Lawrence Block (Hg.): Nighthawks. Stories nach Gemälden von Edward Hopper

Die Gemälde von Edward Hopper, sie bergen ein Geheimnis. 17 Autoren liessen sich davon inspirieren, erzählen zu “Nighthawks” & Co. fantastische Geschichten.

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Bild von StockSnap auf Pixabay

„Wer sind Sie?“
Bosch erstarrte.
„Wie meinen Sie das?“, fragte er.
„Mit wem identifizieren Sie sich?“, fragte sie. “Mit dem einsamen Mann, dem Paar, das nicht allzu glücklich wirkt, dort zu sein, oder dem Mann hinter dem Tresen? Wer sind Sie?“
Bosch wandte den Blick von ihr ab, betrachtete wieder das Bild.
„Ich weiß nicht recht“, antwortete er. „Und Sie?“
„Definitiv der Einzelgänger“, sagte sie. „Die Frau wirkt gelangweilt. Sie inspiziert ihre Fingernägel. Ich langweile mich nie. Ich nehme den Einsamen.“
Bosch starrte auf das Gemälde.
„Ja, ich auch, schätze ich“, sagte er.
„Was glauben Sie, was für eine Geschichte steckt dahinter?“, fragte sie.
„Wie, bei denen? Wie kommen Sie darauf, dass es eine Geschichte gibt?“
„Es gibt immer eine Geschichte. Malen heißt Geschichten erzählen. Wissen Sie, warum es Nighthawks heißt?
„Nein, eigentlich nicht.“

Aus: Michael Connelly, „Nachtfalken“

Es ist eines der berühmtesten Gemälde der modernen Kunst, dieses Bild von den einsamen Nachtfalken in einer amerikanischen Bar. 1942 entstanden, inspiriert es bis heute andere Kunstschaffende, seien es Maler, Musiker oder auch Autoren. Von Gottfried Helwein bis Banksy, von Tom Waits bis zu den Nighthawks, von Peter Handke über Richard Ford bis hin zu Joyce Carol Oates – die auch in dieser Anthologie vertreten ist, allerdings mit einer Erzählung zu einem anderen Hopper-Gemälde, „Eleven A. M.“ (1926) – sie alle griffen auf dieses Motiv, das wie kein anderes die Einsamkeit in der Moderne symbolisiert, zurück.

Vertreter des amerikanischen Realismus

Edward Hopper (1882 – 1967) gilt als der Chronist der Ödnis der amerikanischen Vorstädte und der Provinz, seine Gemälde erzählen von Einsamkeit, isolierten Menschen, sie sprechen von der Monotonie des Lebens und enttäuschten Erwartungen. Wer Hopper als den Vertreter des amerikanischen Realismus in der Malerei begreift, der begreift auch, dass es nicht viel ist, was das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu bieten hat.

Seine Bildgestaltung, die klaren Konturen, die präzisen Formen, sie scheint einzelne Momente festzuhalten, Momentaufnahmen, beinahe wie in der Fotografie. Und doch laden vor allem die melancholischen Unterströmungen – bedrückt wirkende Menschen, eine Körperhaltung, die Zweifel und Einsamkeit vermittelt, verlassene Orte – geradezu ein, das Bild über den festgehaltenen Moment hinaus zu erforschen, die dahinterliegende Geschichte zu ergründen.

Anlässlich einer Hopper-Ausstellung schrieb John Updike:

„Der Mensch war Hoppers Hauptmotiv, wenngleich er Personen nicht besonders gut malen konnte. Sie erscheinen oft steif und fahl; die überzeugendsten sind jene mit sanft angedeuteten Gesichtern, wie die grübelnde Frau in Hotel Room (1931) und New York Movie (1939). Dennoch empfinden wir seine Porträts der conditio humana bewegender und eindrücklicher als diejenigen von weit lebendiger malenden Zeichnern wie Reginald Marsh und Thomas Hart Benton. Hopper war vergleichsweise zurückhaltend; statt seine Subjekte für eine Aussage zu benutzen – über unsere naturwüchsigen Energien, wie bei Marsh, oder als prismatische Verdichtung unserer sozialen Welt, wie bei Benton –, scheint Hopper darauf zu warten, dass seine Figuren von sich aus das Geheimnis ihrer Bedeutung lüften. Wie bei Vermeer sickert ein Geheimnis in das Bild ein und durchtränkt noch die unscheinbarsten Handlungsebenen.“ 

Dieses Geheimnis, das alles durchtränkt – es brachte wohl auch den amerikanischen Kriminalschriftsteller Lawrence Block dazu, etliche seiner Kolleginnen und Kollegen anzugehen und um Geschichten zu einzelnen Hopper-Bildern zu bitten.

Gemälde, die Geschichten verbergen

Im Vorwort dieses Sammelbandes, der 2016 in den USA erschien und deutscher Übersetzung sowie in schöner Gestaltung Ende 2017 beim Droemer Verlag (jeder Story ist auf einer Seite das entsprechende Hopper-Gemälde vorangestellt), stellt Block jedoch eines klar:

„Hopper war jedes Mal bestürzt, wenn seine Arbeiten als Illustrationen abqualifiziert wurden. Wie bei allen anderen abstrakten Expressionisten auch, galt sein Interesse Form, Farbe und Licht, nicht der Bedeutung oder dem Erzählerischen.
Hopper war weder Illustrator noch narrativer Künstler. Seine Bilder erzählen keine Geschichten. Stattdessen vermitteln sie – kraftvoll und unwiderstehlich – den Eindruck, dass sich darin Geschichten verbergen, die nur darauf warten, erzählt zu werden.“

17 Autoren erzählen also in „Nighthawks“ Geschichten zu Gemälden Hoppers, darunter unter anderem zu den titelgebenden Nachtfalken, zu Summer Evening (1947), Hotel Room (1931), New York Movie (1939) und weiteren Bildern, die durch ihre Bildsprache bis heute prägender Bestandteil der amerikanischen Kultur sind. Bei einem Herausgeber wie Block, selbst mehrfach preisgekrönter Kriminalautor, liegt es nahe, dass unter den beteiligten Schriftstellern etliche aus diesem Genre kommen. So unter anderem Megan Abbott, Jeffery Deaver und Lee Child. Außerdem ließen sich auch, wie bereits erwähnt, Joyce Carol Oates und zudem Stephen King, um die zwei bekanntesten Namen dieser Anthologie zu nennen, von Hoppers Darstellungen inspirieren.

Unterschiedliches Erzählniveau

Nicht alle der Erzählungen sind literarisch auf einer Höhe. So wirkte „Abenddämmerung“ von Robert Olen Butler zum 1914 entstandenen Bild „Soir bleu“ auf mich etwas konstruiert, dagegen fällt „Zimmer am Meer“ von Nicholas Christopher zu “Rooms by the Sea“ (1951) thematisch und sprachlich aus dem Rahmen, doch alle Stories eint, dass das Geheimnis hinter dem Bild meist ein düsteres und nicht selten ein blutiges ist. Die Geschichten (und damit auch die Bilder) erzählen von Männern, die aus Liebe töten, von Frauen, die Sadisten in die Hände fallen, die Frauen, die sich und andere rächen, von enttäuschten Hoffnungen und gebrochenen Herzen.

Meist ist das jeweilige Bild „nur“ die Grundlage, auf der sich eine Geschichte dazu entwickelt, das Gemälde als Anstoß der schriftstellerischen Phantasie. Dass die Gemälde selbst thematisiert werden – so wie in Michael Connellys Beitrag – oder gar Edward Hopper selbst mittelbar auftritt, bildet die Ausnahme. Für diese sorgt die Kunsthistorikerin Gail Levin, die als die Fachfrau zu Hoppers Werk gilt, Bücher über ihn herausgab und Hopper-Ausstellungen kuratierte. Inwieweit ihre fiktive Erzählung vom Prediger, der sammelt, einen Kern der Wahrheit enthält, entzieht sich meiner Kenntnis. Dadurch offenbart sich jedoch ein kleiner Mangel dieses schön gemachten Buches: Ein Überblick mit den wichtigsten Daten zu Hopper wäre eine feine Ergänzung gewesen.

Abgesehen davon ist „Nighthawks“ ein unterhaltsam zu lesendes Experiment: Das Buch zeigt aufs Beste, wie sich Künste gegenseitig inspirieren können – und welche Gedanken ein Bild in Gang zu setzen vermag. Ein Projekt, das im Grunde Auftakt zu einer Reihe sein könnte: Es gibt noch einige Künstler und Bilder mehr, zu denen man herrliche Geschichten erzählen kann.

Informationen zum Buch:

Lawrence Block (Hrsg.)
Nighthawks
Stories nach Gemälden von Edward Hopper
Übersetzt von: Frauke Czwikla
Droemer Knaur, 2017

#MeinKlassiker (17): Marc Richter präsentiert mit Stephen King einen ungewöhnlichen Gast

Eine überraschende Wahl hat Blogger Marc Richter für die Reihe getroffen: Sein Klassiker ist von Stephen King – “The Stand – Das letzte Gefecht”.

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Bild von gmill auf Pixabay

Marc Richter vom Blog “Lesen macht glücklich” ist immer für eine Überraschung gut. So zog er auch bei #VerschämteLektüren keinen unterirdischen Kitschroman, keine Schmonzette oder ein gar seltsames Kinder- oder Jugendbuch aus dem Hut, sondern überrumpelte uns mit Günter Grass. Und auch bei #MeinKlassiker geht Marc andere Wege, als erwartet – lest hier, womit er uns diesmal glücklich macht:

Birgit von „Sätze und Schätze“ hat wieder aufgerufen zu einem Thema zu schreiben. Diesmal geht es um Klassiker und ganz speziell um DEN Klassiker, der im eigenen Bücherkanon als solcher verortet ist. Da mich die Texte zu diesem Thema bisher sehr interessierten und ich auch sonst bei den Aktionen, die Birgit startet, gerne mitmache, steuere auch ich zu dieser Rubrik etwas bei. Aber ganz nach meinem Credo: Werfe alles über den Haufen, was unter der Definition Klassiker läuft und wie diese Rubrik aufzufassen ist, werde ich in diesem Text ein Buch in den Vordergrund rücken, welches in der jüngeren Vergangenheit erschienen ist, keinen politischen, keinen zeitgenössischen oder überhaupt einen Hintergrund aufzuweisen hat, der ernsthafter Literatur zu eigen ist. Es ist einfach eine Geschichte, die sich um das Überleben der Menschheit dreht und die mich so in ihren Bann gezogen hat, dass diese Geschichte für immer in meinem Kopf festzementiert sein wird. Er ist der Autor, bei dem immer wieder der Streit ausbricht, ob das überhaupt ernstzunehmendes Schreiben ist, welches er betreibt. Ich finde, es ist ernst zu nehmen und wer diesen Autor unterschätzt, macht etwas verkehrt. Es geht um Stephen King und das Buch, welches ich in dieser Reihe als ungewöhnlichen Gast sehe, ist „The Stand – Das letzte Gefecht“.

14, ein Alter, in dem die meisten Menschen schon den einen oder anderen Klassiker unter der Jugendliteratur gelesen haben. Ich dagegen habe Jules Verne links liegen gelassen, Karl Mays Winnetou verstaubte in meinem Regal und vom Räuber Hotzenplotz hatte ich nur mal so im Entfernten etwas gehört. Wer jetzt meint, ich hätte bücherseitig gesehen eine arme Jugend beziehungsweise Kindheit gehabt, der irrt (kleine Anmerkung: Ich hole jetzt alles über meine eigenen Kinder nach!). Es hat mich zum damaligen Zeitpunkt einfach nicht interessiert. Ich habe Bücher aus dem seichten Fantasybereich gelesen und diese dann auch gerne mehrmals.

Ein erstes Mal lief mir Stephen King mit seinem Buch „Es“ vor die Augen. Alle sprachen darüber. Über den wohligen Grusel, den die Geschichte um den Clown Pennywise auslöste. Ich fand keinen Zugang zu diesem Werk und hatte mit Stephen King in dem Moment eigentlich schon abgeschlossen. Zu umfangreich, zu langatmig, zu detaillierte Beschreibungen. Das sind alles Faktoren, die mich damals störten und die ich heute an seinem Schreiben so schätze. Dann, im schon angesprochenen Alter, war ich mit meinen Eltern in Stuttgart (schon komisch, wie sich bei speziellen Büchern einbrennt, WO man sie gekauft hat und in welchem Zusammenhang) und da in einer dieser riesigen Einkaufstempel unterwegs. Dort lachte mich in schmutzigem Gelb die ungekürzte Ausgabe des Buches „The Stand“ an. Ich schaute mir an, um was es in dieser Geschichte geht und war Feuer und Flamme, es mit Herrn King noch einmal zu probieren. Der erste Anlauf ging in die Hose, denn nach faszinierend temporeichen Start ging es wieder in die schon beschworene Langatmigkeit und Vielbeschreiberei über, die mich wieder einmal unendlich langweilte. Das Buch wurde beiseitegelegt und fast vergessen, bis zu einem erneuten Leseanlauf. Und diesmal klappte es, ich überwand mich, nahm mir stückchenweiße diesen dicken Brocken vor (auf Deutsch zirka 1200 Seiten) und las ihn innerhalb von zwei Wochen aus.

Doch was macht das Buch nun in meinen Augen zu einem der modernen Klassiker der Weltliteratur? Und warum ausgerechnet dieses Buch und nicht das um einiges öfter genannte „Es“? Zum einen, weil es hier um den uralten Kampf von Gut gegen Böse geht. Eigentlich der klassischste aller Konflikte. Auf jeder dieser zwei Seiten sammeln sich Personen, um einem großen Wortführer zu folgen, die ihre Armeen in die letzte Schlacht um die Menschheit schicken werden. Entweder geht die Menschheit dabei vollends vor die Hunde oder die Menschlichkeit wird bewahrt. Das, was heute in Endzeitfilmen oder Serien wie zum Beispiel „The Walking Dead“ bis ins Kleinste durchzelebriert wird, erschafft King in einem einzigen Buch. Man mag einwenden, dass es sprachlich nichts zu bieten hätte oder einfach zu viele Wörter für so wenig Inhalt verwendet werden. Doch das stimmt in diesem speziellen Fall nicht, denn King versteht es, ein komplexes Ensemble zusammenzuhalten und diesen Figuren mit einer bildlichen, umfangreichen Sprache Tiefe zu verleihen. Und das ist der zweite Grund, warum „The Stand“ für mich neben all den zeitgenössischen Büchern ein moderner Klassiker der Literatur ist. Man kann sich mit den einzelnen Persönlichkeiten auf die eine oder andere Art identifizieren, kann ihre Handlungen unter den gegebenen Umständen nachvollziehen, bringt ihnen entweder Sympathie oder wünscht ihnen die Pest an den Hals. Außerdem ist es auch noch spannend geschrieben und beschreibt ein ungewöhnliches Szenario so, dass man es sich jederzeit auch in der Wirklichkeit vorstellen könnte.

Insgesamt war dieses Buch ein Wegweiser für mich, denn ich bin mit diesem Werk den komplexen, dicken Büchern verfallen und hatte lange Zeit ein Misstrauen gegenüber den Geschichten, die weniger als 400 Seiten brauchten, um etwas zu erzählen. Stephen King im Speziellen habe ich somit zu einem Zeitpunkt in mein Leben gelassen, in dem andere schon lange wieder aufgegeben haben, diesem Autor die Stange zu halten. Ein Fehler, wie sich aktuell zeigt, denn sein Alterswerk strotzt nur so vor ungewöhnlich guten Werken und ich finde, er wird im Alter sogar besser und sollte in einem Atemzug mit anderen großen amerikanischen Autoren genannt werden. Nicht nur, weil er ein Werk in erstaunlicher Zahl vorzuweisen hat, sondern, weil er auch gut schreiben kann.

P.S.: M-O-N-D

Marc Richter
https://lesenmachtgluecklich.wordpress.com/