#MeinKlassiker (25): Anna Karenina reloaded

Immer wieder las sie ihn mit neuen Augen: Andrea Schopf-Balogh und ihre lange Auseinandersetzung mit Tolstoi und dessen „Anna Karenina“.

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Andrea Schopf-Balogh bloggt erst seit einigen Monaten, hat sich aber bei mir schon einen festen Stammplatz im Reader erobert: Ich mag ihre sehr persönlichen, klugen Texte über Literatur, Filme und Musik, über das Reisen und das Lesen. Ein besonderer Höhepunkt ist für mich ihre Reihe „Throwbackmonday“: Erstaunlich, welche Geschichten sich dabei rund um Schriftstellerinnen und Schriftsteller entfalten. Aber lest selbst: https://andreaschopfbalogh.wordpress.com/.
Und so ist ihr Klassiker „Anna Karenina“ auch ein Beispiel dafür, wie lebendig und frisch uns diese wunderbaren Bücher immer noch begegnen können:

Es ist immer ein eigenartiges Gefühl, Lieblingsbücher aus meiner Jugendzeit wieder zu lesen. Ich verbinde mit ihnen die Erinnerungen, Stimmungen, Gefühle, die sie vor 25-30 Jahren in mir ausgelöst haben. Nehme ich diese Bücher wieder in die Hand, ändern sich meine Reaktionen meistens. Ich betrachte die Geschichten, die Schicksale und vor allem die Gefühlsregungen mit ganz anderen Augen. Vor allem die Liebesgeschichten. Es macht eben einen Unterschied, ob die eigene, längste Beziehung 2 Jahre oder das Vielfache gedauert hat. Man hat einen anderen Blick auf Beziehung, Liebe, Ehe oder Trennung. Eine differenziertere Einsicht dahingehend, wie sich große Gefühle ändern, verflüchtigen oder wieder festigen können. Was es bedeutet, treu zu bleiben oder einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Wie es sich anfühlt, Verantwortung für Kinder zu tragen. Lauter Erfahrungen, die ein fünfzehn jähriges Mädchen, das das erste Mal Anna Karenina liest, nicht kennt.

Damals war ich fasziniert von ihrem Lebensweg. Wow! Das ist wahre Liebe! – dachte ich. So muss es sein, bedingungslos zu lieben. Und merkte nicht, was Anna auch nicht merkte, dass sie Liebe eben mit Leidenschaft verwechselte. Ein Gefühl, das sie wahrscheinlich das erste Mal, gefangen in ihrer lieblosen Ehe erfuhr. Und in dieser Situation zu rechnen – nein, das wollte sie wirklich nicht.

Hätte sie sich aber auf dieses Gedankenexperiment, auf eine Arithmetik der Liebe eingelassen, hätte sie sofort festgestellt, dass es nach ihrer Entscheidung, ihren Ehemann zu verlassen, keinen Weg für sie gab, keine wie auch immer geartete Chance, einen Ausweg zu finden –  nur eine Sackgasse. Denn wie sollte ihr jene Gesellschaft verzeihen, die auf Äußerlichkeiten, Konvention, Starre und die Unterdrückung individueller Lebenswege basierte? Und wie ihr Ehemann, der eifriger Diener und privilegierter Nutznießer dieser Gesellschaftsordnung war? Und was bedeutete diese Amour fou für ihren Liebhaber, der Karriere in ebendieser Gesellschaft machen wollte? Und was bedeutete sie für ihren Sohn, der keine Mutter mehr haben durfte?

Kann ein Paar glücklich sein, wenn man einander liebt aber alles, wirklich alles dafür aufgeben muss? Tolstois klare und diesmal, trotz seines oft so nervigen, erhobenen Zeigefingers einfühlsame Antwort lautet Nein. Eh klar. Anna hätte es wissen sollen. Aber sie wollte nicht rechnen.

Dafür aber Kitty und Lewin! Sie leben nach einigen kleinen Verirrungen glücklich, zufrieden und vor allem progressiv auf ihrem Landsitz. Eine glückliche Familie eben, über die Tolstoi im ersten, berühmten Satz des Romans schreibt, den ich jedoch – das habe ich mir fest vorgenommen – nicht zitieren werde. Sie erziehen ihre zahlreichen Kinder und helfen ihren Bauern, erste Schritte in Richtung eines höheren, menschlichen Bewusstseins zu unternehmen. Eine wirkliche nette, aber schwer moralingesäuerte Idealfamilie der Marke Tolstois Zeigefinger, gähn.

Überhaupt fällt es auf, dass man nach Tolstois Auffassung nur im patriarchalischen, etwas rückständigen Moskau oder am Land glücklich werden kann (sofern man an eine Erziehung zu Religion und Moral gebunden ist, wie die Familien von Levin und Scerbackij), während das mondän-liberale Leben in Petersburg unweigerlich ins Verderben führt (siehe Karenin und Wronskij).

Aber wirklich ärgern möchte ich mich nicht darüber. Ich habe mich selbst in Verdacht, dass ich aufgrund seiner Spätwerke etwas zu kritisch mit Tolstoi bin. Dafür erlebe ich jedoch beim Wiedersehen mit ihm und Anna Karenina eine sehr schöne Überraschung. Denn passiert da nicht etwas, kaum merklich, tief im Inneren des Romans verborgen?

An der Oberfläche ist alles wie gehabt: Pflicht, Arbeit, Familienleben, Treue und Untreue, das große Geld, luxuriöse Bälle, Tradition, verhängnisvolle Beziehungen, Moral und Verkommenheit, Schuld und Haltlosigkeit – das alles, wie verwoben in ein riesiges, wunderschönes Gemälde, an dem man, je länger man es betrachtet, immer mehr faszinierende Details entdeckt.

Denn natürlich kann Tolstoi schreiben und natürlich macht es Freude, gemeinsam mit ihm in die Höhen und Tiefen seiner glanzvollen und gleichzeitig so niederträchtigen Epoche einzutauchen. Nach 100 Seiten hat endlich auch Anna ihren Auftritt. Sie ist hübsch und lebensfroh – wenn auch etwas desillusioniert und liebt ihren Sohn. Aber dann nimmt das Verhängnis seinen Lauf und Tolstoi erhebt seinen legendären Zeigefinger, denn das geht doch wirklich nicht, auf Erziehung und Religion und Moral und Tradition zu vergessen und sich einer unbändigen Leidenschaft hinzugeben. Das Unglück wird losgetreten, Gerüchte machen die Runde, Anna wird schwanger, stirbt fast bei der Geburt ihrer Tochter, das Liebespaar hält zusammen, verliert jedoch ihre gesellschaftliche Stellung, Anna darf ihren Sohn nicht sehen, wird in der Isolation von Eifersucht gequält und verfällt Wahnvorstellungen.

Während ich ihren Lebensweg und jenen der zahleichen weiteren Protagonisten verfolge, keimt in mir jedoch das Gefühl, dass Tolstoi im Laufe der Geschehnisse immer mehr Verständnis für Anna entwickelt. Dass er mit seiner Figur, die er moralisch ablehnt und die als abschreckendes Beispiel dienen soll, immer mehr mitfühlt, dass er, während er sie beschreibt, eine gewisse Akzeptanz für ihre Handlungen zulässt, dass er sie sogar insgeheim dafür achtet, sich einer verlogenen, erstickenden Gesellschaftsnorm zu entziehen – auf die Gefahr hin, von dieser zerschmettert zu werden. Anna wird im Laufe der Geschichte zu einer richtig differenzierten menschlichen Figur inmitten dieses Panoptikums gesellschaftlich durchgenormter Wachspuppen. Als würde Tolstoi durch sie erst entdecken, dass es auch außerhalb der allgemein akzeptierten Moralvorstellungen noch wirkliche Menschen gibt und nicht nur Bösewichte und absolut durchtriebene Höllenfiguren. Er begleitet Anna und staunt… und irgendwann lässt er den erhobenen Zeigefinger fallen und streichelt mit seiner Hand sanft über ihre Haare. Und heute, mit 45, finde ich diese Liebesgeschichte, die aufkeimende Liebe Tolstois zu Anna, faszinierender, als Wronskijs Leidenschaft für sie.

Aber auch Tolstois Liebe bringt ihr nicht viel, denn auch von ihm kann keine Rettung kommen. Anna hat es verabsäumt, zu rechnen und die unerbittliche Arithmetik gesellschaftlich akzeptierter Vorgangsweisen ist nicht außer Kraft zu setzen.

Andrea Schopf-Balogh
https://andreaschopfbalogh.wordpress.com/

#MeinKlassiker (4): Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Wie Literatur das eigene Leben verändern kann, das beschreibt Wolfgang Schnier – und meint damit „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“.

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Das Schöne an dieser Reihe sind die Überraschungen. Als ich Wolfgang Schnier, der einen klugen Blog über das Lesen und Schreiben betreibt, um einen Gastbeitrag für die Reihe #MeinKlassiker bat, rechnete ich eigentlich mit einem Text über Goethe, Paul Celan oder Erich Mühsam. Aber Wolfgang schlug dieses Buch von Milan Kundera vor – und beim Lesen seines Beitrages lernte ich diesen 1984 erschienenen Roman nochmals neu kennen.

Wolfgang Schnier über „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“:

„Es ist unmöglich zu überprüfen, welche Entscheidung die richtige ist, weil es keine Vergleiche gibt. Man erlebt alles unmittelbar, zum ersten Mal und ohne Vorbereitung. Wie ein Schauspieler, der auf die Bühne kommt, ohne vorher je geprobt zu haben. Was aber kann das Leben wert sein, wenn die erste Probe für das Leben schon das Leben selber ist? Aus diesem Grunde gleicht das Leben immer einer Skizze. Auch ‚Skizze‘ ist nicht das richtige Wort, weil Skizze immer ein Entwurf zu etwas ist, die Vorbereitung eines Bildes, während die Skizze unseres Lebens eine Skizze von nichts ist, ein Entwurf ohne Bild.“

Dies findet man auf den ersten Seiten von Kunderas Roman. Und als ich diese Stelle las, änderte sich mein Leben. Denn ich bekam keine endgültigen Antworten auf die Fragen, die das Leben aufwarf, sondern hier artikulierte Kundera etwas, das mir die Fragen aufzeigte, die in mir goren und ich nicht formulieren konnte, ja, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie tief in meinem Inneren hatte! Und so war ich elektrisiert, kaum 20 Jahre alt. Dass das Buch im Grunde eine Liebesgeschichte erzählt, oder besser gesagt mehrere, das wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht. Aber ich war auf dem besten Wege, die chaotischen und unkontrollierten Beziehungen der Teenager-Zeit gegen reflektiertere und bodenständigere Partnerschaften zu tauschen und suchte irgendwie nach einer Art Resonanzkörper, der mir bei meiner Suche meine eigenen Wünsche und Vorstellungen zurückwarf, um mir selbst die Antworten geben zu können, nach denen ich verlangte. Und während mir langsam klar wurde, dass es hier um die Geschichte zweier Liebenden geht, dachte ich oft an die Stelle, die ich eingangs zitiert habe: Was für eine Ouvertüre! Wie grundlegend und tiefgehend das Buch dieses Thema ausleuchtete, das waren Tiefenregionen, von denen ich bislang noch nicht einmal wusste, dass es sie gab! Mir war, als würde mich endlich jemand verstehen, als würde ich mich endlich verstehen, da mir klar wurde, dass ich die ganze Oberflächlichkeit vergangener Tage endlich hinter mir lassen wollte und auch konnte.

Das Leben erklärt man sich rückwärts

Allerdings ist das Buch nicht frei von Kitsch. Wenige Seiten später heißt es: „Nicht die Notwendigkeit, sondern der Zufall ist voller Zauber. Soll die Liebe unvergeßlich sein, so müssen sich vom ersten Augenblick an Zufälle auf ihr niederlassen wie die Vögel auf die Schultern von Franz von Assisi.“ Das ist beinahe trivial: Bei diesem Thema ist alles Zufall im Leben, das geht zurück auf den Zufall, wo wir überhaupt geboren wurden und welche verschlungenen Lebenspfade man hat gehen müssen, um an den Punkt zu gelangen, an dem man sich endlich getroffen hat. Aber das macht nichts, denn der Zauber liegt darin, diese Zufälle als eine Art Bestimmung anzusehen, als eine Unvermeidlichkeit. Man erklärt sich seinen Lebensweg rückwärts, als hätte man nicht, wie es eigentlich geschehen, nur vorwärts gelebt. Und nur, wenn wir das tun, erst dann wird diese Liebe unvergesslich.

Wenn man das Buch noch nicht gelesen hat, dann sollte man sich vorher nicht über die Handlung informieren. Das kann man zwar überall nachlesen, (zum Beispiel hier) aber damit nimmt man sich selbst den wichtigsten Effekt des Buches. Das liegt jetzt nicht daran, weil die Handlung sehr komplex oder dicht wäre, das ist bei Kunderas Büchern nicht der Fall. Aber wenn man sich eine nackte Inhaltsangabe durchliest, dann ist es so, als betrachtete man das Stahlgerippe eines Rohbaus und würde davon ausgehend Rückschlüsse auf das Gebäude erwarten, wie es einmal aussehen wird, wenn es fertig ist. Das kann man machen, aber man läuft dabei Gefahr, das Wesentliche zu übersehen. Diese Gefahr besteht bei allen guten Büchern, aber bei der unerträglichen Leichtigkeit des Seins wäre das unvermeidlich. Was das Buch nun für mich ausmacht, kann ich aber nur von einem Standpunkt nach der Lektüre des Buches beschreiben. Ich möchte daher so allgemein wie möglich, aber so detailliert wie nötig bleiben.

Anna Karenina als Erkennungszeichen

Die Charaktere in diesem Buch sind Idealtypen unserer eigenen Persönlichkeit. Wenn man erkannt hat, dass sie verschiedene Prinzipien idealtypisch repräsentieren, dann kann man in sich hineinhören und sich fragen: Wo habe ich diesen Gedanken auch schon einmal gehabt, wo ist mir dieses auch schon einmal passiert? Da ist zum Beispiel die Nebenfigur Franz, ein Akademiker, ein Kopfmensch, aber in Sachen Liebe ein Versager. Er setzt alles auf eine Karte und verliert. Und da ist Teresa, zentrale Figur, zerfressen von Eifersucht und inniger Liebe ohne Grund. Es hat sie einfach getroffen und sie hinterfragt an keiner Stelle wieso. Genauso wenig wie Tolstois Anna Karenina, den gleichnamigen Roman, den sie wie ein geheimes Erkennungszeichen an verschiedenen Stellen des Buches in die Hand nimmt.

Und Tomas, der Don Juan und Tristan in sich vereint, trifft eine Entscheidung nach der anderen, die seinem eigentlichen Lebensstil entgegengesetzt sind, aber ihn mit Teresa zusammen hält. Und da ist die eigentliche Hauptfigur, jedenfalls nach meinem Verständnis: Sabina. Während jedem anderen Charakter eine mythische Figur nebenan gestellt wird, Teresa hat Anna Karenina, hinter Tomas scheinen Don Juan und Tristan hindurch und Franz hat Züge von Don Quijote und Faust, ist Sabina nicht im Mythischen verwurzelt. Sie ist die moderne Lebefrau, die Künstlerin der Moderne. Und ihr Attribut ist die Leichtigkeit, die Freiheit. Sie hält es kaum mit Tomas aus und erst recht nicht mit Franz. Die Unverbindlichkeit ist ihre Visitenkarte und am Ende hört man von ihr nur noch durch die Briefe aus den USA, dem Land der unbegrenzten Freiheit, so weit ist sie der eigentlichen Handlung entschwoben. Aber sie ist rastlos und hat einen hohen Preis zu zahlen: Sie ist einsam.

Wann verwandelt sich die Leichtigkeit in Schwere?

Und an dieser Stelle fällt einem plötzlich die Handlung auf, wie sie durch die Jahre hingeplätschert ist, mit den unterschiedlichen Entscheidungen in den verschiedenen Lebensstationen und man denkt an die Stelle ganz am Anfang: Kann man wirklich wissen, ob man die richtige Entscheidung getroffen hat, als man diesen oder jenen Weg im Leben einschlug? Verwandelt sich hier die Leichtigkeit in eine Schwere, die unerträgliche Leichtigkeit des Seins – ist das die Leichtigkeit von einst, unbemerkt verwandelt in Schwere durch die Entscheidungen, die wir im Leben getroffen haben und treffen müssen?

Und wenn man das Buch gelesen hat, etwas verwirrt vielleicht und noch nicht alles verstehend, und es einige Jahre im Unterbewusstsein vor sich hin schlummern lässt und man sein eigenes Leben lebt, mit all den Irrungen und Wirrungen, mit all den Entscheidungen, ja, dann fällt es einem später vielleicht wieder ein. Wie war das noch mit Tomas und Teresa? Beschreibt das Buch vielleicht nicht nur die Charaktere als einen Idealtypus, sondern auch die Liebe selbst wie einen unerreichbaren Gipfel auf dem höchsten Berg, wie eine Fata Morgana, die sich immer weiter entfernt, je näher man ihr kommt? Oder ist die Liebe immer rein und unschuldig, zufällig und immer kompliziert, suchend und findend, verschlungen und oft einfach bedingungslos hoffnungsvoll und einfach hoffnungslos zugleich? Und wie heißt es woanders so schön: „Einen Menschen kennt einzig nur der, welcher ohne Hoffnung ihn liebt.“

Und dann fällt einem vielleicht wieder eine andere Stelle in dem Roman ein, eine im Rückblick sehr melancholische Stelle, die aber noch nicht melancholisch gewesen ist, als man sie das erste Mal in jungen Jahren gelesen hatte. Und es ist eine Stelle, an die ich oft denken musste in der letzten Zeit, weil sie mich nie ganz losgelassen hat. Aber zunächst noch eine andere Frage: Wenn diese vier Charaktere in diesem Buch Idealtypen darstellen, welchem würde man den Vorzug geben? Und könnte man den eigenen Schwerpunkt selbst wählen? Denkt man darüber nach, wenn man verliebt ist? Nun, früher oder später wird man feststellen, dass die Partitur des Lebens endlich ist und wir nur in einer gewissen Zeitspanne in die Tasten unseres Gegenübers greifen können, oder, anders formuliert: Manche Erfahrungen kann man nur zu einer bestimmten Zeit in seinem Leben machen. Oder, in Kunderas Worten:

„Solange die Menschen noch jung sind und die Partitur ihres Lebens erst bei den ersten Takten angelangt ist, können sie gemeinsam komponieren und Motive austauschen. Begegnen sie sich aber, wenn sie schon älter sind, ist die Komposition mehr oder weniger vollendet, und jedes Wort, jeder Gegenstand bedeuten in der Komposition des einzelnen etwas anderes.“

Und so denke ich manchmal an Tomas und Teresa und halte mein eigenes Leben dagegen. Und dann sage ich mir: Manche Bücher muss man in verschiedenen Lebensabschnitten lesen und verstehen. Was mir dieses Buch vor fast zwanzig Jahren offenbarte, liest sich heute beinahe wie eine Prophezeiung. Und genau darin liegt auch ein Stück Hoffnung: So verschieden sind wir Menschen nicht, und vielleicht ist dieses Buch auch ein Motiv nicht nur in unserem eigenen Leben, sondern auch ein Motiv im Leben unseres Gegenübers. Etwas schüchtern halte ich daher nicht Anna Karenina in meinen Händen, sondern die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.

Wolfgang Schnier
https://wolfgangschnier.com/


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