Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde

Veronika Eckl bewundert die Kunstfertigkeit von Jhumpa Lahiri und begleitet deren Protagonistin bei ihren Streifzügen durch Rom.

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EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Wenige Schriftsteller schlagen in ihrem Leben solch geographische Kapriolen. Jhumpa Lahiris Weg ging so: Geboren in London als Tochter bengalischer Immigranten, aufgewachsen in Rhode Island, Creative Writing-Studium in Boston. Dann aber, als späte Folge einer prägenden, frühen Reise nach Florenz: Umzug mit Mann und Kindern nach Rom. Als ob ihr Indien und die USA, das Bengalische und das Englische, nicht genügt hätten. Ausschlaggebend für den Beginn eines neuen Leben in Italien waren allerdings nicht Kunstschätze, Mittelmeer und Cappuccino, sondern, so hat es Jhumpa Lahiri oft und gern erklärt, ein colpo di fulmine, eine Art Liebe auf den ersten Blick, und zwar die zur italienischen Sprache. So groß ist diese Liebe, dass Lahiri nach nur vier Jahren in Rom auch gleich einen Roman auf Italienisch schrieb, der nun wiederum ins Deutsche übersetzt wurde: Dove mi trovo, Wo ich mich finde, eine Doppeldeutigkeit ist hier sicher gewollt, denn man könnte auch übersetzen: Wo ich mich befinde.

Trägerin des Pulitzer-Preises

Das alles ist umso erstaunlicher, als Lahiri Pulitzer-Preisträgerin ist, deren Erzählungen und Romane sich bisher hauptsächlich um indische Einwanderer in den USA drehten: Melancholie der Ankunft war der Titel ihres Debüts, einer Sammlung Kurzgeschichten mit einem ganz eigenen, starken Sog. Romane wie Der Namensvetter und Tiefland folgten. Nun aber geht es auf die Straßen und Piazze einer namenlos bleibenden Stadt, die jedoch unschwer als Rom zu erkennen ist. Und die Heldin ist eine Römerin Mitte Vierzig, die an der Uni arbeitet und ohne Mann und Kinder ihrer Wege geht. Mehr Abkehr von Lahiris Familiensagas könnte nicht sein.

Die Autorin bürdet ihrer Protagonistin eine schwere Bürde auf: Die Tatsache, dass diese Frau alleinstehend ist, scheint ihr ganzes Leben zu bestimmen. Während die anderen mit überquellenden Einkaufswägen durch die Supermärkte hasten, ihre mehr oder weniger anstrengenden Kinder bespaßen und zum Geburtstag der Schwiegermutter eilen, streift sie als Beobachterin durch die Stadt, eine Flaneurin mit Blick für die Details. Sie geht ins Museum, ins Schwimmbad, in die Trattoria, in die Buchhandlung. Sieht sich die Menschen, denen sie begegnet, gut an und denkt über sie und ihre Schicksale nach. Nimmt wahr, wie unterschiedlich die Stadt zu verschiedenen Jahreszeiten ist. Und: Sie ist eine Chronistin der Veränderungen, die diese erleiden muss. Mit Hingabe und Präzision beschreibt Lahiri etwa einen alten, von einer Familie geführten Schreibwarenladen, der eines Tages einem Geschäft mit billigen Koffern für Touristen weichen muss. Besser kann man nicht zeigen, was sich in vielen europäischen Metropolen derzeit abspielt.

Einzelgängertum als Lebensweise

Allerdings lässt Lahiri ihre Protagonistin diese Freiheit, zu gehen und zu schauen, nicht genießen. Obwohl die Römerin sich offensichtlich nie eine Familie gewünscht hat und selbstbestimmt lebt, liegt ein Schatten über ihren Wegen, nicht nur dann, wenn sie ihre alte Mutter besucht: „Das Einzelgängertum ist mein Metier geworden. Es ist eine eigene Disziplin. Ich versuche, mich in ihr zu perfektionieren, und doch leide ich darunter“, erklärt sie freimütig. Immer scheint das Leben der Anderen irgendwie spannender zu sein: Sie sind ständig auf Achse, spielen mit ihren Kindern im Meer, haben im Zug den besseren Proviant dabei und die interessanten Männer – die sich dann doch oft als gar nicht so interessant entpuppen – sind sowieso immer verheiratet. Irgendwann möchte man die Signora, die doch feinfühlig, empathisch, an allem interessiert und offenbar auch bei anderen beliebt ist, geradezu schütteln und ihr zurufen, sie solle einfach mal leben, statt sich über Sandwiches ohne Geschmack und verunglückte Mäuse im Landhaus der Freundin zu grämen. Immerhin wird ihr am Ende noch eine Veränderung gegönnt, doch den Leser beschleicht das Gefühl, dass sich in diesem Leben trotzdem nicht mehr viel wenden wird.

Bei aller Achtung für die Beobachtungsgabe dieser Autorin, für die Kunstfertigkeit, mit der diese kleinen Kapitel verfasst sind, für diese ungemeine Leistung, in einer anderen Sprache als der Muttersprache, in einem anspruchsvollen Italienisch einen Roman zu schreiben, sich in einem anderen Idiom neu zu erfinden – ein bisschen bedauerlich ist es trotzdem, dass nicht einmal Frauen anno 2020 anderen Frauen die Möglichkeit zugestehen, alleine zu leben und dabei mehr als nur einigermaßen zufrieden zu sein.

Informationen zum Buch:

Jhumpa Lahiri
Wo ich mich finde
Aus dem Italienischen von Margit Knapp
Rowohlt Verlag, 2020
ISBN 978-3-498-00110-0

Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Olga Tokarczuk: Gesang der Fledermäuse

Veronika Eckl meint: Mit dem Roman “Gesang der Fledermäuse” ist Olga Tokarczuk die Frau der Stunde. Sie feiert die Tiere und betrachtet Menschen mit Skepsis.

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EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

In den Tagen der Corona-Stille schlug die Stunde der Tiere. Die Vögel sangen sich die Seele aus dem Leib, ganz ungestört von Flugzeugen und morgendlichem Verkehrslärm. Auf den Feldern standen ohne Scheu die Rehe, und durch die Parks in den Städten konnte man mit etwas Glück wilde Hasen hoppeln sehen. Es war, als ob die Natur aufatmen würde, und es ist auch jetzt noch, da die Betriebsamkeit wieder zurückgekehrt ist, die richtige Zeit, um Olga Tokarczuk zu lesen, die polnische Literaturnobelpreisträgerin, die die Tiere feiert und den Menschen mit einer großen Portion Skepsis gegenübersteht. Ihr Roman Gesang der Fledermäuse erschien in Polen schon lange vor der neuen Pandemie-Zeitrechnung, nämlich 2009, bevor wir wussten, was Kontaktbeschränkungen sind und begannen, Waldspaziergänge zu unternehmen, statt uns in Kinos und Bars zu vergnügen.

Der Kommissar, die Rehe und der Kostümball der Pilzsammlergesellschaft

Jetzt ist Tokarczuk die Frau der Stunde. Denn die Heldin ihres skurrilen kleinen Kriminalromans, oder vielmehr der Parodie eines solchen, macht uns vor, wie man bescheiden, fern vom geschäftigen Treiben der Welt und doch heiter lebt: Inmitten einer Natur, die das Einkaufszentrum ersetzt, das Fitnessstudio und ja, auch menschliche Gesellschaft. Kontaktbeschränkungen jedenfalls wären für Janina Duszeijko kein Problem. Die ehemalige Brückenbauingenieurin, die auf einem einsamen Hochplateau an der polnisch-tschechischen Grenze wohnt, dort im Winter auf die Ferienhäuser der Sommerfrischler aus der Stadt aufpasst und in der Dorfschule Kindern Englisch beibringt, kommt gut mit sich allein zurecht. Sie studiert den Sternenhimmel und erstellt Horoskope, beobachtet die Natur im Wechsel der Jahreszeiten und hält die Einsamkeit in dieser Gegend ohne anständig funktionierendes Mobilfunknetz viel besser aus als die Tatsache, dass der Nachbar Rehe in Drahtschlingen fängt und die Füchse in der nahen Fuchsfarm in ihren Käfigen leiden. Den örtlichen Polizeibeamten geht die ältere Dame gewaltig auf die Nerven, weil sie die Tierquälerei hartnäckig zu Protokoll gibt und überdies aus ihrer Abneigung gegen die Jagd keinen Hehl macht – und das in einer Gegend, in der es vor begeistert Fasane und Rehe schießenden Männern nur so wimmelt. Sogar der Pfarrer geht auf die Pirsch.

Olga Tokarczuk entführt in eine bizarr anmutende Welt

Es ist eine bizarr anmutende Welt, in die Tokarczuk ihre Leser da mitnimmt, eine, in der die Menschen, die mit ihren teuren Jeeps auf das Hochplateau kommen, sich die Natur ohne viel Federlesens untertan machen und in der die Tiere sich gleichzeitig fast unbemerkt der Lebensräume der Menschen bemächtigen. Im Ferienhaus des Professors schlafen Fledermäuse, in dem der Schriftstellerin leben Marder, und immer wieder finden sich im Schnee Spuren von Rehklauen. Janina ist mit den Tieren und Pflanzen mehr auf einer Wellenlänge als mit den Menschen, äußert sich zu ihrem eigenen Gesundheitszustand so: „Ich war schwach wie ein im Keller gewachsener Kartoffeltrieb.“ Sie weiß, wann welche Blumen die Farben in den Wiesen explodieren lassen und kennt den Fuchs, der sie zu gewilderten Wildschweinkadavern führt, als wäre sie eine Anwältin der Natur.

Kein Wunder also, dass Janina eine gewisse Faszination und Genugtuung verspürt, als zunächst ihr Nachbar an einem Rehknochen erstickt, dann der Kommissar tot in einem Brunnen gefunden wird und schließlich auch noch der Besitzer der Fuchsfarm ums Leben kommt. Ihre These, mit der sie ihre ganze Umgebung und natürlich die Polizei nervt: Die Tiere haben ihre Peiniger ermordet, aus Rache. Da stöhnen sogar ihre einzigen Freunde, ihr ehemaliger Schüler Dyzio und die Secondhand-Laden-Besitzerin Buena Noticia aus der Stadt. Nur so viel sei verraten: Zum Showdown kommt es beim Kostümball der Pilzsammlergesellschaft „Der Steinpilz“.

Zivilisationskritik und Naturmystik

Das alles ist ganz unerhört und immer wieder sehr lustig – man muss erst einmal auf die Idee kommen, dem Pfarrer Zitate aus authentischen Predigten von Jagdpriestern in den Mund zu legen – hat aber ein solides pessimistisch-zivilisationskritisches Fundament. „Die Tiere sagen etwas über das Land. Die Beziehung zu den Tieren verrät, wie es um das Land bestellt ist“, schleudert Janina den Polizeibeamten ins Gesicht. Zusammen mit ihrem ehemaligen Schüler übersetzt sie die Gedichte des englischen Dichters und Naturmystikers William Blake; einem jeden Kapitel des Romans ist ein Zitat aus seinen Werken vorangestellt. Damit reihen sich die Protagonistin und ihre wenigen Vertrauten ein unter die Menschen, die, wie es Blake geschah, von ihren Zeitgenossen als Spinner abgetan werden.

Tokarczuks Sympathie gilt den Schrulligen und Sonderlingen. Klar, dass nur eine so einzigartige Gestalt wie der Insektenforscher Borys Janinas Herz erobern kann – für ein Paar Tage wird der Wissenschaftler, der auf der Hochebene nach dem Scharlachkäfer sucht, ihr Liebhaber. Dass er fortgeht und sich nicht mehr meldet, nimmt sie stoisch hin; das Schlechte im Menschen überrascht eine Janina Duszeijko nicht mehr. Spätestens hier wird klar, dass auch das Altern ein großes Thema des Romans ist. Die selbsternannte Einsiedlerin hat offensichtlich beschlossen, bei der großen Jagd aufs große Glück nicht mehr mitzumachen und sich selbst nicht so wichtig zu nehmen: „Wenn ich auf meinen Rundgängen über die Felder und das Brachland gehe, dann stelle ich mir gerne vor, wie das alles in einer Million Jahren aussehen wird. Wird es dann noch die gleichen Pflanzen geben? Und die Farbe des Himmels, wäre sie noch genauso wie heute?“, fragt sie sich, um gleich darauf in gelassener Resignation festzustellen; „Meine Bemühungen hier sind so gut wie nichts, sie haben auf der Spitze einer Stecknadel Platz, so wie auch mein Leben. Das muss ich mir vor Augen halten.“

Und der Mörder? Ach, egal. Viel wichtiger ist, dass man nach der Lektüre dieses Romans Lust hat, in Janinas Gesellschaft in einer Tasse Schwarztee zu rühren, aus ihrem Mund noch mehr solche Sätze zu hören und sich von ihr ein Horoskop erstellen zu lassen. Mal sehen, was die Zukunft so bringt.


Informationen zum Buch:

Olga Tokarczuk
Gesang der Fledermäuse
Aus dem Polnischen von Doreen Daume.
Kampa Verlag, 307 Seiten, 24,00 Euro


Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Dana von Suffrin: Otto

Veronika Eckl hat diesen Roman begeistert gelesen: “Schwer und gleichzeitig leicht ist die Sprache, lakonisch und von einer bezaubernden Altmodischkeit”.

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EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Zugegeben, ich habe diesen Roman in den letzten Wochen immer wieder vom Wohnzimmertisch zum Küchentisch zum Schreibtisch getragen und zurück. „Pflegefall“ und „Abschied“, diese beiden Wörter auf dem Cover hatten genügt, um mir jede Lust auszutreiben, ihn zu lesen. Aus dem Fernseher fluteten die Bilder aus Italien, wo das Coronavirus gerade eine ganze Generation hinwegfegt. Am Telefon berichteten Freunde von ihren gelingenden oder misslingenden Versuchen, die alten Eltern zum Daheimbleiben zu bewegen, und vom Ringen mit dem Hefeteig für den Osterzopf, den in normalen Zeiten ja doch meistens die Mütter über siebzig backen, während die Väter über achtzig die Zeitung lesen und sich schon darauf freuen, die an den Feiertagen angereisten erwachsenen Kinder mit politischen Debatten und ausschweifend vorgetragenen Erinnerungen an die eigene Vergangenheit in Beschlag zu nehmen.

Gelungener Debütroman

Meine Eltern habe ich an Ostern brav nicht besucht und dafür dann doch Dana von Suffrins Debütroman gelesen. Und laut gelacht über Otto, den wie Jesus Christus immer wieder auferstehenden jüdischen Patriarchen, der seinen beiden Töchtern mit einer gewissen Impertinenz die Familiengeschiche zu vermitteln versucht und gar von der Ich-Erzählerin Timna fordert, diese aufzuschreiben – wohl weil er, wieder einmal aus dem Krankenhaus entlassen, spürt, dass er nun endgültig am Ende seines Lebens steht. Otto kommt ursprünglich aus Rumänien, aus Siebenbürgen, der Roman ist jedoch in München angesiedelt, wo er den größeren Teil seines Lebens als Ingenieur verbracht hat und auf seine alten Tage stolzer Besitzer eines Truderinger Reihenhauses geworden ist, eines Neubaus, der Timna nicht gefällt, dessen Erwerb sie aber psychologisch fein einzuordnen weiß: „Doch Otto wollte (…) das Haus ohne Zeit und Geschichte, vielleicht weil er selbst so viel Geschichte in sich hatte, dass er nicht von weiteren Geschichten umgeben sein wollte.“ Dort wickelt er die Fernbedienung in Frischhaltefolie ein, archiviert seine Ex-Frauen in Ordnern und hängt keine Bilder an die Wände, um diese zu schonen. Seine Töchter hält er mit „schönen Bitten“ auf Trab, eine davon wurde der Erzählerin von klein auf eingebleut: den Vater im Alter nie in ein Heim zu stecken, denn das sei „ein Ort mit lauter alten Nazis ohne Zähne“.

Timna engagiert also über greise Siebenbürger Bekannte eine Pflegerin aus Ungarn, mit der sie nur über den Google Translator kommunizieren kann, deren Freizeitbeschäftigung darin besteht, bei Lidl ungarische Salami einzukaufen und deren gefälschter pinker Adidas-Jogginganzug die Schwestern fasziniert – allein schon die hier abgelieferten Beschreibungen machen den Roman unbedingt lesenswert. Und als die Erzählerin, eine promovierte Philosophin, die wie die Münchnerin Dana von Suffrin an der Uni arbeitet, den unterbezahlten Job dort verliert, beschließt sie, der Bitte ihres Vaters doch nachzukommen, ihm zuzuhören und seine Geschichte aufzuschreiben.

Erinnerungen an die jüdische Welt von Kronstadt

Es geht wild hin und her, vor Zeitsprüngen und plotfreier Erinnerungsfülle hat die Autorin keine Angst, aber das Ganze ist so unterhaltsam und durch und durch tragikomisch, dass man gerne mit ihr durch die vergangenen Jahrzehnte wirbelt. Denn Timna selbst steht verwirrt und ein wenig ratlos vor Ottos Erinnerungen an die untergegangene Welt der religiösen Juden von Kronstadt, sie, die durchaus selbstironisch zugibt, zum Missfallen des Vaters von jüdischen Sitten und Gebräuche wenig Ahnung zu haben. Bei den Synagogenbesuchen ihrer Kindheit und Jugend habe man sie und die Schwester nur eingelassen, weil der Vater dabei gewesen sei, sie selbst hätten an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, freundlich „Herzlichen Glückwunsch“ gewünscht statt „Gute Unterschrift“, oh je.

Pessach-Fest in Trudering

In dem Maße, in dem Ottos körperlicher und geistiger Verfall fortschreitet, wird auch das Pessach-Fest am Esstisch in Trudering mehr und mehr zum Debakel. Und Israel, wohin Ottos Eltern mit ihm 1962 emigrierten, erscheint den Töchtern, Münchner Teenagern aus dem Penthouse im Olympiadorf, nicht als gelobtes Land, sondern vielmehr als Ort der Langeweile. In den Sommerferien im Plattenbau in Haifa – einem Relikt aus der Jugendzeit des Vaters, das er liebt – vertreiben sie sich die Zeit, indem sie aus Deutschland mitgeschlepptes Katzenfutter an streunende Katzen verfüttern. Das war’s dann auch schon fast mit Israel-Erinnerungen.

Natürlich liegt der Schatten des Holocaust, dem die Vorfahren zum Opfer fielen, dunkel über dieser Familiengeschichte. Ganz normal erscheint es der Erzählerin, dass der Vater immer, auch im Krankenhaus, ein „Tascherl“ dabeihat mit Kopien von Ausweisen, Geburtsurkunden und Abschlusszeugnissen, „falls wir deportiert werden sollten“. Aber Dana von Suffrin hat kein Buch über den Holocaust geschrieben, sondern darüber, wie die Generation der später Geborenen heute mit diesem Erbe lebt. Sie beschreibt, wie sehr Kinder doch Produkte ihrer Eltern sind und die wiederum Produkte ihrer Eltern. „Ihr könnt ganz alte Kühe werden, für mich seid ihr Kinder!“, schleudert Otto, der durchaus despotische Züge hat, seinen Töchtern entgegen. Und ihr Roman ist auch eine Liebesgeschichte, denn Timna lernt auf dem Krankenhausflur ihren Freund kennen, dessen Kindheitswelt im niederbayerischen Gäuboden sich zwar von ihrer stark unterscheidet, wo es aber auch zu kleine Familien und Skurrilitäten und Tragödien gibt. So finden sich zwei, die eine Ahnung haben davon, was Schwere ist.

Sprache von bezaubernder Altmodischkeit

Schwer und gleichzeitig leicht ist auch Dana von Suffrins Sprache, mit herrlich dahinmäandernden Sätzen, lakonisch und zugleich von einer bezaubernden Altmodischkeit, wenn Timna etwa mit ihrem Freund streitet und es dann heißt: „(…) ich genierte mich, und ich wurde gering.“ Welchem Jungautor einer der literarischen Kaderschmieden des Landes würde heute so ein Satz in die Tasten fließen? Allein schon die Kapitelüberschriften sind kleine Meisterstücke in humorvoller Präzision.

Also, lesen. Vielleicht gerade jetzt, in Zeiten der Schwere, wo man sich selbst nicht gar so selbstoptimierend wichtig nehmen sollte. Am Ende des Romans heißt es: „Meine Gedanken waren kein Monument, meine Familie war nicht bedeutend, und meine Geschichte war es nicht. Nichts davon verdient eine Gedenkstätte.“


Informationen zum Buch:

Dana von Suffrin
Otto
Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2019
ISBN: 978-3-462-05257-2


Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Karen Köhler: Miroloi

Karen Köhlers lang erwarteter Debütroman löst auch bei Veronika Eckl Befremden aus: Eine überzogen konstruierte Geschichte, wie unsere Gastautorin meint.

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Bild von NIKOS ABLIANITIS auf Pixabay

EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Neugierig erwartet wurde der Debütroman von Karen Köhler. Doch als er dann da war, brach in der Literaturkritik Ratlosigkeit aus. Jan Drees fand im Deutschlandfunk zum Phänomen der gehypten Romane deutliche Worte.

Immerhin: “Miroloi” schaffte es auf die Longlist beim Deutschen Buchpreis, unter den sechs Finalisten ist er jedoch nicht mehr zu finden. Warum, das lässt der Gastbeitrag von Veronika Eckl erahnen.

Also. Da war diese Entdeckung im Herbst vor fünf Jahren, Karen Köhler, eine noch jung zu nennende Autorin aus Hamburg. Sie hatte einen Band mit Erzählungen geschrieben, Wir haben Raketen geangelt, die mit raketenartigem Temperament und einem ganz besonderen Sound daherkommen und im Gedächtnis haften bleiben, weil sie ungewöhnlich sind und häufig auch witzig konstruiert, immer mit einer unerwarteten Wendung. Es geht darin um junge Ich-Erzählerinnen in Ausnahmesituationen, die stets einen harten Cut machen: Die eine versucht eine Trennung dadurch zu überwinden, dass sie auf einem Kreuzfahrtschiff als Qualle im Bordmusical jobbt – und kurzentschlossen auf den Lofoten aussteigt. Eine andere setzt alles daran, herauszufinden, wer die junge Frau ist, die das Herz ihres verstorbenen Freundes bei einer Transplantation eingepflanzt bekommen hat. Wieder eine andere schreibt ihrem Freund Postkarten aus Italien, neben den Ansichten von Neapel, Ischia und Stromboli entfaltet sich so ein ganzes Seelenpanorama weiblicher Verlorenheit. Das muss man nicht immer alles ganz groß finden, aber gut zu lesen sind die neun Stories, temporeich, mit einer sensiblen Wucht verfasst. Alle weiblichen lesenden Freundinnen waren von dem Buch angetan, alle männlichen lesenden Freunde schnauften und sagten, es sei wohl mehr was für Frauen. Nur eine Erzählung fanden alle gleichermaßen ein wenig befremdlich: Die, in der sich eine junge Frau auf einem Hochsitz im Wald 27 Tage lang zu Tode hungert. Naja, eine Geschichte von neun, extrem, etwas übers Ziel hinausgeschossen vielleicht, aber das ist natürlich Geschmackssache.

Miroloi bedeutet Totenklage

Und jetzt: Herbst 2019, der erste Roman von Karen Köhler, Miroloi lautet der Titel, was in der Tradition der griechisch-orthodoxen Kirche eine Totenklage bedeutet. Und leider, es geht befremdlich weiter in Köhlers Schreiben. Erneut ist die Protagonistin eine junge Frau, die auf einer vage griechisch wirkenden Insel in einer unbestimmten Zeit ihr Dasein fristet, und zwar als Findelkind ohne Namen in einer archaischen Gesellschaft. Sie wächst beim religiösen Oberhaupt des Dorfes auf, der das Mädchen gut behandelt und es gegen die Anfeindungen einer gehässigen Gemeinschaft verteidigt, ihm sogar das Lesen beibringt, was streng verboten ist: Auf der Insel, auf der man ohne elektrischen Strom auskommt, dürfen Frauen nicht lesen und schreiben, Männer nicht singen und kochen, obwohl sie alle immerhin in einer Zeit leben, in der es bereits Klimaanlagen gibt und Plastikflaschen, die von „drüben“ angespült werden. Auf Regelverstöße stehen brutale Sanktionen, was auch die Heldin schon zu spüren bekam, der als Kind ein Bein zerschlagen wurde. Fast überflüssig zu sagen, dass sexueller Missbrauch, arg klischeehaft natürlich vom Lehrer des Dorfes betrieben, aber auch von anderen Männern, an der Tagesordnung ist. Es ist eine Insel, auf der die Frauen unglücklich sind und die Männer auch; interessant daran ist, wie  allmählich deutlich wird, dass das männliche Unglück das weibliche bedingt. Die Männer immerhin dürfen in einer Art religiösem Ritual Wunschzettel schreiben, die dann vom Ziehvater der Protagonistin heimlich gelesen und verbrannt werden.

Eine Emanzipationsgeschichte

Als die junge Außenseiterin sich in einen Betschüler verliebt, mit dem sie sich immer bei Vollmond (hm) in den Bergen trifft, als ihr väterlicher Beschützer stirbt und neue Machthaber beschließen, dass Frauen sich verhüllen und nach Einbruch der Dunkelheit das Haus nicht mehr verlassen dürfen – da keimt die Rebellion in der jungen Frau; und als sie schwanger wird, kommt es zur recht vorhersehbaren Katastrophe. Eine Emanzipationsgeschichte also, die Beschreibung eines Aufbegehrens in einer von Männern dominierten Welt, und dass diese Emanzipation über die Entdeckung des eigenen Körpers und über die Sprache geschieht, ist nachvollziehbar, aber so richtig ans Herz greift es einem nicht.

Was will uns Karen Köhler da präsentieren? Eine politische Parabel in Zeiten, in denen Millionen Menschen auf der Flucht sind? Ein Plädoyer für Frauenrechte? Eine Reflexion über totalitäre Gesellschaften? Eine Dystopie à la Margaret Atwoods Der Report der Magd? Da wird viel Unklarheit verbreitet von einer, die eigentlich Klarheit kann. Man merkt, dass Köhler am Theater gearbeitet hat und Theaterstücke schreibt, denn immer wieder ist ihre Sprache sehr präzise, schafft sie in wenigen Worten eine Atmosphäre, einen markanten Dialog, etwa wenn der Bethaus-Vater seinem Zögling tröstend beibringt, was ein Konjunktiv ist: „Eine Distanz in der Sprache, wenn sie nötig ist. Jemand hat gesagt, ich sei eine Missgeburt. Verstehst du? Nicht ich bin. Das rückt das Gesagte von dir weg.“ Dann aber wieder wirkt die Sprechweise der Figuren manieriert – “Ich ziehe mich jetzt zurück“ – und gewollt stilisierte Wortkonstrukte wie „Tausendaugen“ kollidieren mit einem banalen „Arschloch“.

Wie schade, dass die Autorin hier nicht zeigt, was sie an Sprache und Witz und Tempo eigentlich draufhat. Hätte sie statt dieses bemühten feministischen Gesangs einfach Geschlechterbeziehungen in unserer heutigen Zeit, in einem gegenwärtigen Deutschland, aufs Korn genommen – wir wären ihr gern gefolgt, anstatt nach mehr als 400 Seiten leicht verstimmt eine überzogen konstruierte Geschichte und ihre ebenso konstruierte Heldin hinter uns zu lassen.

Informationen zum Buch:

Karen Köhler
Miroloi
Hanser Verlag, 2019
ISBN: 978-3-86484-595-6

Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Joey Goebel im Gespräch: „Die Welt bräuchte dringend mehr schüchterne Menschen“

Joey Goebel sprach für den Blog mit Veronika Eckl über schüchterne Menschen, Einsamkeit und das Leben in der Kleinstadt.

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EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Nein, der Mann, der in seinem Anzug und mit den gepunkteten Socken in der Lobby des Hotels Bayerischer Hof in Freising sitzt, ist sich nicht zu schade für eine Lesung in einer kleinen Stadt. Ein paar Tage vorher war Joey Goebel, dessen Romane Vincent, Freaks, Heartland und Ich gegen Osborne inzwischen in 14 Sprachen übersetzt werden, in Berlin zu Gast – an diesem Abend wird er in der örtlichen Buchhandlung aus seinem soeben erschienenen Kurzgeschichtenband Irgendwann wird es gut lesen und danach mit den Gastgebern im Hinterhof grillen. Er freut sich drauf und findet es cool, „dass sich hier alle für meine Bücher interessieren.“

Joey, Sie waren gerade eine Woche lang in Deutschland unterwegs. Finden Sie, dass Kleinstädte hier und in den USA etwas gemeinsam haben, oder sind das ganz andere Welten? 

Goebel: Oh ja, ich glaube, sie haben etwas gemeinsam. Die Leute, die dort leben, denken oft, dass sie aus ihrem Kleinstadtschicksal nicht rauskommen. Sie sind überzeugt, dass das Leben anderswo stattfindet.

“Irgendwann wird es gut” beschreibt das Leben ganz unterschiedlicher Menschen in Moberly, einer fiktiven Kleinstadt, die große Ähnlichkeit zu Ihrer Heimatstadt Henderson in Kentucky aufweist. Warum haben Sie diesen Schauplatz gewählt, warum nicht eine Großstadt wie New York oder Los Angeles?

Goebel: Ganz einfach, ich habe mein ganzes Leben in einer kleinen Stadt gelebt. Und die amerikanischen Verlage produzieren ständig irgendwelche Bücher, die in den Großstädten der USA spielen. Davon gibt es wirklich genug. Ich wollte eine modernere Version von Sherwood Andersons Winesburg, Ohio schreiben, einem Klassiker der amerikanischen Literatur. Das ist ein Band von Erzählungen über die Bewohner eines kleinen Orts im Mittleren Westen um 1890.

Auch Sie erzählen von kleinen Leben, klein wie die Form der Kurzgeschichte, die Sie gewählt haben. Das Leben Ihrer Protagonisten in Moberly erscheint langweilig und einsam, ja bedrückend. „In Winstons Leben gab es keinen Platz für Hoffnung“, heißt es in der short story über einen Messie, der sein Haus nicht mehr verlässt. Ist es härter, in einer kleinen Stadt zu leben als in einer großen?

Goebel: In der Kleinstadt gibt es weniger Anregungen, weniger Zerstreuung. In meiner Stadt, Henderson, existieren wenige Orte, wo man hingehen kann. Man wird alleingelassen mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken, und das macht das Leben natürlich nicht einfacher. Man empfindet das Leiden am Alltag intensiver.

Ihre Geschichten spielen im Hotel, in einem Antikmarkt, im Secondhand-Laden der Heilsarmee. Wie wählen Sie Ihre Schauplätze aus?

Goebel: Es gibt in solchen kleinen Städten eben nicht viele aufregende Orte. Hotels liebe ich, weil sie für Möglichkeiten stehen, vielleicht auch für ein Liebesabenteuer, oder für Traurigkeit und Einsamkeit. Einen Antikmarkt haben meine Eltern gekauft, als sie in Rente gingen. Und in meiner Heimatstadt spielt der Laden der Heilsarmee tatsächlich eine Rolle, weil viele Leute arm sind. Übrigens haben wir wirklich einen eigenen Fernsehsender, so wie den, bei dem die Moderatorin Olivia arbeitet, die von gleich zwei Männern gestalkt wird. Ich interessiere mich sehr für diese Moderatoren von Lokalsendern, die nur für ein kleines Publikum interessant sind, für dieses aber umso mehr.

Sonderbarerweise denkt keiner ihrer Protagonisten darüber nach, aus Moberly zu fliehen, die Kleinstadt hinter sich zu lassen. Warum?

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Joey Goebel. Foto: Regine Mosimann/Diogenes Verlag

Goebel: Die Figuren haben den Gedanken an Flucht schon im Hinterkopf, aber dazu kommt es nicht. Zum einen haben sie alle Geldprobleme. Und dann gibt es wohl oft etwas, was sie zurückhält. So war es auch bei mir: Mein Vater wurde sehr krank, als ich elf war, und er starb, als ich 16 war. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter und meine Schwester mich brauchten. So kommt es, dass ich jetzt 38 Jahre alt und nie weggegangen bin.

Das erinnert an die Kurzgeschichte „Es wird alles schlecht werden“, in der eine Mutter und ihr erwachsener Sohn sich nach dem Unfalltod des Vaters gemeinsam in ein Schicksal ergeben, das von der Einnahme von Psychopharmaka bestimmt wird.

Goebel: Ja, diese Story ist ein totaler Magenschwinger. Da gibt es wirklich keine Hoffnung. Für mich selbst kann ich sagen: Ich wäre ohne den frühen Tod meines Vaters wahrscheinlich nicht Schriftsteller geworden.

Ihre Eltern waren Sozialarbeiter und auch Sie wirken wie ein Sozialarbeiter, wenn Sie mit einfühlsamer Sympathie, mit lakonischem Humor über ihre unglücklichen Helden schreiben. Existieren die wirklich, oder kommen sie aus Ihrem Inneren?

Goebel: Schreiben ist tatsächlich Sozialarbeit, man muss mit den Figuren sympathisieren. Ich bin übrigens der einzige in meiner Familie, der diesen Job nicht macht; auch meine Schwester ist Sozialarbeiterin. Ein paar dieser Figuren gibt es wirklich; etwa Mr. Baynham, einen älteren Herrn, der in Hollywood beim Film gearbeitet und mit James Dean befreundet war. Aber die meisten kommen aus mir, sie sind Teile meiner Persönlichkeit. Ich habe so viele Neurosen, dass ich aus jeder einzelnen eine Figur machen kann.

Gibt es einen Helden, den Sie besonders gerne mögen, dem sie eine Chance geben, später vielleicht einmal ein glückliches Leben zu führen?

Goebel: Ich mag natürlich den 16 Jahre alten Luke, diesen einsamen Teenager aus “Skanky Baby“, der für seine Punkband lebt und davon träumt, die Kleinstadt hinter sich zu lassen. Das bin ich selbst in dem Alter. Ich hatte keine Freundin, war nicht sportlich, hatte aber die Platten seltsamer Bands zuhause, die sonst niemand besaß.

Und mir liegt Carly am Herzen, die Protagonistin aus „Antikmarktmädchen“, die mit den Gleichaltrigen in der Schule nicht zurechtkommt und ältere Dinge, ältere Menschen bevorzugt, sich mit einem älteren Mann anfreundet. Sie ist meiner Schwester nachempfunden, deren Schüchternheit ich sehr schätze. Die Welt ist nicht für die Schüchternen gemacht, aber sie bräuchte dringend mehr schüchterne, ruhige Menschen, denn diese Menschen denken mehr nach als andere.

Alle ihre Protagonisten sind schrecklich einsam. Warum?

Goebel: Sie alle sehnen sich danach, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, und scheitern. Bücher über Leute, die sich kriegen und Sex haben und glücklich sind, gibt es genug. Ich wollte zeigen, wie sich der ganze Rest von uns fühlt. Dazu habe ich mir die Regel gegeben: Keinen Sex! Die intensivste körperliche Annäherung, die es im ganzen Buch gibt, ist ein Handkuss. Alle sind und bleiben einsam, bis auf Winston, den Helden der letzten Geschichte „Der Mann, der sich selbst genügte“. Er hatte sich eigentlich für immer in seinem Haus verschanzt, geht aber eines Tages doch raus auf die Straße, weil er fasziniert ist von einer Frau, die jeden Tag an seinem Fenster vorbeikommt. Er ist der einzige, der es schafft, aus sich herauszutreten. Und findet Moberly plötzlich zauberhaft.

Einsamkeit gilt inzwischen als eine der Volkskrankheiten unserer Zeit. Stimmt das?

Goebel: Ich glaube schon, dass die neuen Technologien, die sozialen Medien die Einsamkeit vergrößert haben, auch wenn man meinen könnte, das Gegenteil sei der Fall. Facebook, Twitter und Co. vermitteln den Leuten den Eindruck, dass das Leben eine große Party ist, zu der sie nie eingeladen sein werden.

In der Kurzgeschichte über die Fernsehmoderatorin Olivia, die nach einem Selbstmordversuch in einer Klinik landet, wird die Frage in den Raum geworfen: „War diese Trostlosigkeit etwa die ganze Zeit nur in einem selbst gewesen?“ Was meinen Sie, beeinflusst uns der Ort, an dem wir leben, oder beeinflussen wir den Ort, an dem wir leben?

Goebel: Genau darum geht es in dem Buch. Ich denke, das Leben ist das, was wir daraus machen. Wo auch immer du lebst, deine Einstellung ist entscheidend. Wenn du in Kentucky deprimiert bist, wirst du auch in L.A. deprimiert sein.

Und Sie bleiben Henderson, Kentucky treu?

Goebel: Wissen Sie, eigentlich würde ich gerne nach Deutschland ziehen. Haben Sie ein Gästezimmer? Hier werde ich als Schriftsteller geschätzt, in den USA nicht. Und ich bin stolz darauf, dass ich in Europa bekannter bin als in Trump-Land! Ich unterrichte ja Englisch an einer Highschool, und meinen Schülern sage ich manchmal im Spaß: ‘Hey, seid mal ruhig, wisst ihr eigentlich, dass auf der anderen Seite des Ozeans Leute dafür bezahlen, dass sie mir zuhören dürfen?’

Ich mag das deutsche Essen, das Bier, das Interesse für Literatur. Meine Eltern hatten beide deutsche Vorfahren. Mein Blut wurde wohl nie richtig amerikanisiert. Aber in Henderson lebt mein kleiner Sohn, und was würde meine Ex-Frau sagen, wenn ich fortgehen würde? Anyway, wie es so schön heißt: „The grass is always greener on the other side.“

Informationen zum Buch:

Joey Goebel
“Irgendwann wird es gut”
Diogenes Verlag 2019
22,00 Euro, Hardcover, Leinen, 320 Seiten
ISBN: 978-3-257-07059-0

Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.