#MeinKlassiker (13): Die Zeichen der Zeit standen für Hamsun auf Hunger

Das Buch begleitet sie fast schon ein Leben lang: Bloggerin Constanze Matthes über „Hunger“ von Knut Hamsun.

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Bild von H. Hach auf Pixabay

Die Journalistin Constanze Matthes überzeugt auf ihrem Blog „Zeichen & Zeiten“ durch eine feine Buchauswahl, die ebenso Gegenwartsliteratur wie vergessene Bücher berücksichtigt. Ihre Rezensionen sind überzeugend, von einer schönen Sprache und von Fachwissen geprägt. Und nicht zu überlesen ist ihr Faible für Literatur aus dem hohen Norden. Ich war daher nicht überrascht, dass ihr Klassiker aus Norwegen kommt – und es freut mich, dass die Reihe sich damit nicht nur auf den deutschen und englischen Sprachraum beschränkt:

Der dünne Band stammt aus dem Jahr 1978; ein Jahr nach meiner Geburt. Die leicht vergilbten Seiten sind mit Anstreichungen und Kommentaren versehen. Bunte Haftnotizen ragen aus dem Buch heraus. Erschienen im Reclam-Verlag, hat es mich mehrere Monate begleitet, am Ende eines besonderen Lebensabschnittes. Als Birgit vom Blog „Sätze & Schätze“ mich anschrieb und fragte, ob ich nicht einen Beitrag zu ihrer Serie „#MeinKlassiker“ verfasse, war mir schnell klar, dass es „Hunger“ von Knut Hamsun (1859 – 1952) sein soll. „Hamsuns frühe Werke und die deutsche Literatur der Jahrhundertwende“ hieß das Thema meiner Magisterarbeit, die ich nun ebenfalls mal wieder aus dem  Regal hole, nicht ohne in der einen oder anderen Erinnerung zu schwelgen. Der Name des norwegischen Nobelpreisträgers war mir in den Studienjahren immer wieder begegnet, wirkte er doch maßgeblich auf die moderne europäische Literatur. Bekannte Schriftsteller wie Thomas Mann, Arthur Schnitzler oder Franz Kafka lasen dessen Werke, die zu den beliebtesten in Deutschland zählten, mit Begeisterung. Gerade auch in einer Zeit, als allgemein die Skandinavier auf dem künstlerischen Bereich viel Beachtung fanden. Der Maler Edvard Munch, die Dramatiker August Strindberg und Henrik Ibsen, der Komponist Edvard Grieg sollen an dieser Stelle beispielhaft erwähnt werden. In Metropolen wie Berlin, München oder auch Paris entstanden von Skandinaviern geprägte Künstlerkreise.

Doch in den 1940er Jahren wurde der Norweger zur persona non grata erklärt. Was war geschehen? Zeitlebens bewunderte er Deutschland, auch dann noch, als Hitler 1933 die Macht ergriffen hat. 1936 appellierte er an seine Landsleute, den Parteiführer der faschistischen National Samling, Vidkun Quisling, zu wählen, der nach der Besetzung Norwegens durch die Wehrmacht mit den Deutschen kollaborierte und an der Spitze einer Schattenregierung stand. 1943 schenkte Hamsun Joseph Goebbels seine 1920 erhaltene Nobelpreis-Medaille. In Norwegen wurde der Schriftsteller fortan geschmäht und nach dem Krieg wegen Landesverrats vor Gericht gestellt. Seine Bücher verschwanden aus den Regalen. Sowohl Hamsuns Leserschaft als auch die Wissenschaft tat sich in den kommenden Jahrzehnten schwer mit dem Literaten und seinem reichen Schaffen. Erst in den vergangenen Jahren erfolgte eine Wieder-Annäherung – allerdings ohne diese dunkle Facette im Leben Hamsuns zu vergessen.

Während der Roman „Segen der Erde“ heutzutage wohl vielen bekannt ist, war es die Erzählung „Hunger“, die Hamsun  zur erhofften Aufmerksamkeit der literarischen Szene und zu erstem Ruhm verhalf. Das Werk erschien in Auszügen und anonym erstmals 1888 in der dänischen Zeitung „Ny Jord“, 1891 schließlich in einer deutschen Übersetzung und in gekürzter Fassung in der Zeitschrift „Freie Bühne“. Das Geschehen in diesem recht eigenwilligen Erzählwerk ist überschaubar. Ein namenloser Protagonist, dessen Vergangenheit ebenfalls im Dunklen liegt, wandelt einsam und hungrig durch die Straßen Kristianias, des heutigen Oslos, ohne wirklich gegen seinen erbarmungswürdigen Zustand anzukämpfen. Banalitäten beziehungsweise kleine Dinge gewinnen im Alltag an Bedeutung. Das Schreiben ist das einzige Streben des Helden.

Vor allem sein besonderer Erzählmodus ließ dieses schmale Werk so einzigartig werden. Das gesamte Geschehen wird vollständig als innerer Monolog und aus der Sicht des Helden wiedergegeben. Vor allem dessen Innenleben, Gefühle und Gedanken werden beleuchtet. Beschreibungen der Umgebung und der Begegnungen mit Menschen wechseln sich mit Selbstreflexionen, einer Seelenschau ab. Hamsun betrat damit nahezu Neuland und fand vielfach Anerkennung. Manche sahen mit diesem Werk einen Epochenwandel und stellten dessen Autor folgend in die Reihe namhafter Künstler wie Franz Kafka und James Joyce.  „Hunger“ gilt als frühes Beispiel des „stream of consciousness“ (übersetzt Bewusstseinsstrom) und spiegelt Hamsuns eigenes Erleben wider: Er versuchte, als Journalist in Kristiania Fuß zu fassen, um jedoch wenig später ohne nennenswerten Erfolg ein Schiff in Richtung Westen zu besteigen. Der Norweger reiste zweimal in die USA, um dort sein Glück zu suchen. Vergeblich. Wer sich für den Schriftsteller und diese Lebensepoche interessiert, dem sei an dieser Stelle der Roman „Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Hamsun und Wilde“ von Matthias Engels empfohlen.

Was macht diese eigenwillige Erzähltechnik mit dem Leser? Sie sorgt für eine ganz spezielle Leser-Held-Beziehung. Der Leser wird zu einem Beobachter, der zugleich in die intime Gedankenwelt des Protagonisten und Erzählers hineinsehen kann. Es entsteht ein konzentrierter Blick, der durch den von meist kurzen Sätzen, oft gar nur einzelnen Wörter geprägten erzählerischen Stil verstärkt wird. „Hunger“ hat mich insofern geprägt, dass ich ähnliche Werke mit einer spartanen, aber dafür prägnanten sowie psychologischen Erzählweise sehr zu schätzen lernte. Hamsun selbst hat sein Frühwerk  weder einem bestimmten Stil noch der Gattung Roman zuordnen wollen. Womöglich ragt es bis heute auch deshalb so heraus und kann Beginn einer neuen oder auch einer Wieder-Begegnung mit dem großen Literaten aus Norwegen sein.

Constanze Matthes
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