#MeinKlassiker (11): Aus dem Leben eines Taugenichts – Fridolin Schley über die Sternenklarheit des Herzens

Schriftsteller Fridolin Schley über einen Roman von Eichendorff, der ihn immer wieder überrascht und einnimmt: „Aus dem Leben eines Taugenichts“.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Viel Anerkennung erhielt Schriftsteller Fridolin Schley für sein jüngstes Buch, „Die Verteidigung“, erschienen im Hanser Verlag. Rezensent Hans von Trotha empfand es in Deutschlandfunk Kultur als Glück, dass sich Fridolin Schley dieser Geschichte angenommen hat. Wie Richard von Weizsäcker 1948 den eigenen Vater bei den Nürnberger Prozessen verteidigte, was er dabei dachte und wie sein Vater agierte, erzählt der Autor laut Trotha retrospektiv als Geschichte über Schuld, Verantwortung und Gerechtigkeit, geschickt mit Erwartungen spielend, kafkaesk, nicht als historischen Roman. Aus anderem Stoff gesponnen ist dagegen der Klassiker, über den Fridolin Schley hier schreibt:

Sternenklarheit des Herzens

Lese ich heute wieder im Taugenichts, wie er richtungslos in die freie Welt aufbricht, das „Herz so voller Klang“, so sind es gerade die Dissonanzen im Klang, die mich überraschen und einnehmen, das Ineinander von Neugier und Verlustangst, von Lebenslust und Entsagung, das durchgehende Grundgefühl der Zerrissenheit und der Verwirrung seines Herzens, das „wild und bunt und verstört“ fortwährend beschleunigt wird von den ungleichen Zwillingsschwestern Furcht und Freude. In einer frühen Form der Virtualität, der heute allgegenwärtigen und für das Schreiben fast obligatorischen Grenzverwehungen zwischen Fiktion und sogenannter Wirklichkeit, besiedelt die Romantik Zwischenbereiche, in denen die Fantasie eine Art an sich hat, das Leben einzuholen. Den Sinnen ist dort nicht mehr zu trauen. Oft weiß der Taugenichts nicht recht, ob er wacht oder träumt, immerzu ist etwas „seltsam“, ständig wundert oder erschrickt er sich, um sogleich anzusingen gegen die Beklommenheit und weiter fortzuschreiten auf dünnem Eis.

Das Unheimliche und die Sehnsucht wohnen in diesen Transiträumen Tür an Tür. Erblickt er eine schöne Dame am Fenster, so ist sie durch den Vorhang verschleiert und ihr „seltsamer Schein“ kaum zu unterscheiden von den verzerrten, wie aus unguten Träumen entkommenen Gestalten, die immer wieder seinen Weg kreuzen. Es ist eine prekäre Poesie der Unschärfe, des Halbschlafs und des Wunsches nach Enthüllung des Merkwürdigen und Rätselhaften, nach dem klaren Blick, dem wir zugleich kaum gewachsen sind – wie bei Kindern, die nicht aufhören können, unter dem Bett und hinter dem Vorhang schaudernd nach jenen Bedrohungen zu suchen, die sie eigentlich nicht finden wollen. Als der Taugenichts die begehrte Dame in einem Boot über den Teich setzt und sie ihm dafür endlich einen tief dringenden Augen-Blick gewährt, setzt er entsprechend nur Tränen der Verzweiflung frei und bald darauf das Gefühl, „als wäre ich überall eben zu spät gekommen, als hätte die ganze Welt gar nicht auf mich gerechnet“.

Entfesselte Tagträume

So reist der Taugenichts musizierend in die Fremde, um sich selbst zu verlieren und neu zu bestimmen, wiederholt ergreift ihn dabei Schwindel auf den Wegen nach Süden, „als führten sie aus der Welt hinaus“ und ins unendliche Dunkel hinein, wo nach Freud die entfesselten Tagträume des Dichters spielen, wo sich wie im Fieber Gesichter zur teuflischen Fratzen verziehen, die Worte babylonisch verwirren, als wäre die Zunge tief ins Meer versenkt und allerlei unbekanntes Gewürm ringelte sich und rauschte da in der Einsamkeit. Gefahr und „grausliche Angst“ lauern an den Unorten der Nacht und mit ihnen das bucklicht Männlein, das wie eine Spinne über dem Scherbenhaufen der vergessenen Dinge wacht. Von dort blickt es uns an und hütet die Bilder unseres Lebens, die vor den Augen des Sterbenden vorbeiziehen.

Es sind Erlösungsvisionen, die den Taugenichts treiben und begleiten, obwohl er wie später Kafkas Amerika-Reisender gar nicht recht zu wissen meint, warum er „just mit so ausnehmender Geschwindigkeit fortreisen sollte“, und nicht zu ahnen scheint, dass die einzige Erlösung im Leben die vom Leben ist. Überall lagern Todesbilder unter der heiteren Melodie der Reise; das Gerassel des Wagens dünkt ihn, er fahre mit ihm in ein großes Grabgewölbe, eine hässliche Haushälterin mit dürren Hexenfingern durchgeistert das alptraumhafte Schloss – auch bei Kafka eine Registratur der letzten Dinge – durch dessen lange, schmale Gänge der Taugenichts nachts irrt.

Der unheimliche Fremde in uns selbst

Bald sieht er eine Messerklinge vor seinem Fenster im Mondschein blitzen, hört auf der Treppe Schritte sich nähern, und sein Blick in den Spiegel, in den er „immerfort hineinsehen“ und grimassieren muss, gleicht dem, den man im Gebirge in einen plötzlich dräuenden Abgrund wagt, halb erschreckt, halb angezogen von der Tiefe, ist doch unser Doppelgänger im Spiegel von jeher auch der unheimliche Fremde in uns, der tote Andere, der uns am Ende bestimmt, und sein Anblick jenes letzte Bild, das das bucklicht Männlein von uns verwahrt.

Natürlich ist auch das Schreiben eine Kunst des Doppelgängertums, denn erst dort auf der Nachtseite des Vertrauten, wo man sich selbst unheimlich wird, im Verließ des Schlosses, in der Tiefe des Waldes oder in jenem einsamen Haus, das der Taugenichts nur bei Dunkelheit finden kann, an diesen Seelenorten der Romantik, wo Sinne, Triebe und Erkenntnis zu Schatten und huschenden Schlaglichtern verschmelzen, keimt die Hoffnung auf Erlösung; auf das, was unser Held die Sternenklarheit des Herzens nennt. Nur dem, der bereit ist, die Augen zu schließen, können auch die Morgenstrahlen auf die Lider fallen, wie der Taugenichts sagt, so „dass mir’s innerlich so dunkelhell war“. In dunkelhellen Zwielicht finden die Sätze mit der gleichen zwingenden Zufälligkeit zueinander wie dem Taugenichts alle ersehnten Menschen auf seiner Reise unverhofft wieder begegnen und nach einem sanften Gesetz ineinandergreifen, um schließlich ihre Masken zu lüften. Erst dann wird auch er als ganzer Mensch anerkannt.

Dr. Fridolin Schley
Homepage: https://fridolinschley.de/

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

8 Gedanken zu „#MeinKlassiker (11): Aus dem Leben eines Taugenichts – Fridolin Schley über die Sternenklarheit des Herzens“

  1. Diese Rezension ist (wie immer) so schön formuliert, dass sie einen mitreißt in diese merkwürdige Doppelwelt des Protagonisten, ohne das Buch gelesen zu haben. Und genauso fasziniert und schreckt es mich… Vielen Dank. Liebe Grüße und einen schönen ersten Advent! Wanja

    1. Liebe Wanja, danke für Deinen netten Kommentar – ich hoffe, Du hattest auch einen schönen ersten Advent, Zeit um wunderbare Bildmotive einzufangen oder zum lesen…Liebe Grüße Birgit

  2. Wolfregen & Constanze – Deutschland / Baden-Württemberg – "Poesie ist wie ein Duft, der sich verflüchtigt und dabei in unserer Seele die Essenz der Schönheit zurücklässt." Jean Paul (1763-1825)
    Wolfregen & Constanze sagt:

    Ein ganz hervorragend geschriebener Beitrag zu einer meiner Lieblingslektüren – herzlichen Dank!

    Liebe Grüße
    von Constanze

    1. Oh, wie schön! Da freut sich der Autor bestimmt beim Kommentar lesen…
      Ich fand das ganze Zwiespältige, auch das dunkle Sehnende des Taugenichts sehr gut getroffen in dem Beitrag. Herzliche Grüße Birgit

  3. Aus meiner Lektüre in der Schulzeit habe eher das Hellere in Erinnerung – umso besser, hier die andere Seite besprochen zu bekommen. Eichendorff mit dem Taugenichts im Klassiker-Programm freute mich, weil ich am Wochenende eine reizvolle Auslegung seines Gedichtes hörte, das unter dem Titel „Wünschelruthe“ zuerst gedruckt wurde:

    „Schläft ein Lied in allen Dingen,
    Die da träumen fort und fort,
    Und die Welt hebt an zu singen,
    Triffst du nur das Zauberwort.“

    Schöne Grüße, Bernd

    1. Diese kurzen Zeilen sind so wunderbar, ein poetisches Manifest: Sie sagen aus, was Dichtung in ihren besten Momenten vermag – Dinge zum Klingen bringen, die sonst im Seelischen verborgen sind.

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