Thomas Hettche: Herzfaden

Mit “Herzfaden” ist Thomas Hettche eine wunderbare Würdigung eines einmaligen Theaters gelungen. Florian Pittroff, ein Kenner der Puppenkiste, zeigt sich begeistert.

Bild: Florian Pittroff

Ein Gastbeitrag von Florian Pittroff

Als Literaturblog aus Augsburg kommt man an diesem Roman natürlich keinesfalls vorbei. Und wer wäre prädestinierter dafür, über ihn zu schreiben, als Gastautor Florian Pittroff, der die Augsburger Puppenkiste und ihre Macher seit Kindesbeinen kennt?

Eines gleich vorweg: Das Buch ist eine wunderbare Würdigung einer der wichtigsten deutschsprachigen Kulturinstitutionen der frühen Bundesrepublik. Es ist die Geschichte eines einmaligen Theaters und der Familie, die es gegründet und berühmt gemacht hat. „Herzfaden – Roman der Augsburger Puppenkiste“ ist zu Recht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2020.

Das Buch hat zwei Handlungsebenen. Auf der ersten Ebene erzählt der Autor die Geschichte der Familie Oehmichen und die der Augsburger Puppenkiste. Auf einer zweiten Ebene gerät ein junges Mädchen nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste durch eine verborgene Tür auf einen märchenhaften Dachboden, auf dem viele Freunde warten: Prinzessin Li Si, Kalle Wirsch und das Urmel. Vor allem aber die Frau, die all diese Marionetten geschnitzt hat – über 6000 sollen es gewesen sein – und nun ihre Geschichte erzählt. Der Buchtitel kommt natürlich auch nicht von ungefähr: „Der Herzfaden?“, fragt Hatü. „Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.“ „Das hast du dir ausgedacht, Papa. (…)“

Die Geschichte der Familie Oehmichen

Die Biographie der Familie Oehmichen hat mich echt bewegt. Sie beginnt im 2. Weltkrieg, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, in der Gefangenschaft einen Puppenschnitzer kennenlernte und für die eigene Familie ein Marionettentheater baut. In der Bombennacht 1944 verbrennt es zu Schutt und Asche. „Herzfaden“ erzählt von der Wiedergeburt dieses Theaters und von der Kraft der Fantasie in dunkler Zeit. Thomas Hettche schießt aber nicht Fakten, Fakten, Fakten aus dem 2. Weltkrieg aus der Hüfte, sondern er erzählt bedachtsam und behutsam. Wie ist das, wenn die Freundin plötzlich verschwindet, wenn die Nachbarn zu Rechtlosen werden. Und was passiert in einer Kinderseele, wenn die Flugzeuge kommen:  „Vorhänge aus Brandfontänen jagen (…) gen Himmel, der blutrot ist.“.

Es sind die einfühlsamen Momente, die dieses Buch so liebens – und lesenswert machen und die ganze Magie dieser besonderen Kiste aufleben lassen. „Alle versammelten sich jetzt um ihn (Walter Oehmichen). Viele würden ihn fragen, beginnt er, weshalb er kein richtiges Theater mehr machen wolle. Aber ihm sei klar geworden, dass Puppentheater noch mehr Theater sei als Menschentheater. Marionetten seien die ehrlicheren Schauspieler“.

Eintauchen in die Heimatstadt Augsburg

Als Augsburger habe ich mich sehr auf das Buch gefreut und wenn dann auch noch die Plätze, Orte und Straßen aus meiner Heimatstadt darin vorkommen, ist es wie ein Eintauchen in die Heimatstadt: „Wenig später tauchte rechter Hand der Siebentischwald auf, (…) dann das Rote Tor. (…). Es gibt Bilder vom Schwarzmarkt am Augustusbrunnen.“

Für mich war es ganz wunderbar, dieses Buch zu lesen, auch oder gerade deshalb, weil ich in meiner Kindheit Hannelore Marschall, Hanns Marschall, Walter Oehmichen und viele der Buchprotagonisten persönlich kennenlernen durfte. Nicht zuletzt auch Klaus und Jürgen Marschall. Aber das steht auf einem anderen Blatt.

Ich kann mich gut erinnern, Hannelore Marschall saß meist in ihrem Atelier und hat geschnitzt und geraucht und geschnitzt und aus einem rohen Holzblock wurden bedeutende Charaktere, die fast jeder kennt und die niemand missen möchte. Sie hatte übrigens auch einen Löwenanteil daran, dass sich die Puppenkiste gewandelt hat. Nicht nur klassische Märchen standen fortan auf dem Spielplan, sondern auch „Der kleine Prinz“ oder „Jim Knopf“.

Und ganz zum Schluss sei noch erwähnt: Die Zeichnungen auf dem Umschlag, auf dem Einband und im Buch selbst sind von Matthias Beckmann, Homepage des Künstlers: http://www.matthiasbeckmann.com/.


Informationen zum Buch:

Thomas Hettche
Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2020
288 S., 24,00 €, als E-Book 19,99 €


Über den Gastautor:

Florian Pittroff ist Magister der Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte und arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Journalist und Texter. Seine Buchbesprechungen waren unter anderem zu lesen im Kulturmagazin „a3kultur“ und im deutschsprachigen Männermagazin „Penthouse“.  Er verfasste Kulturbeiträge für das Programm des „Parktheater Augsburg“, war unter anderem verantwortlich für die Medien- & Öffentlichkeitsarbeit des kulturellen Rahmenprogramms „City Of Peace“ (2011) und die deutschsprachigen Slam-Meisterschaften (2015) in Augsburg. Florian Pittroff erhielt 1999 den Hörfunkpreis der Bayrischen Landeszentrale für neue Medien für den besten Beitrag in der Sparte Kultur.

www.flo-job.de

Thomas Hettche: Pfaueninsel

Die Preußenherrscher wollten hier ihr eigenes Arkadien schaffen: Das künstliche Paradies erforderte seinen Preis, wie Thomas Hettche aufzeigt.

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Bild von Lutz Holzapfel auf Pixabay

Die Preußenherrscher wollten hier ihr eigenes Arkadien schaffen: Auf der Pfaueninsel im Wannsee. Abseits von Berlin sollte für die Friedrich Wilhelms ein Rückzugsort entstehen, eine Idylle. Das künstliche Paradies erforderte seinen Preis, wie Thomas Hettche in seinem wunderbaren Roman aufzeigt.

Hier, auf der Pfaueninsel, diesem kaum anderthalb Kilometer langen Eiland, gibt Hettche auch der kleinwüchsigen Marie und ihrem zwergenhaften Bruder eine Heimat: Sie gehören mit zum lebenden Inventar der Insel, sind Teil einer Kuriositätensammlung, bestehend aus Menschen und Tieren, Exponate einer Menagerie. Zugleich erzählt das Buch von einer unerfüllbaren Liebe:  Marie, die Zwergin und Gustav, der Neffe des Hofgärtners, kennen sich aus Kindheitstagen, berühren sich, lieben sich. Doch Gustav, der im Schlepptau von Peter Joseph Lenné Karriere als Gartenkünstler macht, entfernt sich immer weiter von Marie – ihre Fehlbildung in seinen Augen ein Fehler der Natur, etwas, das nicht sein soll, nicht sein darf in seinem Leben.

Das Buch, dessen Sprache in einem zeitentrückten, beinahe altmodischen Stil gehalten ist, erzählt von fehlgeleitetem Ehrgeiz: “Die Natur” lässt sich nur bedingt gestalten. Das Palmenhaus brennt ab, die Tiere gehen ein, der künstlich angelegte Park stirbt. Die Natur erobert sich ihr Terrain zurück.

Die Pfaueninsel steht bereit seit 1924 unter Naturschutz. Inzwischen gehört sie zum UNESCO-Kulturerbe. Und vermittelt immer noch, trotz anhaltender Besucherströme, einen Hauch Magie.


Bibliographische Angaben:

Thomas Hettche
Pfaueninsel
Kiepenheuer & Witsch, 2014
ISBN: 978-3-462-04599-4