William Faulkner: Als ich im Sterben lag

William Faulkners Roman „Als ich im Sterben lag“ erschien 1930 und war, nach „Schall und Wahn“ das Buch, das seinen Weltruhm als außergewöhnlicher Stilist begründete. Eine Tour de Force, nicht nur für die Protagonisten, sondern auch ein Parforceritt für den Schriftsteller selbst.

„Aber ich mach ihr keinen Vorwurf.“

Dieser eine Satz, den der alte Farmer immer wieder wie ein Mantra wiederholt, enthüllt die ganze Absurdität der Situation: Denn Addie, die ursächlich ist für diese tragisch-komische Odyssee, auf die sich ihre Familie begibt, liegt da längst schon tot im Sarg und ist völlig unempfänglich für Vorwürfe. Sie, die Mutter von fünf Kindern, hatte ihrem Mann Anse das Versprechen abgenommen, nicht in Yoknapatawpha County unter die Erde zu kommen, sondern in der weit entfernt liegenden Kleinstadt Jefferson, aus der sie ursprünglich stammte. Ein deutliches Statement: Im Tod wollte sie sich nicht mehr gemein machen mit dem spindeldürren, buckligen, zahnlosen Farmer, den sie da gefühlt weit unter ihrem Stand geheiratet hatte.

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Leichenzug mit Hindernissen

Noch unter den Augen der Sterbenden zimmert ihr Sohn Cash also einen Sarg und werden die Reisevorbereitungen getroffen. Doch vorher müssen, trotz aller Warnungen vor einem aufkommenden Unwetter, noch einige Handvoll Dollar verdient werden – also schickt Anse zwei seiner Söhne noch auf eine letzte Fuhr vor der Abfahrt. Weil sich dadurch alles verzögert, stößt der Leichenzug auf die zu erwartenden Hindernisse: Der Fluss läuft über, die Brücken brechen und beim Versuch, das reißende Wasser zu überqueren, gehen Fuhrwerk und Sarg beinahe verloren.

Als die Familien dann letzten Endes trotz aller Widernisse in Jefferson anlangt, während bereits die Bussarde über der Truppe streifen, angezogen vom Verwesungsgeruch, haben beinahe alle etwas verloren: Der älteste Sohn Cash sein Bein, Darl seinen Verstand, Jewel sein mühsam erspartes Pferd, Dewey Dell das Geld für eine Abtreibung und der Jüngste die Unschuld seines kindlichen Denkens. Nur Anse erlebt ein Happy End oder, wie Eberhard Falcke es in seiner Rezension für den Deutschlandfunk formuliert, „die haarsträubend mickrige Parodie eines Happy Ends“. Mit dem Geld seiner Kinder leistet er sich endlich ein neues Gebiss und präsentiert en passant gleich eine neue Mrs. Bundren.

Das Buch begründete Faulkners Weltruhm

William Faulkners Roman „Als ich im Sterben lag“ erschien 1930 und war, nach „Schall und Wahn“ das Buch, das seinen Weltruhm als außergewöhnlicher Stilist begründete. Eine Tour de Force, nicht nur für die Protagonisten, die mit unvergleichlicher Zähigkeit an ihrem Vorhaben festhalten (ein ums andere Mal kommt beim Lesen der ketzerische Gedanke auf, warum man Addie nicht einfach an Ort und Stelle begräbt).

Sondern auch ein Parforceritt für den Schriftsteller selbst, wie Eberhard Falcke in seiner Rezension ausführt:
„Tatsächlich war es eine Tour de Force im doppelten Sinn, auf die sich Faulkner hier eingelassen hatte. Er schrieb das Buch, wie er behauptete, in nur sechs Wochen, des Nachts, während er das Heizwerk der Universität beaufsichtigte. Zugleich aber handelt der Roman buchstäblich von einer verrückten Gewalttour, von einem schicksalsprallen Abenteuer, von einer Odyssee, deren Personal allerdings nicht aus griechischen Helden, sondern aus ärmlichen amerikanischen Südstaatenfarmern besteht.“

Geschichten über die weiße Unterschicht

Faulkner hatte bereits mit „Schall und Wahn“ seinen literarischen Kosmos gefunden, sein Sujet, die armen, rückständigen Farmer und Leute aus dem amerikanischen Süden, meist gottesfürchtig, wenn nicht gar fundamental christlich, immer aber auch psychisch oder physisch gewalttätig, archaisch im eigentlichen Sinne. „White trash“ würde man sie heute nennen, die Bundrens, zu denen man, je weiter die Reise vorangeht, ein in sich widersprüchliches Verhältnis entwickelt, das sich aus Unglauben, Mitleid, Empathie und Abstoßung zusammensetzt. Eben wie im echten Leben.

Nebst der Wahl dieser ungewöhnlichen Protagonisten, wahrer Antihelden, war die eigentliche Sensation des Romans bei seinem Erscheinen seine formale Konzeption: Multiperspektivisch, es kommen Dutzende von Stimmen zu Wort, selbst die Addies, zusammengesetzt aus inneren Monologen, die insbesondere im Falle des jüngsten Sohns, des Kindes Vardaman, verdeutlichen, was „Bewusstseinsstrom“ bedeutet. Faulkner war einer der ersten Autoren, der diese Technik, ja, vielmehr Kunstgriff, anwandte. Und so ist „Als ich im Sterben lag“ auch ein faszinierendes Puzzle, das nach und nach die Geheimnisse seiner einzelnen Figuren enthüllt, ein Bild ergibt, das dennoch niemals alles enthüllt – die letzte Deutung bleibt den Lesern überlassen.

Informationen zum Buch:

William Faulkner
Als ich im Sterben lag
Neuübersetzung durch Maria Carlsson
Rowohlt Verlag, 2012
ISBN: 978-3-498-02133-7

William Faulkner: Schall und Wahn

„Schall und Wahn“ ist eine Herausforderung für den Leser, eine mitreißende Zumutung. In der Neuübersetzung von Frank Heibert glänzt dieser Solitär noch mehr.

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„Als der Schatten des Fensterrahmens auf die Vorhänge kroch, war es zwischen sieben und acht Uhr, und als ich die Taschenuhr ticken hörte, lag ich wieder in der Zeit. Sie hatte Großvater gehört und als Vater sie mir schenkte, sagte er, ich schenke dir das Mausoleum jeglicher Hoffnung und jeglichen Begehrens, wie furchtbar passend, dass du sie benutzen wirst, um die reducto absurdum* aller menschlichen Erfahrung zu erlangen, und sie wird deinen individuellen Bedürfnissen kein bisschen besser entsprechen als seinen eigenen oder denen seines Vaters. Ich schenke sie dir, nicht damit du immer an die Zeit denkst, sondern damit du sie ab und zu für einen Moment vergisst und nicht im Versuch, sie zu erobern, deinen letzten Atem verschwendest. Weil keine Schlacht je gewonnen wird. Schlachten werden nicht einmal geschlagen. Das Schlachtfeld offenbart den Menschen nur seinen eigenen Wahn, seine Verzweiflung, und der Sieg ist eine Illusion der Philosophen und Narren.“

*Falsche Form der lateinischen Wendung „reductio ad absurdum (wörtlich: Zurückführung auf das Widersinnige), der sogenannte Widerspruchsbeweis aus der Logik. Eine Aussage wird dadurch widerlegt, dass aus ihr der Widerspruch zu einer anerkannten These folgt.

William Faulkner, „Schall und Wahn“

Ähnlich wie sein Vater wird auch Quentin nicht versuchen, den Kampf gegen die Zeit aufzunehmen – am Ende dieses Tages, den Faulkner aus der Perspektive Quentins in einem mitreißenden Bewusstseinsstrom erzählt, wird der junge Mann sich das Leben nehmen, wird die Zeit damit nicht überwinden, aber vermeiden, er durch den Freitod, sein Vater, der sich zu Tode trinkt, zuvor durch Selbstmord auf Raten, durch das Ausschalten der Zeit im Rausch.

Faulkner mochte dieses am meisten von seinen Büchern

Das Ticken der Uhr, das Läuten der Kirchenglocken ist ein Leitmotiv dieses grandiosen Romanes, von dem Faulkner selbst sagte, er sei ihm der liebste seiner eigenen Werke: Die Zeit, sie ist über diese Südstaatenfamilie, deren Niedergang der Nobelpreisträger aus vier Perspektiven beschreibt, hinweggegangen. Die Zeit der Compsons, deren einstmals grandioses Herrenhaus verlottert, sie ist vorbei. Schall und Wahn, Niedergang und Verzweiflung: Die Buddenbrooks auf amerikanisch, nur mit weitaus mehr Fleisch, Blut und Tränen.

„Das Leben ist an Gut und Böse nicht interessiert…Das moralische Gewissen des Menschen ist der Fluch, den er von den Göttern anzunehmen hatte, damit er von ihnen das Recht bekam, zu träumen.“

Dieses Faulkner-Zitat stellt der Verlag seiner Buchbewerbung voran – eine Essenz dessen, was auch die Figuren in „Schall und Wahn“ prägt, gebeutelt vom Leben, Opfer ihres Lebens, aber nicht frei von Träumen, auch wenn es vielleicht die falschen Träume sind, auch wenn sie vielleicht zum Scheitern verurteilt sind.

Die Welt ist ein Irrenhaus, und wenn du mit besonderem Pech gesegnet wirst, so wirst du in eine neurotische Familie hineingeboren: Schemenhaft, handlungsunfähig, in sich selbst verstrickt erscheint die ältere Generation – der Vater sich in den Alkohol flüchtend, die Mutter in ihr abgedunkeltes Zimmer oder wahlweise in unreflektiertes Jammern. Die vier Nachkommen wären sich selbst überlassen, blieben da nicht, gleichsam wie ein positives Gegenbild, die schwarzen Hausangestellten, vor allem in Gestalt von Dilsey, die für Liebe, Wärme, Fürsorge steht.

Der moralische Bankrott ist unaufhaltbar

Doch der moralische Bankrott ist unaufhaltbar: Quentin, der älteste Sohn, in Schuldgefühlen wegen der Liebe zu seiner Schwester Candance verstrickt, nimmt sich das Leben. Jason, Hauptfigur des dritten Kapitels, ist gefangen in seinen Minderwertigkeitsgefühlen. Er, der als jüngster weder studieren noch entfliehen konnte, ist der Ewig-zu-kurz-Gekommene, der aus Hader über sein Schicksal voller rassistischer und sonstiger Vorurteile steckt, der sich und anderen das Leben mit aller Macht noch vollends vergällt. Candance schließlich wird nach einer Schwangerschaft in eine ungeliebte Ehe getrieben, nach der Scheidung von der Familie verstoßen.

Lichtpunkte sind in diesen verstrickten Verhältnissen ausgerechnet die Underdogs, die scheinbar „Minderwertigen“: Der geistig behinderte Sohn Benjy, mit dem das Buch beginnt, die mütterliche Dilsey, mit der der Roman endet – eine Klammer, die dann doch etwas Trost spendet in einer heillos verfallenen Welt. „Schall und Wahn“ ist jedoch nicht nur inhaltlich ein herausforderndes Buch – sondern auch stilistisch ein Kunstwerk, eine Herausforderung, die zum Lesen im Fieberwahn führen kann und mit Nachschall belohnt. Philippe Djian schreibt in seinem Buch über seine maßgeblichen Schriftsteller („In der Kreide“, Diogenes Verlag) über Faulkner:

„Alle großen Werke haben mehrere Zugangsmöglichkeiten. Sie lassen nie jemanden vor verschlossener Tür. Sie führen uns immer auf die eine oder andere Weise dem Licht entgegen.“

Für Faulkner braucht man Mut

Um Faulkner zu lesen, benötigt man eine Portion Unerschrockenheit. Die Orientierung am allein Schöngeistigen hilft da nicht weiter. Nochmals Philippe Dijan:

„Bei Faulkner stößt man auf viel Schweiß, viel Brutalität, viel Licht. Seine Protagonisten sind einfältige Menschen, gefallene Mädchen, Schwärmer, Rohlinge, Heilige und Märtyrer. Daher kann man sich leicht vorstellen, wie verdichtet diese berühmten Monologe sind, ihre düstere, von Blitzen erhellte Schönheit, ihre schwüle Atmosphäre, ihre schwindelerregenden Abgründe.
Faulkner ist ein Meister des Aufbaus. Darüber sollte man allerdings nicht das Wesentliche vergessen: die Macht seiner Worte, den poetischen Hauch, der sich wie ein undefinierbarer, unregelmäßiger leichter Wind erhebt, kommt und geht, sich um die eigene Achse dreht, zunimmt, bis er auf allen Seiten pfeift und heult und alles auf seinem Weg hinwegfegt.“

Dieser Windhauch, der zum Sturm wird: Er ist in „Schall und Wahn“ – unter allen Büchern Faulkners auch für mich das mitreißendste – besonders zu spüren. Welches Wagnis, einen Roman aus der Perspektive eines geistig Behinderten zu beginnen – doch schon dieser Monolog zeigt Faulkners ganze Kunst, seine Sprachmacht, sein Geschick im Aufbau. Es ist die leichte Brise, die Ruhe vor dem Sturm.

„Ich hab nicht geweint, aber ich konnte nicht aufhören. Ich hab nicht geweint, aber die Erde blieb nicht still, und dann hab ich doch geweint.“

Benjy ist der Seismograph, der in seiner ganzen geistigen Unmittelbarkeit (NICHT: Beschränktheit) die Strömungen aufnimmt und widergibt, die die Familie durchlaufen. Schon dieses Eingangskapitel eine tour de force, führt dann der Perspektivenwechsel zu Quentin zu einem inneren Monolog, der jenem Bewusstseinsstroms Mollys in „Ulysees“ durchaus vergleichbar ist (wenn auch weitaus kürzer). Sprach- und Perspektivenwechsel dann erneut hin zu Jason, das innere Auge des Tornados wird erreicht, Erschöpfung, Ruhe, vielleicht auch Neubeginn im Schlusskapitel.

Brilliante Übersetzung durch Frank Heibert

Eine Herausforderung für den Leser, erst recht eine für den Übersetzer. Frank Heibert erläutert in einem Nachwort zur Neuausgabe beim Rowohlt Verlag seine Herangehensweise, beispielsweise den Verzicht auf Dialektanleihen:

„Zu Faulkners beherzten literarischen Wagnissen gehört auch seine Art, mündliche Sprache zu verschriftlichen. Wann immer schwarze Figuren zu Wort kommen, notiert er, sozusagen in ausgeschriebener Mimikry, ihre Aussprache, fast eine Transkription: ein auffälliges Mittel, um die Eigenständigkeit der Sprecher und ihren Abstand zu den weißen Herren zu markieren, und eine weitere ästhetische Qualität dieses an literarischen Höhepunkten reichen Romans. (…).
Dass William Faulkner das Black American English der schwarzen Underdogs zur Literatursprache erhebt, ist politisch wie sprachlich ein starker Effekt. Für die Übersetzung ist es die größte Herausforderung. Es handelt sich um eine regional wie sozial geprägte Variante des Englischen, also Dialekt und Soziolekt zugleich. Das übersetzerische Dilemma ist offensichtlich: Wie lässt sich Dialektales übersetzen? Dialekte sind an Regionen geknüpft. (…). „

Christopher Schmidt nannte in einer Besprechung in der Süddeutschen Zeitung die Übersetzung durch Frank Heibert „titanisch“. Tatsächlich ist sie im Vergleich zu der älteren Übertragung von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser (erhältlich beim Diogenes Verlag) kunstvoller, näher am Original, trotz des Verzichts auf Dialektismen. Und allein schon wegen Heiberts Gedanken zur Unübersetzbarkeit des Titels „The Sound and the Fury“ lohnt sich diese Ausgabe. Entlehnt hat Faulkner dieses aus Shakespeares „Macbeth“. Das Leben,

„a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing“.

Mehr gibt es nicht zu sagen.

Informationen zum Buch:

William Faulkner
Schall und Wahn
Übersetzt von Frank Heibert
Rowohlt Verlag, 2014
ISBN: 978-3-498-02135-1

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

Das mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Buch konnte mich nicht überzeugen. Denn die Grenze zum Kitsch ist manchmal schnell überschritten.

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Fluchtpunkt Saint-Malo – im Roman ein wenig Licht am Ende des Tunnels. Bild von Lulu35 auf Pixabay

Ich nenne es eine Pulitzer-Preis-Verschwörung: Es muss in der Jury in den vergangenen Jahren insgeheim die Entscheidung gefallen sein, im Bereich Belletristik vor allem Bücher auszuzeichnen, die durch ihr Volumen bestechen. Seitenmasse vor literarischer Klasse. Nun haben sie wieder zugeschlagen, die Liebhaber des dicken Buches – die jüngste Auszeichnung ging an Anthony Doerr, dessen Roman bei C. H. Beck in deutscher Übersetzung vorliegt: „Alles Licht, das wir nicht sehen“.

Kein Aha-Erlebnis trotz Pulitzer-Preis

Ähnlich wie die zuvor preisgekrönten Werke – Donna Tartts „Distelfink und Adam Johnsons „geraubter Waise“ – hat dieser Roman für mich vor allem ein großes Defizit: Die Geschichte zerfleddert, hat ihre Längen, nimmt mich über die lange Strecke hinweg gesehen nicht bis zum Ende hin mit. Ebenso wie seine Pulitzer-Vorgänger ist dieser Roman stilistisch überwiegend durchaus gut, wenn auch konventionell erzählt, hat eine außergewöhnliche Geschichte im Mittelpunkt, ist thematisch also zunächst fesselnd…aber sie zerläuft im Sande an der Küste bei Saint Malo.

In nicht wenigen Rezensionen wird die poetische Sprache des Buches gewürdigt – für mich hangelte sich der Autor da nah an der Grenze zum Kitsch-Verdacht entlang. Ein Eindruck, den auch Hans-Peter Kunisch, der das Buch in der Süddeutschen Zeitung auseinandernahm, hatte:

„Erblinden ist eine Entdeckung der Unsicherheit: „(. . .) ihre Finger sind zu groß, immer zu groß. Was ist Blindheit? Wo eine Mauer sein sollte, greifen ihre Hände ins Leere. Wo nichts sein sollte, läuft sie gegen einen Tisch. Autos brummen durch die Straßen, Blätter flüstern am Himmel, Blut rauscht durchs Innenohr.“ Kurze, aber emotionsgeladen lyrische Sätze mit Human Touch setzen den Grundton. Doch je dicker ein Autor aufträgt, desto näher liegt die Grenze zum Kitsch. Doerr, der gern Flugblätter und Landschaften poetisch verzaubert („ein Morgen Ende Februar, die Luft duftet nach Regen und Ruhe“), setzt auf einfühlsames Pathos. Bei Marie-Laure trägt das noch am ehesten. In Untiefen aber gerät seine Sprache, wenn sie Werners Erziehung in der Napola schildert. Doerr legt auch hier viel Emphase in Atmosphäre und Charaktere. Aber statt der märchenhaften Zerbrechlichkeit um Marie-Laure entsteht, als saftiger Kontrast, ein übler Schauerroman.“

Zudem lässt sich an den drei genannten Büchern eines festmachen: Sie treffen vor allem den Zeitgeist. Spielt der Distelfink durch sein Ausgangsszenario mit den Terrorängsten der US-Amerikaner, nimmt Adam Johnson den mystischen Erzfeind der USA, Nordkorea, ins Visier. Doerrs Roman über eine Geschichte zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges kommt zum richtigen Zeitpunkt, da die Welt dieser Katastrophe mit symbolträchtigen Jubiläumsereignissen gedenkt.

Literarische Konfektionsware

Ich muss zugeben: Für mich sind die Auszeichnungen der 2010er-Jahre, Jennifer Egan ausgenommen, bislang eher enttäuschend. Literarische Konfektionsware. Die Fähigkeit, eine Geschichte stringent voranzutreiben, einfach und knallhart zu erzählen, die Kunst der Beschränkung auf das Wesentliche – sie sind verloren gegangen. Wurden geopfert auf dem Altar der ausufernden Erzählweise. Pulitzer-Preisträger früherer Jahre wie Steinbeck, Faulkner, Sinclair – sie besuchten die Schule des Lebens. Die Pulitzer-Preisträger unserer Tage studieren kreatives Schreiben. Vielleicht macht das den Unterschied.

Informationen zum Buch:

Anthony Doerr
Alles Licht, das wir nicht sehen
Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
C.H.Beck Verlag, 2015
ISBN: 978-3-406-68063-2