Franzobel: Das Floß der Medusa

Verstörend, packend, die großen Fragen berührend. Und dies gepaart mit einer spürbaren Lust am Fabulieren. Dieser Roman von Franzobel ist ein großer Wurf.

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Bild von nightowl auf Pixabay

„Der nächste Tag war der 14. Juli, Tag der Revolution. Ein Sonntag. In der Nähe von Paris wurde ein gewisser Arthur de Gobineau geboren, späterer Begründer der Rassenlehre und somit ideologischer Wegbereiter des Holocausts, Argumentationsgehilfe zur Verhinderung der Gleichstellung der Schwarzen. Aber davon wussten die Menschen auf der Maschine nichts. Nicht einmal Coste schwenkte seine Jakobinermütze. Wie die meisten hatte er kein Zeitempfinden. Da war keine Strecke mehr, die man unendlich oft teilen konnte, sondern eine einzig brachliegende Gegenwart. Die Zeit gleich einem unbegrenzten Feld.“

Franzobel, „Das Floß der Medusa“

Nicht von ungefähr verweist Franzobel gegen Ende seines Buches – als sich auch die Leiden der Menschen auf dem Floß, „ der Maschine“, ihrem Ende zuneigen – auf den französischen Schriftsteller und Diplomaten de Gobineau. Dieser stellte in seinem mehrbändigen Werk „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ die These auf: „Der Mensch ist das böse Tier par excellence.“

Auf offener See vor Westafrika

Und alles, was auf dem Floß der Medusa, das 1816 zehn Tage auf offener See vor Westafrika trieb, geschah, scheint diesen Satz zu bestätigen: Von den rund 150 Menschen, die sich nach dem Auflaufen der Fregatte Méduse auf eine Sandbank auf ein hektisch selbstgezimmertes Floß retten konnten, überleben nur 15. Und dies nur unter unmenschlichsten Umständen: Je länger die Tortur – stechende Hitze, Durst, Hunger – anhält, desto mehr fallen die Grenzen der Zivilisation. Auf dem Floß beginnt ein Kampf ums Überleben, den nur die physisch und psychisch Stärksten bestehen.

Dass es in seinem Roman um die ganz großen Fragen geht, das verdeutlicht Franzobel bereits im ersten Kapitel, als die Brigg Argus „fünfzehn ausgemergelte Gestalten“, „Totengesichter“, wandelnde Leichen, aus dem Wasser fischt:

„Aber was sind das für Geschehnisse, die der Menschheit für alle Zeit verborgen bleiben sollten? Was ist das für eine scheinbar mit einem Fluch behaftete Geschichte, die hinter diesen fünfzehn ausgemergelten Gestalten steht? Ist sie etwas für uns? Ein Versuch, den Menschen vor Gott zu rechtfertigen? Etwas Erhabenes? Erhebendes? Niederschmetterndes? Nun, das werden wir noch sehen. In jedem Fall ist dieser „Vorfall“ etwas, das am französischen, ja, am europäischen Nationalstolz kratzt, weil er Abgründe des Menschlichen offenbart, zeigt, was mit dieser Spezies alles möglich ist. Nichts für frankophile, Rotwein trinkende, Käse degustierende Modefuzzis. Gut, die Sache liegt mittlerweile mehr als zweihundert Jahre zurück. Wir können es uns also bequem machen und uns versichern, wir sind anders, bei uns kommt sowas nicht vor. Doch ist das wirklich so?“

Eine verstörende Allegorie auf das Menschsein

Dass der Erzähler hier, in dieser Art Vorspann, allwissend daherkommt, den Lesern quasi schon das Rezept zum Buch mitgibt, uns die Botschaft beinahe mit dem Holzhammer eintrichtert – dies ist im Grunde die einzige Kritik, die man zu diesem Buch, das hier und dort bereits als „epochal“ bezeichnet wurde, äußern kann.  Man muss über den Roman, der auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017 stand, nicht mehr viel schreiben: Im Feuilleton und bei einigen Literaturbloggern erntete der österreichische Schriftsteller dafür durchwegs überaus positive bis hin zu euphorische Kritiken. Und dies zu Recht: Es ist sprachlich, stilistisch und inhaltlich ein herausragendes Werk, das die Jahre und Moden überdauern wird.

Alexander Kosenina schrieb darüber in der Frankfurter Allgemeinen, der Roman sei „eine wuchtige, oft groteske und allemal verstörende Allegorie auf die Menschennatur“:

„Insgesamt ist Franzobel ein ganz und gar ungewöhnliches Buch gelungen: Statt eines Historienbildes fügt er aus dem glücklich gefundenen und unbekümmert neu erfundenen Ereignis ein literarisches Laboratorium zusammen, das der Erforschung von Menschen im Ausnahmezustand dient.“

Verstörend, nachklingend, Diskussionen auslösend und dabei gepaart mit einer spürbaren Lust am Fabulieren, am Spielen mit der Sprache, am stilistischen Experiment, indem immer wieder Historie und Moderne vermischt werden (die Offiziere der Medusa vergleicht Franzobel beispielsweise physiognomisch mit Lino Ventura und Alain Delon), die Erzählerstimmen wechseln, die Schauplätze und Perspektiven, dies alles führt dazu, dass man sich nach knapp 600 fieberhaft gelesenen Seiten tatsächlich selber fragt: „Und was hätte ich getan?“.

Informationen zum Buch:

Franzobel
Das Floß der Medusa
Zsolnay Verlag, 2017
ISBN 978-3-552-05816-3