Ragnar Helgi Ólafsson: Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können

Der erste Lyrikband von Ragnar Helgi Ólafsson: Surreal, leise melancholisch, humorvoll, schalkhaft und traumwandlerisch schön.

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Bild von David Mark auf Pixabay

Über mein Leben gilt das Gleiche wie über archäologische Funde in Island: Mehr als 95 % der Altertümer sind noch unter der Erde und unerforscht.

Zitat aus: „Einzigartige Silberschätze, endlose Überschenkelknochen“

Wie vieles in diesen Liedern und Texten ist auch dieser Satz von den einzigartigen Silberschätzen bestimmt von einem melancholischen Grundton: Ein wenig surreal, geprägt von der kalten „Realität, mit der wir, das heißt ich, leben müssen.“ Und dennoch birgt auch diese „Dichtersprache“ Wärmendes und Tröstliches, vermag sie doch die Stille zu durchbrechen:

„Es ist nicht so schwierig, wie es klingen mag.“

Die Stimme, die die Stille – ruhig und sacht wie ein Wollfaden an einem Kristallglas – zum Klingen bringt, stammt von Ragnar Helgi Ólafsson. Und man wünscht sich, das heißt, ich wünsche mir, dass nicht erst die Archäologen in ferner Zukunft weitere Texte des isländischen Schriftstellers, Regisseurs, bildenden Künstlers und Philosophen ausgraben werden.

„Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können“ ist der erste Lyrikband Ólafssons, der nach seinem Erscheinen 2015 mit dem renommierten Tómas-Guðmundsson- Poesie-Preis der Stadt Reykjavík ausgezeichnet wurde. Wolfgang Schiffer und Jón Thor Gíslason sind bereits ein eingespieltes Team bei Übertragungen isländischer Literatur in das Deutsche. Ihrem Engagement ist es zu verdanken, dass nun auch dem deutschsprachigen Publikum die Texte dieses ungewöhnlichen Schriftstellers zugänglich sind.

Ungewöhnlich allein schon die formale Ebene: Kein klassischer Zeilenfall, keine durchgängigen Rhythmen, keine durchgängige optische Erkennbarkeit und Anordnung der Texte als „Gedicht“. Gedichte, Textvignetten, liedähnliche Passagen wechseln sich ab, changierend in der Form und im Grundton – tag- und nachtträumerisch, surreal, konkret, mal melancholisch, mal voller leisem Humor. Bereits im Untertitel wird relativiert – um „Lieder und Texte“ soll es sich handeln. Und ein dem Buch vorangestelltes Zitat von Ryokan Taigu führt weiter auf den Pfad des Verständnisses dieser Textexperimente:

„Wer sagt, dass meine Gedichte Gedichte seien?
Meine Gedichte sind gar keine Gedichte.
Wenn du verstanden hast,
dass meine Gedichte keine Gedichte sind,
dann können wir uns hinsetzen und
über Dichtung sprechen.“

Die Gedichte, die keine Gedichte sind, sie sind: Das Leben. Das Leben in allen Facetten, in dem „nur kurz etwas bezüglich Kleidung“ (der geliebten Frau) ebenso berührt wird wie das Trübsalgesetz oder auch Magisterexamen. Die Titel täuschen jedoch über den Gehalt der Nicht-Gedichte hinweg – kein Fall von angewandter, konkreter Poesie, der hier zu erwarten ist. Vielmehr Zeilen, die zum Teil an surreale Traumfragmente erinnern, an schlafwandlerisches Erleben und Finden:

Ein Mann, der sucht
(Die Morgendämmerung bricht an)

Ich habe aufgehört zu suchen.
Treibe den Gedanken von mir weg.

Und gehe weiter in den Traum hinein.

Es ist, als ob der Dichter ein kleines Fenster zu seinem Innenleben – oder vielmehr Innendenken – öffnet, um dann sofort die Spuren wieder zu verwischen, auf neue Wege abzulenken:

„Ich werde mich nicht dazu äußern, ob ich
ein komplexes oder ein einfaches Ding bin. Es geht hier
einfach um zu sensible Informationen.“

Nicht zuletzt ist es auch dieser feine Schalk, der die Lektüre für all jene, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können, zu einem tröstlichen Genuss macht. Das Leben besteht aus einer ständigen Abfolge von Widersprüchen. Und nicht jeder bekommt, um darin zu bestehen ohne Angst, einen Kyniker an den Knöchel gebunden. Dem bleibt zum Trost und als Akt des Widerstands jedoch die Dichtung:

Nicht in der Arbeitsbeschreibung
oder: Stellungnahme (mit Wut)

Die Wirklichkeit hat angerufen, sie habe genug
von den poetischen Eingriffen des Dichters in ihre
Existenz.

Die trotzige Antwort des Dichters, sie lautet:

Ich mache mich verdammt noch mal doch
nicht zum Laufburschen für die Wirklichkeit.

Wolfgang Schiffer habe ich nicht nur die Entdeckung dieses auch optisch so ansprechenden (Nicht-) Gedichtbandes zu verdanken – der mir in der Versponnenheit seiner Texte auch persönlich einfach sehr zusagt – , sondern auch die des „Elif Verlages“, der das Buch herausbrachte. Im aktuellen Verlagsprogramm ist nochmals ein zweisprachiger Gedichtband zu finden, der eine Empfehlung wert ist: „Vielleicht lautlos“ von Gonca Özmen. Sinnlich, leidenschaftlich, bildreich, kraftvoll:

„Es war dein Mund,
er nahm ungeborene Verse und ließ sie liegen.“

Schön, dass dieser Verlag es wagt, Verse nicht nur nicht liegen zu lassen, sondern der Lyrik ihren Raum zu geben:

http://elifverlag.de/

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