Vicki Baum: Hotel Berlin

Noch während des Krieges zeichnet Vicki Baum, da schon lange in den USA lebend, ein deutliches Bild von den Zuständen in Deutschland. Ein bemerkenswerter Roman.

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„Aber die deutsche Seele ist gotisch. Es ist eine verstrickte Seele voll von Dunkelheiten und Höllenvisionen, eine gepeinigte Seele, und sie liebt das Leiden. (…) Die deutsche Seele will Schmerzen erleiden und Schmerzen zufügen. Ach, was versteht ihr denn von Deutschland! Überorganisation nennt ihr es; Militarismus, tyrannisches Befehlen und blinden Gehorsam. Begreift ihr denn nicht: Der Deutsche will keine Freiheit, denn für ihn wäre sie Selbstzerstörung.“

Vicki Baum, „Hotel Berlin“

Ja, man blinzle getrost mit den Augen: Auch das obige Zitat, auch das ist Vicki Baum. Was hier ein versoffener Schriftsteller, der „Staatsdichter“  der Nazi-Clique ausspricht, das klingt heute so fürchterlich aktuell, ein Jargon, ein Fabulieren, das einem leider bekannt vorkommt.

Die lange als Unterhaltungsschriftstellerin unterschätzte Österreicherin konnte anders, war anders als es viele der Klischees, die ihr bis heute anhaften, es vermuten lassen. Sie war in der Sprache oftmals leicht, aber nicht seicht. Und sie war vor allem auch mutig, kritisch, widerständig. Davon zeugt ihr Roman „Hotel Berlin“, den sie, die von den Nationalsozialisten ausgebürgert worden war, in ihrer neuen Heimat, in New York, bereits 1943 schrieb. Dort ist das Buch auch zuerst erschienen – und man merkt ihm an, wie sehr es Vicki Baum auch in Gedanken an die Menschen in der „alten“ Heimat geschrieben hat.

Wie “Menschen im Hotel”, nur düsterer

Im Grunde ist „Hotel Berlin“ eine Fortsetzung des Großstadtromans „Menschen im Hotel“: Einige der Charaktere kommen einem vertraut vor, einige der Szenen und Kulissen ebenso. Da tritt der ständige Hotelgast auf, ein abgehalfterter Arzt, der auf ein Telegramm wartet, eine Aufgabe, einen Sinn im Leben. Die exaltierte Diva, die plötzlich Herz entwickelt, der schmissige Leutnant, der nichts versteht. Doch es ist nicht das Berlin der Weimarer Republik mit seinem Tempo, seinem Takt, in dem dieses Buch spielt – sondern es ist das Berlin am Ende jener Jahre einer Diktatur, die Deutschland in den Abgrund riss.

Während auf die Stadt die Bomben der Alliierten fallen, ist das „Hotel Berlin“ Dreh- und Angelpunkt für Parteibonzen, Diplomaten auf dem Irrweg und Militärs, die von Pflicht- und falsch verstandenem Ehrgefühl geplagt werden. Es ist sozusagen das luxuriöse Herz der Finsternis. Und ausgerechnet in der Suite der Schauspielerin, die mit einem General liiert und von Hitler persönlich protegiert wird, flüchtet sich ein widerständiger Student, der der Gestapo buchstäblich vom Schafott hüpfte.

In den Fängen der Gestapo

Wie sich der kapriziösen Lisa die Augen öffnen, wie sich zwischen diesem ungleichen Paar eine Liebesgeschichte entwickelt: Das ist der äußere Rahmen, den die Unterhaltungsschriftstellerin wählte. Das ist manchmal ein wenig rührselig, manchmal ein kleines bisschen kitschig, aber es ist auch anrührend. Man hofft und fiebert dann doch bis zum Ende, dass diese Lisa ihren Martin aus dem Hotel und somit aus den Fängen der Gestapo retten kann.

Dass das Ganze jedoch nicht zu einer Schmonzette in finsteren Zeiten missrät, das ist dem Geschick der Schriftstellerin mit ihrem guten Blick für Typen und Charaktere zu verdanken: Obwohl bereits seit 1931 in den USA, zeichnet Vicki Baum ein treffendes, konkretes Bild von den Verstrickungen, Irrungen und Wirrungen. Wie Nazibonzen versuchen, vom Krieg zu profitieren, wie der Antisemitismus funktioniert, die Ausgrenzung ganzer Menschengruppen, wie Korruption und Grausamkeit Hand in Hand gehen und auch, wie und aus welchen Motiven sich der militärische Widerstand gegen Hitler tatsächlich formierte: Es ist erstaunlich, was alles die Schriftstellerin selbst in Übersee von den inneren Vorgängen in Nazi-Deutschland gewusst haben muss. Und wie sie es schafft, dies alles in einen scheinbar literarisch leichtgewichtigen Text zu packen.

In ihrem 1946 geschriebenen Vorwort gibt Vicki Baum Auskunft über ihre Informationsquellen:

„Ich sammelte jedes Fetzchen Information, das ich mir über Deutschland verschaffen konnte; es ist überflüssig zu sagen, daß die meisten dieser Berichte auf verschlungenen Wegen zu mir kamen: durch Mitglieder verschiedener Widerstandsbewegungen; als Mitteilungen, die aus Deutschland herausgeschmuggelt wurden, in Briefen und Erzählungen deutscher Kriegsgefangener, in Gesprächen mit Menschen, die in Gestapokellern gefoltert, in Konzentrationslagern bis an den Rand des Todes gebracht und wie durch ein irgendein Wunder entkommen waren.“

Ein Liebesroman, der eine politische, eine menschliche Botschaft und die Vision von einer besseren Gesellschaft beinhaltet. Ihrem Helden Martin, dem Studenten aus dem Widerstand, legt sie dies in den Mund:

„Es wird Frieden sein, und die Gefängnistüren werden sich öffnen, und wir alle werden zu dem einfachen Geschäft zurückkehren, das Leben heißt. Die Bauern auf den Feldern, die Arbeiter in den Fabriken, die Studenten in den Universitäten, die Wissenschaftler in den Laboratorien, die Frauen, die Kinder und die alten Männer: Sie alle werden nichts anderes tun als leben. Keiner wird Angst haben, und keiner wird gepeinigt werden, und keiner wird hinter Stacheldraht getötet und verscharrt werden. Keiner wird sich mehr schämen müssen. Ich spreche jetzt nicht von dem Kampf, der vorhergehen wird. Es wird ein grausamer Kampf sein, aber voll Hoffnung. Ich spreche von der Zeit danach, wenn alles wieder gut sein wird.“

Bereits 1943 warnt Vicki Baum auch davor, sich auf „gefährliche Simplifizierungen“ einzulassen, so beispielsweise, alle Deutschen als bösartige Feinde abzutun. Aber sie findet auch deutliche Worte zu Schuld und Verantwortung:

„Ausschließlich schlechte Menschen sind ebenso selten wie ausschließlich gute, hier sowohl wie im Feindesland. (…) Die Schuld am Krieg lag und liegt bei den deutschen Führern, die ohne jeden Grund die ganze Welt in dieses entsetzliche Elend stürzten. Aber die Verantwortung für den vernichtenden Ausgang dieses Krieges liegt beim deutschen Volk, das weder den Mut noch den Wunsch hatte, diese Führer abzusetzen, solange es noch Zeit dazu war.“

Allein dieses Zitat sagt auch mehr als deutlich: Es wäre auch eine arge Simplifizierung, in Vicki Baum nur eine Romanschriftstellerin mit Unterhaltungswert zu sehen…

Informationen zum Buch:

Vicki Baum
Hotel Berlin
Aus dem amerikanischen Englisch von Grete Dupont
Verlag Klaus Wagenbach, 2021
ISBN 978-3-8031-2840-9

Anna Seghers: Transit

Der 1944 erschienene Roman ist eine bewegende Darstellung dessen, was Exil und Flucht bedeutet. Und deshalb bis heute aktuell.

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„All diese alten, schönen Städte wimmelten von verwilderten Menschen. Doch es war eine andere Art von Verwilderung, als ich geträumt hatte. Eine Art Stadtbann beherrschte diese Städte, eine Art mittelalterliches Stadtrecht, jede ein anderes. Eine unermüdliche Schar von Beamten war Tag und Nacht unterwegs wie Hundefänger, um verdächtige Menschen aus den durchziehenden Haufen herauszufangen, sie in Stadtgefängnisse einzusperren, woraus sie dann in ein Lager verschleppt wurden, sofern das Lösegeld nicht zur Stelle war oder ein fuchsschlauer Rechtsgelehrter, der bisweilen seinen unmäßigen Lohn für die Befreiung mit dem Hundefänger selbst teilte. Daher gebärdeten sich die Menschen, zumal die ausländischen, um ihre Pässe und ihre Papiere wie um ihr Seelenheil.“

Anna Seghers, „Transit“, 1944


Ich könnte aus diesem Roman so vieles zitieren – und alles wäre hochaktuell. Jedes Zitat weckt Assoziationen zur Jetzt-Zeit. Schiffe voller Flüchtlinge, die sinken. Das Warten in den Städten am Meer auf die nächste Möglichkeit zur Reise. Das Ringen um Papiere, Visen, Aufenthaltsgenehmigungen, die Erlaubnis zur Weiterreise. Flüchtlingsgespräche:

„Welchen Zweck soll das haben, Menschen zurückzuhalten, die doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben?“

„Mein Sohn, weil sich alle Länder fürchten, daß wir statt durchzuziehen, bleiben wollen. Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, daß man nicht bleiben will.“

Aber vor allem immer auch: Die Ungewissheit, wohin es einen verschlägt. Was werden wird, wenn man überlebt. Was übrigbleibt vom alten Leben. Was mit denen ist, die man verlassen musste.

„Dreimal bin ich geschlagen worden, dreimal gesteinigt, dreimal hab ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht zugebracht in der Tiefe des Meeres, in Gefahr gewesen durch Flüsse, Gefahr in den Städten, Gefahr in der Wüste, Gefahr auf dem Meere.“

„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wußten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben.“

„Und wenn mein Leben vorerst nichts sein sollte als ein Herumgeschleudertwerden, so wollte ich wenigstens in die schönsten Städte geschleudert werden, in unbekannte Gegenden.“

Anna Seghers hat den Roman in den Winter 1940/41 angesiedelt: Nach der Invasion der Deutschen im Sommer 1940 flüchtet sie mit ihren Kindern aus Paris nach Marseille. Es gelingt ihr, Einreisegenehmigungen für Mexiko zu erhalten: 1941 besteigt sie mit ihrer Familie ein Schiff, dass sie in das rettende Land bringt. 1947 kehrt sie nach Berlin zurück. Ihr Roman „Transit“ ist da bereits in verschiedenen Sprachen erschienen, erstmals 1944 in englischer Sprache. Erst 1948 kommt er auch in deutscher Sprache heraus: Eine bewegende Darstellungen dessen, was Exil und Flucht für den Einzelnen bedeutend kann.

Die Verantwortung der Schriftsteller

Allerdings ging es der Schriftstellerin „um mehr und anderes als um ein dokumentarisches Abbild der Realität jener Zeit“, betont Sonja Hilzinger 1993 in einem Nachwort in einer Ausgabe des Romans im Aufbau Verlag. „In diesem Roman stehen (…) das Schreiben, das Erzählen, die Aufgabe und die Verantwortung des Schriftstellers zur Diskussion.“ An Georg Lukács schreibt Seghers: „Diese Realität der Krisenzeit, der Krieg usw. muß (…) erstens ertragen, es muß ihr ins Auge gesehen und zweitens muß sie gestaltet werden.“

So ist „Transit“ zugleich ein Zeitdokument, das heute wieder an Aktualität gewinnt und eine literarisch anspruchsvolle und bewegende Erzählung. Anna Seghers stellt einen Ich-Erzähler in den Mittelpunkt, um den eine Vielzahl von anderen Figuren gruppiert ist: Alles Menschen auf der Flucht, Dutzende von Einzelschicksalen, für die das Exil vor allem eines bedeutet – Verlust. Verlust nicht nur in emotionaler und materieller Hinsicht, sondern auch an Würde und Solidarität. Die Flüchtlinge werden zur Nummer, deren Wert sich an ihren Papieren misst. Sie werden zu Opfern von „Fluchthelfern“, deren Geschäft die Not der anderen ist. Und aus den Opfern werden ebenfalls Täter: Sie lassen, um eines Stempels, einer Möglichkeit willen, andere im Stich, verkaufen und verraten Freunde und Angehörige.

Eine Existenz im Exil

Seghers nutzt wie in das „Das siebte Kreuz“ die Episodentechnik: So gelingt es ihr anhand der einzelnen Protagonisten ein umfassendes Bild der Existenzbedingungen im Exil zu zeichnen, aufzuzeigen, was das bedeuten kann, der Weg in die Emigration. Der immer auch ein Weg der Ent-Menschlichung ist. Wo der Wert eines Menschen an seinen Papieren gemessen wird, wie es Brecht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ zum Ausdruck bringt:

“Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“

Der Identitätsverlust kann noch weiter reichen – wie es Seidler, dem Ich-Erzähler, beinahe geschieht, bis hin zur Auflösung des eigenen Ichs. Seidler, ein antifaschistischer Arbeiter, gelangt in Paris durch Zufall an die Papiere eines toten Schriftstellers, dessen Identität er in Marseille (fast ebenso zufällig) annimmt. In der Hafenstadt verliebt er sich jedoch in Marie – die Frau jenes Schriftstellers, die mit einem anderen Mann auf Papiere und eine Schiffspassage wartet, zugleich jedoch auch auf den verstorbenen ehemaligen Geliebten. Seidler kann letztlich Marie zur Ausreise bewegen – er selbst bleibt zurück, um wenig später zu erfahren, dass das Schiff, auf dem Marie sich befand, im Atlantik versenkt wurde.

Doch, so Sonja Hilziger, der Erzähler lernt, die Transit-Welt und seine Rolle zu durchschauen: „So gelingt es ihm, seine Identität zu bewahren. Transit ist das Zeichen dieser Zeit im umfassenden Sinn; gemeint ist nicht nur das Papier, das Visum, sondern das Transitäre dieser Welt, in der jeder jeden im Stich läßt. Der Erzähler lernt, solidarisch zu handeln; die Grundform dieses sozial-kommunikativen Verhaltens ist das Zuhören.“

Ich wünschte mir, viele Menschen würden dieser Tage Erzählern der Emigration vergangener Tage zuhören.

Allen voran Anna Seghers.

„Ich aber, ganz elend von dem Transitgeflüster, ich staunte sehr, wenn ich derer gedachte, die in den Flammen der Bombardements und in den rasenden Einschlägen des Blitzkriegs zugrunde gegangen waren, zu Tausenden, zu Hunderttausenden, und viele waren daselbst auch zur Welt gekommen, ganz ohne Kenntnisname der Konsuln. Die waren keine Transitäre gewesen, keine Visenantragsteller. Die waren hier nicht zuständig. Und selbst wenn von diesen Unzuständigen einige sich bis hierher gerettet hatten, an Leib und Seele noch blutend, sich in dieses Haus hier doch noch geflüchtet hatten, was konnte es einem Riesenvolk schaden, wenn einige dieser geretteten Seelen zu ihm stießen, würdig, halbwürdig, unwürdig, was konnte es einem großen Volk schaden?“


„Aufstand der Fischer von St. Barbara“ (1928).

 „Über den Tisch weg sahen die Frauen in den Augen ihrer Männer ganz unten etwas Neues, Festes, Dunkles, wie den Bodensatz in Ausgeleerten Gefäßen.“

Als einer von außen, ein geübter Revolutionär, nach St. Barbara kommt, kommt  kurz Hoffnung auf – Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch der Widerstand der Fischer und ihrer Familien, die für eine Reederei mit Monopolstellung für einen Hungerlohn arbeiten, wird gebrochen. Alles bleibt, wie es ist. Und dennoch: Trotz des Scheiterns hinterlässt diese schmale Erzählung den Eindruck einer Kraft, die nicht so schnell gebrochen werden kann.

Die Erzählung ist das erste Buch, mit dem Anna Seghers in die Öffentlichkeit trat. Wenig später erhielt sie für diese in nüchterner, spröder Sprache erzählten Geschichte eines gescheiterten Aufstandes den Kleist-Preis. Von den reaktionären Medien wurden Seghers und Hans Henny Jahn, 1928 Vertrauensmann der Kleist-Stiftung, heftig angegriffen, bei anderen traf sie auf großen Beifall: Mit ihrer Erzählung, die örtlich und historisch unbestimmt bleibt, erfasste sie eine Stimmung, die in der von Krisen geschüttelten Weimarer Republik spürbar war.

Hans Henny Jahn in seiner „Rechenschaft über den Kleistpreis“:
„Ein gutes Buch mit knapper und sehr deutlicher Sprache, in dem auch die geringste Figur Leben gewinnt. In dem die Tendenz schwächer ist als die Kraft des Menschlichen. Es ist ein Daseinsvorgang in fast metaphysischer Verklärung. Das nenne ich Kunst.“

Ignazio Silone: Vino e pane

Silone schrieb dieses Buch 1936 im Schweizer Exil. Es gilt seither als eines der wichtigsten Bücher der italienischen Resistenza-Literatur.

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Cristina, schrieb er, es ist richtig, dass man besitzt, was man hingibt, aber wem und wie soll man geben? Unsere Liebe, unsere Bereitschaft zum Opfer und zur Selbstverleugnung trägt nur Frucht, wenn sie in die menschlichen Beziehungen hineingetragen wird. Die moralischen Kräfte wachsen und gedeihen nur im praktischen Leben. Wir sind nicht nur für uns selbst verantwortlich, sondern auch für die anderen.
Wenn wir empfinden, dass um uns her das Böse herrscht, können wir nicht untätig bleiben und uns mit der Aussicht auf eine überirdische Welt trösten. Das Böse, das bekämpft werden muss, ist nicht das abstrakte Wesen, das man den Teufel nennt; das Böse ist all das, was Millionen von Menschen hindert, im wahrsten Sinne menschlich zu sein. Und dafür sind wir mit verantwortlich…

Ignazio Silone, „Wein und Brot“, 1936


1936 schrieb Silone dieses Buch im Schweizer Exil, das zunächst unter dem Titel „Brot und Wein“ erschien und seither als eines der wichtigsten Bücher der italienischen Resistenza-Literatur gilt.
Silone überarbeitete seinen Roman nochmals 1955. Und trotz bleibender stilistischer Mängel – manches wirkt unausgereift, manchmal bricht die politische Botschaft zu unmittelbar in die Prosa ein – ist und bleibt „Wein und Brot“ oder eben „Vino e pane“ ein berührendes, packendes Werk.

Armut in den Abruzzen

Der kommunistische Widerstandskämpfer Pietro Spina ist aus dem Exil zurück nach Italien gekommen. Doch kaum betritt er heimischen Boden, sind die faschistischen Häscher hinter ihm her. Er muss sich, ausgerechnet im Gewand eines Priesters, in einem ärmlichen Bergdorf in den Abruzzen verstecken. Hier trifft er auf besitzlose Landarbeiter und Tagelöhner, für die die Ankunft eines neuen Priesters beinahe einem Wunder gleicht. Zerrissen zwischen politischen Idealen, den Zweifeln an den Doktrinen seiner Partei, der Ohnmacht angesichts der Verhältnisse und seiner erzwungenen Untätigkeit ringt Spina ständig mit seinem Gewissen und seiner Gesundheit. Zudem lernt er die junge Cristina kennen, die eigentlich dazu bestimmt ist, Nonne zu werden. Er verliebt sich in sie, kann jedoch kaum im Gewand eines Geistlichen Avancen machen.

Neorealistische Elemente

„Wein und Brot“ ist ein Abenteuerroman, ein Heimatroman und ein Liebesroman mit neorealistischen Elementen. Silone zeichnet die Notlage der Kleinbauern und Landarbeiten mit viel anteilnehmender Sympathie. Diese kämpfen täglich ums Überleben – da bleibt nur politische Apathie oder der Hang zu Extremen, sei es der Glaube wahlweise an den Kirchenmann oder die Kräuterhexe, sei es die Hoffnung auf einen befreienden Sozialismus oder einen siegreichen „Duce“.

Etwas aufgesetzt wirkt zuweilen die Verbindung von Politik und Religiosität. Silone selbst war ein sozialistischer Christ, der sich, vor allem, als der Stalinismus die kommunistischen Ideale pervertierte, von der kommunistischen Partei abwandte.

„Das ist das traurige Schicksal aller Bewegungen, die sich das Heil der Menschheit zum Ziel gesetzt haben: Sie werden zu Fallen, in denen der Mensch sich selbst verliert.“

Sozialistische Predigten und christliche Symbolik – bis hin zum bitteren Ende, da Cristina, die Unschuld, der Naturgewalt zum Opfer fällt, niederkniend und das Kreuz schlagend ihr Ende erwartend – das könnte mühsamer Lesestoff sein. Doch Silone vermochte es dennoch, seine „Botschaft“ in einen Roman zu packen, der einen, auch aufgrund seiner schlichten Erzählweise, nicht unberührt lässt. Zudem sind die Fragen, wie denn die beste aller Welten zu erreichen sei, zeitlos und dürfen, auch in ruhigen Zeiten, immer wieder gestellt werden.

Auflockernder Humor

Auflockernd wirkt zudem der Humor des Schriftstellers. So sieht die Wirtin des falschen Priesters in ihm beinahe den Messias wieder herabgekommen auf Erden:

“Was muss man den tun, fragte Matalena, wenn er wirklich Jesus ist? Muss ich Don Cipriano benachrichtigen? Oder die Carabinieri?
An der Tür des Wirtshauses hing eine Tafel mit polizeilichen Bestimmungen, aber die Ankunft Jesu war darin nicht vorgesehen.”

Silone (1900-1978) stammte selbst von Kleinbauern aus den Abruzzen ab. Bereits 15jährig wurde er Vollwaise, seine Mutter und fünf seiner Geschwister kamen bei einem Erdbeben ums Leben. Schon als junger Mann setzte er sich als Gewerkschafter und Journalist für eine Verbesserung der Verhältnisse für die Landarbeiter ein. Als Mitglied der kommunistischen Partei musste er nach der Machtergreifung Mussolinis abtauchen und ins Exil. Dort wurde er jedoch wegen seiner Kritik am Stalinismus 1931 aus der KP ausgeschlossen. Ab 1944 wieder in Italien, gründete er eine eigene Splitterpartei im Sinne eines humanen christlichen Sozialismus, wendete sich dann später ganz von der Politik ab und konzentrierte sich auf das Schreiben.


Die deutschsprachigen Ausgaben seiner Bücher erschienen bei Kiepenheuer & Witsch. Auf der Verlagsseite findet sich auch ein kurzes Portrait von Silone.

Informationen zum Buch:

Ignazio Silone
Wein und Brot
Übersetzt von Hanna Dehio
KiWi-Taschenbuch 1984
ISBN: 978-3-462-01633-8