und Schloß Gripsholm

„Rheinsberg“ und „Schloß Gripsholm“ – zwei so heitere Bücher vor düsterer Kulisse. Die zeigen, wie modern (auch der heitere) Kurt Tucholsky immer noch ist.

Schloß Gripsholm. Bild von falco auf Pixabay

Drahtetsofortobhiesigenmälarsee-
zwecksbewässerungkäuflicherwerben-
wolltwassergarantiertechtallerdingsnur-
zuschwimmzweckengeeignetfasthoch-
achtungsvollfritzchenundkarlchenwasser-
oberkommissäre.

Kurt Tucholsky, „Schloß Gripsholm“, 1931.

Noch einmal den Sommer festhalten, bevor er geht. Geht das denn?
War er denn groß, dieser Sommer? Am Thermometer gemessen wohl schon.
Aber trotz der blendenden Helligkeit. Er war auch: Düster, dieser Sommer. Ein politisches Klima, das seine Schatten vor die grelle Sonne schob. Die Furcht vor einem Gewitter ist da, die Angst, dass sich finstre Zeiten wiederholen.

Einer, der gegen dieses „dunkle Deutschland“ anschrieb, immer wieder, am Ende doch nicht vergebens? Kurt Tucholsky. Wie haben Sie das gemacht? Das möchte ich ihn gern fragen. Wie haben Sie es geschafft, als es um ihre Heimat nicht gut stand, als sie selbst schon am Leben verzweifelt waren, noch einmal so ein beinahe heiteres Sommerbild zu entwerfen, so sommerlich-luftig-leicht gegen den Irrsinn anzuschreiben, ganz keck ein anderes Lebensgefühl hervorzurufen?

Ich bewundere ihn dafür, diesen bekennenden Pessimisten und scharfen Satiriker, der letzten Endes an einer unheilbaren, einseitigen, wechselvollen Liebe zerbrach: Der Liebe zu seiner Heimat. In seiner Art des Schreibens und Denkens erinnert mich Tucholsky, der hellsichtig früh dieses Land verließ, an einen anderen berühmten Exilanten: „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ – obwohl meist im falschen Kontext zitiert, sprechen auch diese Zeilen von einer Bindung an das Mutterland, die in der Ferne nur durch Ironie noch bewältigt werden kann. „Deutschland, Deutschland über alles.“

Selbst als es Tucholsky politisch wie privat dreckig ging, als es, wie er schrieb, „innen weinte“, legte er noch einmal eine der zauberhaftesten Liebesgeschichten vor, die sich heute noch so frisch liest, dass ich sofort die Koffer packen möchte. Weil sie dort anfängt…

„Und dann hielt das Auto da, wo alle bessern Geschichten anfangen: Am Bahnhof.“

Die Geschichte führt den Erzähler, „den Dicken“ nach Schweden, mit einer Prinzessin, „sie hatte eine Altstimme und hieß Lydia.“ 1929 hatte Tucholsky einige Zeit mit seiner Geliebten Lisa Matthias in Läggesta bei Schloß Gripsholm verbracht, im Januar 1930 verlegt er seinen Wohnsitz vollständig nach Schweden, „mehr eine Flucht als die alte Sehnsucht“ nach dem Norden, wie Rolf Hosfeld in seiner hervorragenden Biographie „Tucholsky. Ein deutsches Leben“ schreibt.

Doch auch wenn „der Dicke“ das Buch Lisa mit dem Satz „Für IA 47 407“ (ihr Autokennzeichen) widmet – in dieser Altstimmen-Frauengestalt ist mehr als eine Frau vereint. Die Trennung von seiner Ehefrau Mary Gerold ist noch frisch, die an den Nerven zerrende zu Lisa liegt schon in ihren letzten Zügen. Eine on- und off-Liebe. Lisa ist es, die den Schalter vollends kippt und sich aus seinem Leben löscht. Und dann schwingt in dieser selbstbewußten „Prinzessin“ auch noch eine gute Portion Else Weil, Tucholskys erste Ehefrau, mit, jene Else, die auch als „Claire“ in „Rheinsberg“ schon verewigt wurde. Hosfeld schreibt über die „Prinzessin“:

„Aber als Person ist sie eher eine unintellektuelle Wunschsynthese aus Else Weil, Lisa Matthias und Mary Gerold, also gewissermaßen eine pflegsame Madame 3 PS. Wie schön, wenn eine solche Frau für den Mann mit den 5 PS und den unterschiedlichsten Modulationen seines komplexen Charakters auch in Wirklichkeit existiert hätte. Es gab bei Rowohlt, auch aus Geschäftsgründen, ein Bedürfnis nach leichten Tönen aus seiner Feder. Es gab sie auch bei Tucholsky. In dunklen Zeiten ist der Konjunktiv ein Trost. Wie es sein könnte. Es könnte leicht sein.“

So ist „Schloß Gripsholm“ auch eine Beschwörung. Doch: „Vorbei, verweht, nie wieder…“. Als das Buch, geschrieben 1930, herauskommt, befindet sich Tucholsky bereits in diesem „heimatlosen Alleinsein“, das ihn dann gänzlich zerbricht. Und: Im Gegensatz zu „Rheinsberg“, jenem „Bilderbuch für Verliebte“, mit dem Tucholsky 1912 die literarische Bühne betrat (und das auf Anhieb zum Skandal und zum Erfolg wurde), pinselt der Schriftsteller zwanzig Jahre später ein Urlaubsidyll mit weitaus dunkleren Strichen. Die „kleine Sommergeschichte“, die der Autor in einem fiktiven Briefwechsel seinem Verleger Ernst Rowohlt ankündigt, hat eine zweite Ebene, hat ihre Schatten:

„Wir lagen auf der Wiese und baumelten mit der Seele. Der Himmel war weiß gefleckt; wenn man von der Sonne recht schön angebraten war, kam eine Wolke, ein leichter Wind lief daher und es wurde ein wenig kühl.“

Da ist auf der einen Seite diese zwanglose, freie Liebe zwischen zwei Menschen, denen die liberale und tolerante Denkweise aus jeder Pore sprüht, angeheizt durch gelegentliche Ferienbesucher, die das Ganz noch erotisch aufprickeln bis hin zur Menage à trois. Und auf der anderen Seite ist jener zweite Erzählstrang von der kleinen Halbwaise Ada, die von der Leiterin eines Kinderheims schikaniert wird. Eine machthungrige, verkniffene, autoritäre Megäre. Und ganz bewusst eine Deutsche: Tucholsky zeichnet sie als Typ, sie ist Sinnbild jener rechtsnationalen Kräfte, die in seiner Heimat die Weimarer Republik aushöhlen. Im Roman siegt „der Dicke“, entreißt das Kind den Klauen der Macht. Im Leben ging es anders aus.

„Sie kam sich sehr einmalig vor, die Frau Adriani. Und hatte doch viele Geschwister.“

Der Skandal an diesem Buch liegt für die Nazis mehr in dieser politischen Komponente (auch der Wendriner, Abbild des patriotischen Spießbürgers findet seine Erwähnung) als in der herrlich sinnlichen Liebesgeschichte, die zudem ohne drastische und intime Details auskommt – und dennoch erotischer und lebendiger ist als viele weit offenere Liebesromane danach.
Zwanzig Jahre früher war das noch anders: Als „Rheinsberg“ 1912 erscheint, löst das Debüt des jungen Autoren einen Skandal aus: Ein unverheiratetes Paar geht in die Sommerfrische und nächtigt in einem Zimmer – undenkbar in der prüden wilhelminischen Gesellschaft.

Aber da kam eine alte Dame an ihrem Tisch vorübergeschlurcht, schielte krumm und murmelte etwas von „unerhört“ und „Person“ und so.

„Wölfchen, die meint mir. Konnste ihr nicht gefordert gehabt habs?“

„Rheinsberg“ ist nun in der schönen Reihe C.H.Beck textura wieder aufgelegt worden. Antje Rávic Strubel stellt in ihrem Nachwort die Erzählung in den zeitlichen Kontext:
„1912 war das Jahr, in dem Albert Einstein die Allgemeine Relativitätstheorie entwickelte, Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ erschien, und der letzte große Roman Hjalmar Söderbergs „Das ernsthafte Spiel“. Drei Jahre zuvor hatte mit Selma Lagerlöf die erste Frau in der Geschichte den Literaturnobelpreis erhalten. Aber 1912 war auch das Jahr, in dem die Titanic sank, Robert Scotts Südpolexpedition tödlich endete und Europa nach der Marokko-Krise noch einem knapp einem Weltkrieg entging. Der Wilhelminische Staat militarisierte sich, das Kleinbürgertum verspießerte unter moralischen Tabus und einer strengen, patriarchalischen Sexualdoktrin, ein neuer Nationalismus flammte auf, und Vatikan und Kaiser hatten das Tangotanzen unter Strafe gestellt.“

„Rheinsberg“ mit seinen spritzigen Dialogen, den kleinen Albernheiten der Verliebten, der Verballhornung der Dialekte war noch die relativ freie Fingerübung eines noch relativ unbeschwerten jungen Mannes. Die Vorübung für „Schloß Gripsholm“. In diesem Roman lauert bereits die Sehnsucht nach dem Vergangenen, nach der verlorenen Leichtigkeit. Er atmet auch das Bewußtsein, dass sich der Schreibende selbst in einer fünften Jahreszeit befindet:

Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles. Es geht wie ein Knack durch die Luft – es ist etwas geschehen; so lange hat sich der Kubus noch gehalten, er hat geschwankt … , na … na … , und nun ist er auf die andere Seite gefallen. Noch ist alles wie gestern: die Blätter, die Bäume, die Sträucher … aber nun ist alles anders. Das Licht ist hell, Spinnenfäden schwimmen durch die Luft, alles hat sich einen Ruck gegeben, dahin der Zauber, der Bann ist gebrochen – nun geht es in einen klaren Herbst. Wie viele hast du? Dies ist einer davon. Das Wunder hat vielleicht vier Tage gedauert oder fünf, und du hast gewünscht, es solle nie, nie aufhören. Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden – es ist nicht der Johannistrieb, es ist etwas andres. Es ist: optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes. Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne Zeit im Jahre.

Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit.

Kurt Tucholsky schreibt dies alias Kaspar Hauser bereits 1929 in der Weltbühne (hier der Text in voller Länge).

„Schloß Gripsholm“, auf Anhieb ein Publikumserfolg, bleibt sein letztes Buch. Als Journalist focht er noch mit Carl von Ossietzky für die freie Meinungsäußerung in der Weltbühne. Mehr und mehr desillusioniert, verstummt Tucholsky nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Am 21. Dezember 1935 stirbt er in einem schwedischen Krankenhaus an einer Überdosis Veronal, vermischt mit Alkohol. Ob Unfall oder Suizid, ist ungewiss, einen Abschiedsbrief hinterlässt er nicht. Er war des Kämpfens müde geworden, innerlich zerrissen, aus dem Deutsch- und dem Judentum ausgetreten, ein wahrhaft Heimatloser. Das Schlimmste blieb ihm durch den frühen Tod erspart: 1942 stirbt Else Weil, seine erste Frau, jene selbstbewußte, emanzipierte „Claire“ aus „Rheinsberg“ im KZ Auschwitz-Birkenau, von den Nazis ermordet. Carl von Ossietzky stirbt 1938, entkräftet, an den Folgen seiner KZ-Inhaftierung.

Was aber bleibt: Dennoch das Bild eines Kämpfers für ein tolerantes, weltoffenes, demokratisches Deutschland. Ein Traum von einem Land, in dem die Liebe nicht nach Schweden auswandern muss. Tucholsky wollte, so Kästner, mit der „Schreibmaschine eine Katastrophe“ aufhalten, führte ein großes kleines Gespräch mit ungewissem Ausgang.

Und jetzt? Ach, „Dicker“, du wirst vermisst. Deine Stimme würde gebraucht. Wieder.

Noch mehr zu Kurt Tucholsky auf diesem Blog:

Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles

Tucholsky war begeistert vom Medium der Photographie. 1929 veröffentlichte er seinen „Bildband“, eine satirische Liebeserklärung an Deutschland.

Bild: (c) Michael Flötotto

„Ein Bild sagt mehr als viele Worte“: Tucholsky war schon früh begeistert von dem Medium der Photographie als Mittel des Ausdrucks und der Satire. 1929 verwirklichte er das Vorhaben eines „Bildbandes“, aber Tucholsky wäre eben nicht Tucholsky gewesen, wäre dies ein „Photoalbum, das man auf den Geburtstagstisch legt“. 1929 erschien „Deutschland, Deutschland über alles“: Ein Bild-Text-Band, beinahe schon ein kleines Kompendium über den Zustand der Weimarer Republik, ätzend scharf, bissig, satirisch, anklagend und anprangernd, aber auch eine Liebeserklärung an die Heimat.

Beginnen wir mit der Liebeserklärung, die Tucholsky an das Ende seines Buches gestellt hat:

„Nun haben wir auf 225 Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja-: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland. Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen. Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie – warum nicht eins von den andern Ländern? Es gibt so schöne. Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache – wir sagen „Sie“ zum Boden; wir bewundern ihn, wir schätzen ihn – aber es ist nicht das.“

Dies schreibt Tucholsky, der selbst ab 1924 die meiste Zeit im Ausland verbrachte. „Deutschland, Deutschland über alles“ entstand, als Schweden bereits mehr und mehr zur Wahlheimat geworden war. Und doch formuliert der Autor:

„Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt…nein, wer gar nichts andres spürt, als daß er zu Hause ist; daß das mein Land ist, sein Berg, sein See – auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt…es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land.“

Tatsächlich war Tucholsky zu jener Zeit jedoch schon verzweifelt an dieser Liebe, verzweifelt vor allem an der Politik dieses Landes. Der Mann, der laut Erich Kästner „mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte“, begann zu resignieren – angesichts des jahrelangen vergeblichen Eintretens für eine Demokratisierung, gegen Militarismus und Despotie. Vom Prozess gegen Carl von Ossietzky – „Weltbühnen-Prozess“ – blieb auch Tucholsky nicht unberührt, auch gegen ihn wurde ermittelt, sein berühmtes Zitat „Soldaten sind Mörder“ von Ossietzky zugeschoben. „Deutschland, Deutschland über alles“ erscheint aus diesem Zusammenhang beinahe wie ein letztes Aufbäumen in einem bereits verlorenen Kampf.

Nun, was ist das für ein Buch, das an der Auflage gemessen, Tucholskys größter Bucherfolg werden sollte? Das der Börsenverein vor Erscheinen noch mit allen Mitteln verhindern wollte? Dessen Startauflage mit 15.000 Stück (aus der Tucholsky-Biographie von Rolf Hosfeld) sofort vergriffen war? Das Mitte 1930 die dritte Auflage mit 50.000 erreichte – auch für jene „belesene“ Zeiten eine ungeheure Zahl?

Zunächst hatte der Schriftsteller die Idee, das Wort durch die Macht des Bildes zu verstärken. Für die Zusammenarbeit gewann Tucholsky den Grafiker John Heartfield, der für den Malik-Verlag und die Arbeiter-Illustrierte in Berlin arbeitete. Tucholsky wollte aufklärerische und agitatorische Fotografie, ergänzt durch seine, größtenteils schon vorab in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Texte. Es entstand eine hochpolitische Satire, ein ganz neuer Buchtyp.

Ein Zitat aus Kindlers Neuem Literaturlexikon:

„Es ging Tucholsky im Jahr der Weltwirtschaftskrise mit seinem Deutschland-Buch um eine möglichst wirkungsvolle Beeinflussung von Wählermassen: gegen deutschen Militarismus, gegen soziales Unrecht und Klassenjustiz, gegen neuen deutschen Chauvinismus sowie gegen unfähige „Realpolitiker“ aller Couleur. Tucholskys Engagement in humanistischen, sozialistischen und pazifistischen Organisationen, das ihn vorübergehend sogar seine tiefe Abneigung gegen Gruppen und Vereine Überwinden ließ, genügten dem erfolgreichen, um politische Wirkung bemühten Publizisten nicht länger. Anders als „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“ sollte sein neues „Bilderbuch“ nicht amüsieren, sondern jenes Deutschland zur Besinnung rufen, das am Fließband stand, im Kaufhaus arbeitete oder an der Schreibmaschine saß. (…) Der in einer bald schon vergriffenen Startauflage von 20.000 Exemplaren gedruckte Band war das politische Resümee eines sensiblen Individualisten und radikalen Intellektuellen, der sich bewußt an die Seite der Unterprivilegierten, Rechtlosen und Ausgebeuteten gestellt hatte. Als kommunistische Funktionäre an ihm den Bürger und Schöngeist kritisierten, konterte Tucholsky: „Besser ein Anzug nach Maß als eine Gesinnung von der Stange.“ (…)

„Deutschland, Deutschland über alles“ ist ein provokantes Album zur Weimarer Republik. Als Motto ist dem Band der Satz aus Hölderins „Hyperion“ „So kam ich unter die Deutschen“ vorangestellt. Einzigartig in der deutschen Literatur zwischen den Weltkriegen ist an Tucholskys Deutschland-Buch einerseits das Niveau der einzelnen Texte, von denen viele bis heute nichts an politischer Brisanz verloren haben, andererseits die Vielfalt der literarischen Formen, neben zwanzig Gedichten und Chansons („Aussperrung“; „Start“) pointierte Bildunterschriften („Demokratie“) und provokante Fotostories („Statistik“; „Nie allein“). Charakteristisch sind für Tucholsky (zum Teil umgangssprachliche) Monologe und Gespräche („Herr Wendriner kauft ein“; Ich bin ein Mörder“), ein Dramolett zur deutschen Justiz („Wiederaufnahme“) sowie Aphorismen, Parodien und Parabeln („Feuerwehr“); der Band enthält Satire in Vers und Prosa („Götzen der Maigoto-Neger“), dazu klassische Feuilletons („Treptow“), kulturkritische Essays (zu Alltagskultur und Architektur), Polemiken, Reportagen, Rezensionen und Theaterberichte („Der Linksdenker“).“

Aus: Kindlers Neues Literaturlexikon

Der „politische Baedeker“ zu Lage von Staat und Nation greift allerdings auch Alltagsdinge auf, räsoniert wird beispielsweise über die Frage, warum die deutschen Postkästen so häßlich sind (was würde Tucholsky heute zu den gelben Boxen sagen?), über Ladenfassaden und über „Mutterns Hände“ – auch dieses, eines der anrührendsten Gedichte Tucholskys, ist in dem Band enthalten.

Mutterns Hände

Hast uns Stulln jeschnitten
un Kaffe jekocht
un de Töppe rübajeschohm –
un jewischt und jenäht
un jemacht und jedreht …
alles mit deine Hände.

Hast de Milch zujedeckt,
uns Bobongs zujesteckt
un Zeitungen ausjetragen –
hast die Hemden jezählt
und Kartoffeln jeschält …
alles mit deine Hände.

Hast uns manches Mal
bei jroßen Schkandal
auch ’n Katzenkopp jejeben.
Hast uns hochjebracht.
Wir wahn Sticker acht,
sechse sind noch am Leben …
alles mit deine Hände.

Heiß warn se un kalt.
Nu sind se alt.
Nu bist du bald am Ende.
Da stehn wa nu hier,
und denn komm wir bei dir
und streicheln deine Hände.

Nicht alle der rund 100 Foto-Text-Montagen haben heute noch die unmittelbare politische Wucht – manches wirkt 90 Jahre später natürlich auch technisch ungeschickt, manches ungehobelt bis unbedarft, manche Namen werden heutigen Lesern wohl kaum mehr etwas sagen. Und dennoch: Auch wenn man weiß, Satire darf alles, überspitzt und übertreibt, gibt dieser bissige Führer durch die Weimarer Republik ein eindrucksvolles Bild jener Zeit. Und viele von Tucholskys Texten, insbesondere über „die deutsche Seele“ sind schlicht und einfach zeitlos – vor allem, wenn man sieht, wie die „deutsche Seele“ in diesen Tagen wieder wallt und wabbert.

In seiner hervorragenden Biographie „Tucholsky – ein deutsches Leben“ schreibt Rolf Hosfeld:

„Schon (…) 1925 entdeckte er die Möglichkeiten der Tendenzfotografie. „Die Wirkung ist unauslöschlich und durch keinen Leitartikel zu übertreffen. Eine knappe Zeile Unterschrift – und das einfachste Publikum ist gefangen.“

Es gehört zur Ironie der Literaturgeschichte, dass ausgerechnet das Medium, das durch einfachste Aussagen Millionen Leser fängt, nicht nur ebenso diese Mittel nutzt, sondern 2013 gar Tucholskys Buch in einer Reihe der von den Nationalsozialisten verbotenen Bücher wieder auflegte. Was hätte er dazu wohl gemeint, der große Spötter? BILD Dir deine Meinung.

Tucholsky äußerte sich später selbstkritisch über dieses Buchprojekt: Es sei als künstlerische Leistung klobig. „Und zu schwach. Und viel zu milde.“

Dazu Rolf Hosfeld:

„Tucholsky ist mit „Deutschland, Deutschland über alles“ tatsächlich der Verführung eines Mediums unterlegen, was ihm selbst schnell klar geworden ist, nachdem das Buch einmal vorlag.“

Aber welche Mängel es auch immer hat – es ist das Buch eines großen Kämpfers, der seine Heimat schmerzlich liebte:

„Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.“

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