Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Abenteuerroman, Liebesgeschichte, Politbuch: Ein dicker Brocken, den Adam Johnson hier vorlegt. Ein einzigartiger literarischer Blick nach Nordkorea.

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„Der Kapitän mit der Tätowierung seiner Frau auf der uralten Brust tauchte vor seinem inneren Auge auf – wie bläulich verwaschen die ursprünglich schwarze Tinte geworden war. Sie war unter der Haut des alten Mannes verlaufen, und das gestochen scharfe Bild war zum Aquarell verschwommen – zu einem bloßen Schatten der geliebten Frau.“

Adam Johnson, „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“


Abenteuerroman, Liebesgeschichte, Politbuch: Ein dicker Brocken, den Adam Johnson hier mit rund 700 Seiten dem geneigten Leser vorlegt. Dick ja, gewichtig nein: „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“, der zweite Roman des US-Schriftstellers, ist gut geschrieben, wartet mit einem aktuellen Thema auf und arbeitet sich daran burleskisch ab.  Aber dennoch fragt man sich am Ende des Buches: ???

Aus der Schule des kreativen Schreibens

Dass das Buch auf der Bestsellerliste der New York Times gelandet ist, ist nachvollziehbar. Johnsons` Stil ist geschult am amerikanischen System des universitären „Creative Writing“. Immer wieder kommen aus diesen Kaderschmieden – Johnson selbst lehrt in Stanford kreatives Schreiben – hervorragende Unterhaltungsromane. Und dies ist auch „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ letzten Endes – nicht mehr, und nicht weniger. Eine gut lesbare, unterhaltsame Geschichte, die alle Kriterien des Genres „Abenteuerroman“ erfüllt: Ein moralisch aufrechter Held, eine große Liebe, ein exotischer Schauplatz, unwahrscheinliche, gefährliche Ereignisse. In den Kanon der großen Weltliteratur gehört das Buch aber nicht.

„Adam Johnsons Buch ist politische Science-Fiction, keine Propaganda, aus genuin amerikanischer Perspektive erzählt. Literarisch ist es eigentlich nicht bemerkenswert. Es verbleibt im Romanschema, wie es an amerikanischen Universitäten gelehrt wird, übrigens auch von Adam Johnson. Es gibt eine klare Geschichte, das Leben des Jun Do, kontrastierende Erzählstränge wie die Bekenntnisse eines anonymen, am Job verzweifelnden Folterknechtes oder die aus den Lautsprechern über Pjöngjang quakenden Lern- und Propagandageschichten für das Volk. Das letzte Drittel wird von einem leicht verständlichen ethischen Konflikt dominiert: Lohnen sich Verrat und Selbstopfer? Das ist simpel, verworren hingegen das Leben des Jun Do.“

So urteilt Thomas E. Schmidt 2013 in der Zeit. Und setzt noch eins nach:

Leider unterzieht der Autor auch seine Leser einem Schmerztraining. Lesbar ist das Buch, solange es satirisch bleibt und beispielsweise das nicht minder skurrile Texas aus nordkoreanischer Perspektive beschreibt. Auch das Porträt Kim Jong Ils gelingt. Johnson macht aus ihm einen sardonischen Schöngeist, er ähnelt dem Joker aus Batman, wäre da nicht die Vorliebe für die beigen Vinalon-Anzüge. Ganz unerträglich wird der Roman allerdings, wenn er akribisch Foltermethoden und Demütigungspraktiken schildert. Der Hunger, die Aussichtslosigkeit, die hygienischen Verhältnisse, die grauenerregende Ausbeutung der Körper und Seelen – all das beeindruckt. Doch erhöht die Frequenz solcher Beschreibungen nicht die literarische Qualität. Am Ende sinkt der erschöpfte Leser ins Kissen zurück: “Toll, dass der Waise Jun Do eine unsterbliche Seele hatte. Noch besser, dass das Buch nun aus ist.”

Dass der Schmöker 2013 sogar mit dem Pulitzer-Preis für Belletristik ausgezeichnet wurde, führte bei mir schon zu ersten Zweifeln an den literarischen Maßstäben und Fachkenntnis der Jury. Aber es mag auch eine von der Politik dominierte Entscheidung gewesen sein.

Pulitzerreifes Thema

Denn Johnson hat sich einen Schauplatz gewählt, der insbesondere in den USA Aufmerksamkeit garantiert: Nordkorea. Das Buch ist nach wie vor hochaktuell, was den Grundkonflikt angeht: Die derzeit nach außen dringenden Nachrichten aus Nordkorea machen die im Roman beinahe fiktiv anmutenden Lebensverhältnisse, den Führerkult, die Unterdrückung der Menschen, die Brutalität und Verfolgung Andersdenkender nur zu glaubhaft.

Der exotische Schauplatz, den Johnson gewählt hat, ist also das Nordkorea des vergangenen Jahrzehnts. Der Leser profitiert hier von der journalistischen Ausbildung des Schriftstellers: Johnson hat umfangreich über Nordkorea, das Politsystem, die Ausbeutung der Menschen dort und deren Alltag recherchiert, bis hin zu einer Reise in das abgeschottete Land – hier allerdings war es Johnson, wie allen anderen Gästen auch, nicht möglich, hinter die Kulissen zu sehen. Vor allem dies macht eben auch die Faszination des Romans aus: Wenig weiß man über diese kommunistische Diktatur, wenig dringt nach außen. Die kurze Hoffnung, dass nach Kim Jong II durch dessen Sohn Kim Jong Un (der im Roman nicht auftritt) eine Öffnung und Besserung geschehen könnte, wurde schnell zunichte gemacht.

Erzählt wird von Johnson die Geschichte eines Waisenjungen, der in einem Staat, der seine Bürger normieren möchte, um seine Individualität kämpft – auch wenn er selbst keine Geschichte, keine Familie, nichts eigenes mitbringt. Jun Do ist auch ein John Doe – der sich jedoch im Laufe des Romans häutet, in eine neue Identität schlüpft, der versucht, das System in der Maske des Funktionärs auszutricksen. So weit, so gut – doch das Buch wankt zwischen realistischer Alltagsbeschreibung im unbekanntesten Land der Welt und wandelt sich dann, im zweiten Teil, zu einer Burleske mit tragischem Ausgang. Ein Bruch im Buch, der das Ganze seltsam unentschlossen wirken lässt.

Von Verlusten und dem Erwachsenwerden

Teil 1 – der Waisenjunge Pak Jun Do lernt eine Lektion fürs Leben: Je mehr der „geliebte Führer“ Kim Jong II einem seiner Bürger gibt, desto mehr kann er ihm nehmen: Zwischenmenschliche Beziehungen sind nur Beziehungen auf Zeit. Wer einen Menschen bei sich haben will, tätowiert sich sein Gesicht auf die Brust. Aber selbst diese hautnahen Beziehungen verblassen. Denn zwischenmenschliche Beziehungen sind gefährlich: Wer liebt, wird verletzbar. So opfert Pak Jun Do  seiner großen Liebe, seiner Sonne, seinem Mond, der Staatsschauspielerin Sun Moon, auch sein Leben. Teil 1 erzählt von Pak Jun Do, seinem Erwachsenwerden, seinen Verlusten, seiner Instrumentalisierung für das System.

Teil 2 – Pak Jun Do häutet sich. Er schlüpft in die Haut des Kommandanten Ga. Wird Ehemann der Staatsschauspielerin Sun Moon, wird persönliche Marionette des geliebten Führer, wird Folteropfer und Lebensretter. Um die Geschichte schlüssig zu Ende zu bringen, braucht es wohl diesen Rollenwechsel – trotzdem bleibt am Ende der Eindruck zurück, dass dem Autoren diese seltsame Konstruktion als einziger Ausweg verblieb, um seinen Roman irgendwie zu Ende zu bringen.

Erzählerisch in eine Sackgasse geraten, wird die Geschichte durch einen Kunstgriff befreit – nicht der einzige Haken, den Johnson schlägt. Oder wie es Hubert Spiegel im Deutschlandfunk ausdrückte:

“Seine Handlung schlägt Haken, die jeden jungen Hasen wie eine alte Schildkröte aussehen lassen.”


Bibliographische Angaben:

Adam Johnson
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Übersetzt von Anke Caroline Burger
Suhrkamp Verlag, 2014
ISBN: 978-3-518-46522-6

Harald Vogel: Was darf die Satire?

Zwei große Schriftsteller der Weimarer Republik, zwei – trotz mancher Gemeinsamkeiten – ganz andere Wege, satirisch auf die Politik jener Jahre einzugehen.

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„Aus der Gesamterscheinung dieses Mannes kann ich nicht ganz klug werden. Diese Verse sind wunderbar gearbeitet, mit der Hand genäht, kein Zweifel – aber irgendetwas ist da nicht in Ordnung. Es geht manchmal zu glatt, das sollte man einem deutschen Schriftsteller nicht sagen, dieses Formtalent ist so selten!“

Kurt Tucholsky 1929 in der Weltbühne über Kästner


Im vergangenen Herbst las ich den Kästner-Erzählband „Der Herr aus Glas“. Und war unschlüssig. Klappte das Buch mit einem unzufriedenen, merkwürdigen Gefühl zu: Irgendetwas war da nicht in Ordnung. Der „Atrium Verlag“, 1935 von dem jüdischen Verleger Kurt Leo Maschler ins Leben gerufen („Da ich Kästner leider nicht dazu bewegen konnte zu emigrieren, emigrierte ich seine Bücher. Ich fuhr in die Schweiz und gründete den Atrium Verlag.“), hatte für „Der Herr aus Glas“ aus den über 140 Erzählungen, die Kästner geschrieben hatte, eine Auswahl jener zusammengestellt, die für erwachsene Leser verfasst worden waren – 42 Texte insgesamt, die einige Facetten des Schriftstellers zeigen, die vor allem zeigen, dass die kurze Form für Kästner ein Experimentierfeld war, oftmals auch Gebrauchsprosa, für die Erscheinung in Zeitschriften und Zeitungen, zum Broterwerb gedacht. Nur elf der Geschichten hatte Kästner selbst für die Werkausgabe, die 1969 zu seinem 70. Geburtstag erschien, ausgewählt – ein Indiz dafür, wie er selbst die Texte bewertete?

Zu sentimental für einen Satiriker

Kästner ist ein Humanist und Moralist. In einem Zeugnis würde über den „Musterknaben“, wie er sich selbst nannte, vielleicht stehen: Er bemühte sich, ein mutiger Mann zu sein. Manche nennen ihn auch einen Satiriker, wegen einiger seiner Gedichte der Weimarer Republik, für den Fabian hat das Geltung. Aber es ist doch beim Lesen immer wieder, als ob da etwas fehlt. Oder eine Spur zuviel da ist – von dem Sentimentalen, von einem weichen Unterton in den Beschreibungen – wo Kästner vielleicht ein realistisches Bild der Armut, der Arbeitslosigkeit, der Hackordnung an Schulen, die Militäranstalten glichen, zeichnen wollte, klingt oftmals dieser Modus durch, der schon an Sozialromantik grenzt:

„Seine Mutter war Witwe; noch jung, oft krank, für ewig enttäuscht. Längst wäre sie an jenem Leiden gestorben, das man, höchst anschaulich, „ein gebrochenes Herz“ nett, wenn sie nicht ihn, den kleinen Jungen, gehabt hätte. Seinetwegen lebte sie weiter oder genauer: existierte sie fort. (…). Es wäre falsch gewesen, zu ihr von „stillem Heldentum“ oder dergleichen zu sprechen. Es wäre überhaupt falsch, ihr Wesen mit solchen Schlagwörtern zu etikettieren.- Sie nähte, statt zu leben. (…). So selbstverständlich es den Müttern ist, ihr Leben dem der Kinder zu opfern, so seltsam dünkt es manchmal die Kinder, daß es jemanden gibt, der ihr Glück mit dem seinen zu erkaufen scheint.“

Aus der Erzählung „Ein Musterknabe“.

Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht – die Stärken Kästners, so zeigten es mir die Erzählungen, liegen woanders, dort, wo es turbulent zugeht, wo Humor und Phantasie sich treffen, beispielsweise bei den „Reisen des Amfortas Kluge“:

„Benares gehört zu den seltsamsten Städten, die ich kennen lernte. Und am auffälligsten ist wohl, daß es dort keine Hotels gibt. Wir standen also nachdenklich an den Ufern des Ganges; ich fütterte drei Krokodile mit meiner letzten Schinkensemmel und Bobby verstrickte einen spitzbärtigen Gaukler, der sich mit einer rotglühenden Brennschere die Haare auf den Zähnen ondulierte, in ein Gespräch über das Nirwana – als ein Inder auf uns zutrat, den Turban zog und fragte, ob er mit Herrn Amfortas Kluge das Vergnügen habe.“ – und auf in das nächste Abenteuer à la Münchhausen.

Münchhausen ist das Stichwort: Kästner dessen Bücher von den Nationalsozialisten zwar verbrannt worden waren, entschied sich, im Lande zu bleiben, wurde zu einem, dessen Name mit der „Inneren Emigration“ verbunden ist. Er will zudem als Schriftsteller weiter arbeiten – und bekam unter anderem unter dem Pseudonym „Berthold Bürger“ eine Sondergenehmigung, am Münchhausen-Drehbuch und anderen UFA-Filmen mitzuwirken. Das Kapitel 1933 bis 1945 wurde in der Ausstellung im Münchner Literaturhaus zwar nicht ausgelassen, jedoch auch nicht so kritisch hinterfragt, wie es nun in einer Publikation des Verlags Ille & Riemer geschieht.

Kritischer Vergleich von Tucholsky und Kästner

Der Autor – Harald Vogel, emeritierter Professor für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik, Spiel- und Theaterpädagogik sowie Leiter der Lyrik-Bühne Esslingen – wagt unter dem Titel „Was darf die Satire?“ einen kritischen Vergleich zwischen Kurt Tucholsky und Erich Kästner. Freilich, es ist schwierig als Nachgeborener ein Urteil zu fällen – stellt man sich die Frage, wie hätte man selbst gehandelt als engagierter kritischer Autor in einer Diktatur, wissend, dass jedes freche, satirische Wort auch ein Todesurteil sein könnte? Aber dennoch: Gerade jene, die sich in besseren Zeiten mit ihren Zeitungsartikeln und literarischen Texten politisch positionieren, müssen sich auch später an ihren Schriften messen lassen. Schon im einleitenden Interview macht Harald Vogel keinen Hehl daraus, wem seine Sympathien gehören:

„Ich weiß, es tut weh, Kästner weh zu tun. Aber jüngere Forschungen rechtfertigen die kritische Sicht. Er hat fast die Hälfte seines Werkes in der Nazizeit geschrieben, unter Pseudonymen, und ging dafür viele Kompromisse ein. In einem Brief bittet er die Reichsschrifttumskammer, das Publikationsverbot gegen ihn zurückzunehmen. Das kann man fast Anbiederei an die Faschisten nennen.“

Vogel arbeitet die Gemeinsamkeiten dieser beiden Schriftsteller heraus, die zumindest äußerlich einiges verband: Wie der ältere Tucholsky arbeitete auch Kästner als Journalist und Schriftsteller, beide pflegten neben den sachlichen Texten und der erzählenden Literatur auch die Lyrik, beide verfassten Kabaretttexte, verkehrten in einem ähnlichen Milieu, hatten Amouren, aber Probleme mit der dauerhaften Bindung an eine Frau. Und doch gibt es, wie Vogel klar herausarbeitet, deutliche Unterschiede: Tucholsky, der Intellektuelle aus dem großbürgerlichen Milieu, schreibt glasklar, alles durchdenkend und formulierend bis zur letzten Konsequenz. Kästner dagegen geht den letzten Schritt nicht. Vogel stellt neben seinen eigenen Ausführungen zahlreiche Texte der beiden nebeneinander, die für sich sprechen, die zeigen, woran es Kästner fehlte, um ein zweiter Tucholsky werden zu können. Zudem zitiert der Autor auch Tucholsky, der etliche Werke des Jüngeren zwar wohlwollend-kritisch, aber auch mit einem guten psychologischem Gespür besprach.

Tucholsky über Kästner:

„Kästner hat Angst vor dem Gefühl, weil er es so oft in Form der schmierigsten Sentimentalität gesehen hat. Aber über den Leierkastenklängen gibt es ja doch ein: Ich liebe dich – es gehört nur eine ungeheure Kraft dazu, dergleichen hinzuschreiben. Und da sehe ich einen Bruch, einen Sprung, ist das sächsisch? Wir haben bei diesem Wort so dumme Assoziationen, die meine ich nicht. Langt es? Langt es nicht? (…)
Kästner wird viel nachgeahmt; es gehört wenig dazu, ihn nachzuahmen. Ich wünsche ihm ein leichtes Leben und eine schwere Kunst.“

Harald Vogel:

„Das Gutgemeinte poetisiert im Stil eines Kinderliedes, eine Schlagwortpersiflage, aber dies macht noch keine politisch zeitnahe Satire aus und sei sie moralisch noch so `gut´ gemeint. Um gesellschaftspolitisch zu überzeugen, bedarf es seitens des Autors einer intellektuellen Selbstkontrolle, die den gesellschaftlichen und moralischen Bezug textlich auf gedankliche Sprengkraft überprüft, die ein solches Thema satirisch inspiriert benötigt. Tucholsky spürt Kästners Kleinmut, seine Befangenheit vor einem ideologiekritischen Diskurs. Das Thema taug zum Kalauern.“

Durch den Blick auf die politische Literatur der beiden Männer wird zudem das Buch nicht nur zu einer vergleichenden Studie, sondern bietet auch eine gute Einführung in das Wesen der Satire, das vor allem Kurt Tucholsky in seinem berühmten Aufsatz analysierte. Viele kennen davon nur das Schlagwort: „Was darf Satire? Alles!“, oftmals wird es auch verfälscht und verkürzt missbraucht – es lohnt sich, den Text in ganzer Länge zu lesen.

Ausgespart werden kann bei diesem Vergleich freilich keinesfalls die Rolle Kästners im Nationalsozialismus, die, wie mittlerweile durch neuere Forschungen belegt, durchaus kritischer beurteilt werden muss, zumindest, so Vogel, verfing sich Kästner in „seinen eigenen Ängsten und Widersprüchen sowie moralisch fragwürdigen Kompromissen.“

Kurt Tucholsky dagegen, man weiß es aus seiner Biographie, ging keine Kompromisse ein. Vorstellbar ist, was ihm geschehen wäre, wären die Nazi-Schergen seiner habhaft geworden. Er ging die Lebensstufen bis zum letzteren bitteren Schritt. Aber am Ende treffen sich die beiden Männer hier doch wieder in einer Art Gemeinsamkeit: Sowohl Tucholsky als auch Kästner, verzweifelten wohl letzten Endes an ihren Lebensumständen, an der Welt, die sie nicht „gut schreiben“ konnten.


Bibliographische Angaben:

Harald Vogel
Was darf die Satire?
Verlag Ille & Riemer, 2015

Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles

Tucholsky war begeistert vom Medium der Photographie. 1929 veröffentlichte er seinen „Bildband“, eine satirische Liebeserklärung an Deutschland.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Ein Bild sagt mehr als viele Worte“: Tucholsky war schon früh begeistert von dem Medium der Photographie als Mittel des Ausdrucks und der Satire. 1929 verwirklichte er das Vorhaben eines „Bildbandes“, aber Tucholsky wäre eben nicht Tucholsky gewesen, wäre dies ein „Photoalbum, das man auf den Geburtstagstisch legt“. 1929 erschien „Deutschland, Deutschland über alles“: Ein Bild-Text-Band, beinahe schon ein kleines Kompendium über den Zustand der Weimarer Republik, ätzend scharf, bissig, satirisch, anklagend und anprangernd, aber auch eine Liebeserklärung an die Heimat.

Beginnen wir mit der Liebeserklärung, die Tucholsky an das Ende seines Buches gestellt hat:

„Nun haben wir auf 225 Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja-: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland. Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen. Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie – warum nicht eins von den andern Ländern? Es gibt so schöne. Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache – wir sagen „Sie“ zum Boden; wir bewundern ihn, wir schätzen ihn – aber es ist nicht das.“

Dies schreibt Tucholsky, der selbst ab 1924 die meiste Zeit im Ausland verbrachte. „Deutschland, Deutschland über alles“ entstand, als Schweden bereits mehr und mehr zur Wahlheimat geworden war. Und doch formuliert der Autor:

„Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt…nein, wer gar nichts andres spürt, als daß er zu Hause ist; daß das mein Land ist, sein Berg, sein See – auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt…es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land.“

Tatsächlich war Tucholsky zu jener Zeit jedoch schon verzweifelt an dieser Liebe, verzweifelt vor allem an der Politik dieses Landes. Der Mann, der laut Erich Kästner „mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte“, begann zu resignieren – angesichts des jahrelangen vergeblichen Eintretens für eine Demokratisierung, gegen Militarismus und Despotie. Vom Prozess gegen Carl von Ossietzky – „Weltbühnen-Prozess“ – blieb auch Tucholsky nicht unberührt, auch gegen ihn wurde ermittelt, sein berühmtes Zitat „Soldaten sind Mörder“ von Ossietzky zugeschoben. „Deutschland, Deutschland über alles“ erscheint aus diesem Zusammenhang beinahe wie ein letztes Aufbäumen in einem bereits verlorenen Kampf.

Nun, was ist das für ein Buch, das an der Auflage gemessen, Tucholskys größter Bucherfolg werden sollte? Das der Börsenverein vor Erscheinen noch mit allen Mitteln verhindern wollte? Dessen Startauflage mit 15.000 Stück (aus der Tucholsky-Biographie von Rolf Hosfeld) sofort vergriffen war? Das Mitte 1930 die dritte Auflage mit 50.000 erreichte – auch für jene „belesene“ Zeiten eine ungeheure Zahl?

Zunächst hatte der Schriftsteller die Idee, das Wort durch die Macht des Bildes zu verstärken. Für die Zusammenarbeit gewann Tucholsky den Grafiker John Heartfield, der für den Malik-Verlag und die Arbeiter-Illustrierte in Berlin arbeitete. Tucholsky wollte aufklärerische und agitatorische Fotografie, ergänzt durch seine, größtenteils schon vorab in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Texte. Es entstand eine hochpolitische Satire, ein ganz neuer Buchtyp.

Ein Zitat aus Kindlers Neuem Literaturlexikon:

“Es ging Tucholsky im Jahr der Weltwirtschaftskrise mit seinem Deutschland-Buch um eine möglichst wirkungsvolle Beeinflussung von Wählermassen: gegen deutschen Militarismus, gegen soziales Unrecht und Klassenjustiz, gegen neuen deutschen Chauvinismus sowie gegen unfähige “Realpolitiker” aller Couleur. Tucholskys Engagement in humanistischen, sozialistischen und pazifistischen Organisationen, das ihn vorübergehend sogar seine tiefe Abneigung gegen Gruppen und Vereine Überwinden ließ, genügten dem erfolgreichen, um politische Wirkung bemühten Publizisten nicht länger. Anders als “Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte” sollte sein neues “Bilderbuch” nicht amüsieren, sondern jenes Deutschland zur Besinnung rufen, das am Fließband stand, im Kaufhaus arbeitete oder an der Schreibmaschine saß. (…) Der in einer bald schon vergriffenen Startauflage von 20.000 Exemplaren gedruckte Band war das politische Resümee eines sensiblen Individualisten und radikalen Intellektuellen, der sich bewußt an die Seite der Unterprivilegierten, Rechtlosen und Ausgebeuteten gestellt hatte. Als kommunistische Funktionäre an ihm den Bürger und Schöngeist kritisierten, konterte Tucholsky: “Besser ein Anzug nach Maß als eine Gesinnung von der Stange.” (…)

„Deutschland, Deutschland über alles” ist ein provokantes Album zur Weimarer Republik. Als Motto ist dem Band der Satz aus Hölderins “Hyperion” “So kam ich unter die Deutschen” vorangestellt. Einzigartig in der deutschen Literatur zwischen den Weltkriegen ist an Tucholskys Deutschland-Buch einerseits das Niveau der einzelnen Texte, von denen viele bis heute nichts an politischer Brisanz verloren haben, andererseits die Vielfalt der literarischen Formen, neben zwanzig Gedichten und Chansons (“Aussperrung”; “Start”) pointierte Bildunterschriften (“Demokratie”) und provokante Fotostories (“Statistik”; “Nie allein”). Charakteristisch sind für Tucholsky (zum Teil umgangssprachliche) Monologe und Gespräche (“Herr Wendriner kauft ein”; Ich bin ein Mörder”), ein Dramolett zur deutschen Justiz (“Wiederaufnahme”) sowie Aphorismen, Parodien und Parabeln (“Feuerwehr”); der Band enthält Satire in Vers und Prosa (“Götzen der Maigoto-Neger”), dazu klassische Feuilletons (“Treptow”), kulturkritische Essays (zu Alltagskultur und Architektur), Polemiken, Reportagen, Rezensionen und Theaterberichte (“Der Linksdenker”).”

Aus: Kindlers Neues Literaturlexikon

Der „politische Baedeker“ zu Lage von Staat und Nation greift allerdings auch Alltagsdinge auf, räsoniert wird beispielsweise über die Frage, warum die deutschen Postkästen so häßlich sind (was würde Tucholsky heute zu den gelben Boxen sagen?), über Ladenfassaden und über „Mutterns Hände“ – auch dieses, eines der anrührendsten Gedichte Tucholskys, ist in dem Band enthalten.

Mutterns Hände

Hast uns Stulln jeschnitten
un Kaffe jekocht
un de Töppe rübajeschohm –
un jewischt und jenäht
un jemacht und jedreht …
alles mit deine Hände.

Hast de Milch zujedeckt,
uns Bobongs zujesteckt
un Zeitungen ausjetragen –
hast die Hemden jezählt
und Kartoffeln jeschält …
alles mit deine Hände.

Hast uns manches Mal
bei jroßen Schkandal
auch ‘n Katzenkopp jejeben.
Hast uns hochjebracht.
Wir wahn Sticker acht,
sechse sind noch am Leben …
alles mit deine Hände.

Heiß warn se un kalt.
Nu sind se alt.
Nu bist du bald am Ende.
Da stehn wa nu hier,
und denn komm wir bei dir
und streicheln deine Hände.

Nicht alle der rund 100 Foto-Text-Montagen haben heute noch die unmittelbare politische Wucht – manches wirkt 90 Jahre später natürlich auch technisch ungeschickt, manches ungehobelt bis unbedarft, manche Namen werden heutigen Lesern wohl kaum mehr etwas sagen. Und dennoch: Auch wenn man weiß, Satire darf alles, überspitzt und übertreibt, gibt dieser bissige Führer durch die Weimarer Republik ein eindrucksvolles Bild jener Zeit. Und viele von Tucholskys Texten, insbesondere über „die deutsche Seele“ sind schlicht und einfach zeitlos – vor allem, wenn man sieht, wie die „deutsche Seele“ in diesen Tagen wieder wallt und wabbert.

In seiner hervorragenden Biographie „Tucholsky – ein deutsches Leben“ schreibt Rolf Hosfeld:

“Schon (…) 1925 entdeckte er die Möglichkeiten der Tendenzfotografie. „Die Wirkung ist unauslöschlich und durch keinen Leitartikel zu übertreffen. Eine knappe Zeile Unterschrift – und das einfachste Publikum ist gefangen.“

Es gehört zur Ironie der Literaturgeschichte, dass ausgerechnet das Medium, das durch einfachste Aussagen Millionen Leser fängt, nicht nur ebenso diese Mittel nutzt, sondern 2013 gar Tucholskys Buch in einer Reihe der von den Nationalsozialisten verbotenen Bücher wieder auflegte. Was hätte er dazu wohl gemeint, der große Spötter? BILD Dir deine Meinung.

Tucholsky äußerte sich später selbstkritisch über dieses Buchprojekt: Es sei als künstlerische Leistung klobig. „Und zu schwach. Und viel zu milde.“

Dazu Rolf Hosfeld:

„Tucholsky ist mit „Deutschland, Deutschland über alles“ tatsächlich der Verführung eines Mediums unterlegen, was ihm selbst schnell klar geworden ist, nachdem das Buch einmal vorlag.“

Aber welche Mängel es auch immer hat – es ist das Buch eines großen Kämpfers, der seine Heimat schmerzlich liebte:

„Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.“

Noch mehr zu Kurt Tucholsky auf diesem Blog:

Kurt Tucholsky: Der Mensch

Kurt Tucholsky schrieb diesen Text unter seinem Pseudonym Kaspar Hauser. Veröffentlicht wurde er am 16. Juni 1931 in der “Weltbühne”.

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Weil Satire alles darf: Der Mensch. Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: eine, wenns ihm gut geht, und eine, wenns ihm schlecht geht. Die letztere heißt Religion.

Der Mensch ist ein Wirbeltier und hat eine unsterbliche Seele, sowie auch ein Vaterland, damit er nicht zu übermütig wird.

Der Mensch wird auf natürlichem Wege hergestellt, doch empfindet er dies als unnatürlich und spricht nicht gern davon. Er wird gemacht, hingegen nicht gefragt, ob er auch gemacht werden wolle.

Der Mensch ist ein nützliches Lebewesen, weil er dazu dient, durch den Soldatentod Petroleumaktien in die Höhe zu treiben, durch den Bergmannstod den Profit der Grubenherren zu erhöhen, sowie auch Kultur, Kunst und Wissenschaft.

Der Mensch hat neben dem Trieb der Fortpflanzung und dem, zu essen und zu trinken, zwei Leidenschaften: Krach zu machen und nicht zuzuhören. Man könnte den Menschen gradezu als ein Wesen definieren, das nie zuhört. Wenn er weise ist, tut er damit recht: denn Gescheites bekommt er nur selten zu hören. Sehr gern hören Menschen: Versprechungen, Schmeicheleien, Anerkennungen und Komplimente. Bei Schmeicheleien empfiehlt es sich, immer drei Nummern gröber zu verfahren als man es grade noch für möglich hält.

Der Mensch gönnt seiner Gattung nichts, daher hat er die Gesetze erfunden. Er darf nicht, also sollen die andern auch nicht.

Um sich auf einen Menschen zu verlassen, tut man gut, sich auf ihn zu setzen; man ist dann wenigstens für diese Zeit sicher, dass er nicht davonläuft. Manche verlassen sich auch auf den Charakter.

Der Mensch zerfällt in zwei Teile:

In einen männlichen, der nicht denken will, und in einen weiblichen, der nicht denken kann. Beide haben sogenannte Gefühle: man ruft diese am sichersten dadurch hervor, dass man gewisse Nervenpunkte des Organismus in Funktion setzt. In diesen Fällen sondern manche Menschen Lyrik ab.

Der Mensch ist ein pflanzen- und fleischfressendes Wesen; auf Nordpolfahrten frißt er hier und da auch Exemplare seiner eigenen Gattung; doch wird das durch den Faschismus wieder ausgeglichen.

Der Mensch ist ein politisches Geschöpf, das am liebsten zu Klumpen geballt sein Leben verbringt. Jeder Klumpen haßt die andern Klumpen, weil sie die andern sind, und haßt die eignen, weil sie die eignen sind. Den letzteren Haß nennt man Patriotismus.

Jeder Mensch hat eine Leber, eine Milz, eine Lunge und eine Fahne; sämtliche vier Organe sind lebenswichtig. Es soll Menschen ohne Leber, ohne Milz und mit halber Lunge geben; Menschen ohne Fahne gibt es nicht.

Schwache Fortpflanzungstätigkeit facht der Mensch gern an, und dazu hat er mancherlei Mittel: den Stierkampf, das Verbrechen, den Sport und die Gerichtspflege.

Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen, und solche, die beherrscht werden. Doch hat noch niemand sich selber beherrscht; weil der opponierende Sklave immer mächtiger ist als der regierungssüchtige Herr. Jeder Mensch ist sich selber unterlegen.

Wenn der Mensch fühlt, dass er nicht mehr hinten hoch kann, wird er fromm und weise; er verzichtet dann auf die sauern Trauben der Welt. Dieses nennt man innere Einkehr. Die verschiedenen Altersstufen des Menschen halten einander für verschiedne Rassen: Alte haben gewöhnlich vergessen, dass sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, dass sie alt sind, und Junge begreifen nie, dass sie alt werden können.

Der Mensch möchte nicht gern sterben, weil er nicht weiß, was dann kommt. Bildet er sich ein, es zu wissen, dann möchte er es auch nicht gern; weil er das Alte noch ein wenig mitmachen will. Ein wenig heißt hier: ewig.

Im übrigen ist der Mensch ein Lebewesen, das klopft, schlechte Musik macht und seinen Hund bellen läßt. Manchmal gibt er auch Ruhe, aber dann ist er tot.

Neben den Menschen gibt es noch Sachsen und Amerikaner, aber die haben wir noch nicht gehabt und bekommen Zoologie erst in der nächsten Klasse.

Kurt Tucholsky schrieb dies unter seinem Pseudonym Kaspar Hauser, veröffentlicht wurde es am 16. Juni 1931 in der “Weltbühne”.
Nach Tucholsky darf Satire alles. Also gibt es bei ihm nicht nur Menschen, Sachsen und Amerikaner, sondern auch noch Berliner – einen Vertreter dieser Spezies skizzierte “Tucho” in seinen Glossen über den Herrn Wendriner. 

Noch mehr von Kurt Tucholsky auf diesem Blog:

Oskar Maria Graf: Anton Sittinger. Ein satirischer Roman

„Anton Sittinger” erschien 1937, fünf Jahre nach dem „Bolwieser“. Die Romane von Oskar Maria Graf gehören zusammen: Darstellungen des spießigen Kleinbürgers.

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Schnell vorbei ist es mit der bayerischen Gemütlichkeit, wenn im Wirtshaus über Politik palavert wird. Bild von RitaE auf Pixabay

„Menschen wie Sittinger gibt es in allen Ländern. Abertausende. Ihre Zahl ist Legion. Alle Gescheitheit und List, aller Unglaube und alle Erbärmlichkeit einer untergehenden Schicht ist in ihnen vereinigt. In manchen Zeiten heißen sie „du“ und „ich“. Dennoch wird niemand daran glauben, daß er auch zu ihnen gehört. Er würde sich schämen und belächelt sie verächtlich. Er weiß nicht, daß diese Verachtung ihn selber trifft. Sie erscheinen harmlos, und ihr giftiger Egoismus gibt sich stets bieder. Sie sind die plumpsten und verheerendsten Nihilisten unter der Sonne.

Oskar Maria Graf, “Anton Sittinger”

Nein – dies ist kein Portrait einer dieser Menschen, die derzeit durch deutsche Straßen ziehen und skandieren „Wir sind das Volk“. Aber es könnte einer von ihnen sein, der hier beschrieben ist – so genau, so haarscharf hat Oskar Maria Graf (1894 geboren am Starnberger See, 1967 verstorben in New York) den verbitterten Kleinbürger, den opportunistischen Mitläufer gezeichnet. Ein Typ, den es heute gibt, den es morgen immer noch geben wird, den es zu Zeiten von Oskar Maria Graf en masse gab und der letztendlich in all seiner Banalität das Böse zuließ.

„Anton Sittinger. Ein satirischer Roman“ erschien erstmals 1937, fünf Jahre nach dem „Bolwieser“. Beide Romane können oder sollten in Zusammenhang gelesen werden – es sind seine „Spießer-Romane“, in denen er scheinbar banale Lebensläufe, durchschnittliche Einzelschicksale nimmt, um an ihnen die Mechanismen der Kleinbürgerseele zu zeigen. Und auch, um deutlich zu machen, wie die Politik sich auf den Einzelnen auswirkt und, wie – vive versa- der Einzelne mit seinen Entscheidungen die Politik mitprägt.

Charakterisierung des Spießertums

Beide Romane sind treffende Charakterisierungen der „kleinen Leute“, die mit ihrer Unterwürfigkeit nach „oben“ und dem Treten nach „unten“ letztlich das gemeinschaftliche Zusammenleben prägen. Eine Variation und spätere Fortsetzung der von Heinrich Mann im “Professor Unrat” und dem “Untertan” beschriebenen Typen.

Instinktiv hassen sie den sozial Benachteiligten, den Arbeiter und Armen, und ihr tückischer Haß wird sofort zur unversöhnlichsten Feindschaft, sobald sie merken, daß sie bei einer unsozialen Umwälzung etwas einzubüßen hätten. Deswegen ist ihnen die wirkliche Demokratie ein Greuel. Darum sind sie so schrullig konservativ, so stockreaktionär und meist monarchistisch.“

Fokussiert sich der Bolwieser noch vor allem auf die Szenen einer Ehe, ist „Anton Sittinger“ ein durch und durch politischer Roman: Graf, ab freiwillig 1933 im Exil, nachdem er zuvor von den Nationalsozialisten verlangt hatte, auch seine Bücher zu verbrennen, zeichnet am Werdegang des Sittinger die Entwicklung eines Postinspektors von der Münchner Räterepublik bis zur Wahl Hitlers und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nach.

Hitler spaltet auch die Dorfgemeinde

Sittinger verabscheut sie eigentlich alle – die „roten Revoluzzer“ und den braunen Abschaum. Was er vor allem will, ist seine königlich-bayerische Ruhe – auch vor der gut deutsch-hysterischen Ehegattin, die für schmucke blonde Männer in Uniform entbrennt – und das Zusammenhalten seines Geldsäckels. Den Unruhen in München glaubt er entkommen, als er nach der lang ersehnten Pensionierung ein Haus auf dem Lande erwirbt. Doch auch dort holt ihn „die Politik“ wieder ein: Im Wirtshaus werden die Nachrichten debattiert, das Dorf spaltet sich bald in Anhänger und Gegner Hitlers.

Sittinger spürt, er muss sich entscheiden und positionieren, will er an der neuen Zeit teilhaben beziehungsweise nicht der Rachlust des örtlichen Nazis ausgeliefert sein. Da hilft auch sein pseudophilosophisches Spinnisieren nicht, nicht die – freilich meist falsch und für eigene Zwecke mißbrauchte – Inanspruchnahme philosophischer Leitsätze von Seneca über Schopenhauer bis Macchiavelli. Der kleinmütige, eigensüchtige Zögerer, ein Wendehals, springt unter äußerstem Druck letztendlich auf den nationalsozialistischen Zug auf – getrieben vor allem von einem Motiv: Seine Ruhe zu erhalten.

Graf, der kraftvolle Volksschriftsteller

In beiden Romanen zeigt sich Oskar Maria Graf als der kraftvolle Volksschriftsteller, der wie wenig andere das dörfliche und kleinstädtische Leben auf dem bayerischen Lande mit Bildern zu füllen vermochte: Da geht es mitunter durchaus krachledern bis hin zu saukomisch zu, die Figuren sind einerseits satirisch leicht überzeichnet, andererseits lebendig und lebensecht.

“Beim Begräbnis des Toni füllte sich der ganze Friedhof. Grimmig schauten die Bauern drein. Laut weinten Weiber und Kinder, und viele Kränze wurden auf das Grab gelegt. Alle Ehren wurden den Toten erwiesen, doch diesmal kling die Predigt des Pfarrers wehleidig. Der Grimmenmoser hatte eine Grippe vorgeschützt und war nicht zu sehen.
Hernach, in der Postwirtsstube, schimpften die Reitlmooser verdrossen über diese „braune Sauwirtschaft“. Immer wieder hieß es, der Hitler sei nichts für einen Reichskanzler.
„Und überhaupt – Bayern bleibt Bayern! Was wir machen, geht keinen Preußen was an!“ schloß der Pflögl.
Eine mißgünstige Bedrückung machte sich breit.
„Unsere Minister sind auch Hosenscheißer! Wenn`s Männer wären, täten`s einfach vom Reich weggehn und die ganze Hakenkreuzlerschippschaft `nausjagen…Meinetwegen alle zu den Preußen! Alsdann wär` gleich eine Ordnung!“ murrte der Kergler. „Aber mein Gott, wenn nirgends Männer sind!“
Alle nickten und schauten trüb geradeaus.”

Das Zitat zu Eingang des Blogbeitrags ist eher atypisch für den Roman – hier, in der Mitte des Buches, nutzt Graf den Raum, um den beschriebenen Typ zu analysieren, auch um seine eigene Haltung diesem Menschenschlag gegenüber, der sich durch Nichthandeln schuldig macht, zu verdeutlichen. Graf beschreibt die „kleinen Leute“ zwar einerseits voller Empathie – jeder habe einen inneren Kleinbürger und Schweinehund in sich: „In manchen Zeiten heißen sie „du“ und „ich“…“. Andererseits zeigt er sich auch resigniert, glaubt nicht an einen Wandel der Menschheit: „Ich glaube, daß man die Sittingers im besten Falle neutralisieren kann, aber nichts weiter.“

Wie recht er doch hatte, schaut man heute nach Dresden, Leipzig oder anderswo…