Tom Zürcher: Mobbing Dick

Was wie ein harmloses Coming-of-Age-Buch beginnt, endet im Fiasko: Die herrlich überdrehte Satire steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Nachts sitzt Dick im Büro und schreibt die Notizen fürs Archiv um. Er hofft jedes Mal, das letzte Tram zu erwischen, aber er schafft es selten. Zuhause kann er nicht einschlafen, obwohl er todmüde ist. Die Bank kocht in seinem Kopf weiter und die Fantastischen diktieren Müll und Mist. Ich muss hier raus, sagt er sich, die Kammer macht mich fertig.“

Tom Zürcher, „Mobbing Dick“, 2019.


Was für ein grandioser Spaß! Ein Roman, so irrwitzig im ursprünglichen Sinne dieses Wortes, irre und witzig, irre witzig, so überdreht jedenfalls ist mir seit „Die Verschwörung der Idioten“ kaum mehr etwas untergekommen. Ein abgefahrenes Spektakel, ausgerechnet angesiedelt hinter der biederen Fassade eines Kleinfamilienhauses in Witikon und den soliden Mauern einer Züricher Bank.

Dick – allein schon sein Vorname ein schweres Erbe, ist er doch der Heldenverehrung seiner Eltern für den ehemaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney zu verdanken – will vor allem nur eines: Geld verdienen, raus aus dem engen Elternhaus, rein in eine eigene Wohnung, dem kontrollsüchtigen, geizigen Vater und der überfürsorglichen Mutter entrinnen. Er bricht sein Jurastudium ab, bewirbt sich bei einer Bank, wird ohne große Qualifikation sofort genommen und ist erst einmal glücklich. Was sich bei Dick – der im Verlauf des Romans jedoch immer dünner wird – in einer Fressattacke manifestiert. Als „Banker“ dürfen es da zum Einstand auch mal die teuren Cremeschnitten aus der Konditorei „Sprüngli“ sein, die er im Wesentlichen jedoch selber futtert.

Seltsam verschrobene Ideen

Doch aus der großen Freiheit und den Träumen vom Aufstieg auf der Karriereleiter wird absolut nichts: Die Bank entpuppt sich als kafkaesker Käfig, eine Anstalt der Sinnlosigkeit, in der das Produktivste, was die einzelnen Angestellten zu unternehmen scheinen, das Spinnen der nächsten Intrige ist. Viel Gewese gibt es um das Bankgeheimnis. Ein eigens erfundener „Vreneli“-Code dient dazu, die Kundengespräche per Hand zu protokollieren. Wem das im Zeitalter der Digitalisierung verschroben vorkommt: Das ist es. Das Abfassen hunderter handschriftlicher Adressumschläge, das Schreiben von Protokollen, das Training von Schönschrift: Dick muss mehr Papier produzieren, als er Staub fressen kann. Aber auch das gehört zur satirischen Überspitzung, mit der Tom Zürcher in seinem dritten Roman das Tun und Treiben in dieser seltsamen Geldanstalt zeichnet.

Klaustrophobisch eng wird es für Dick auch an seiner neuen Wirkungsstätte: Die „Fantastischen Fünf“, herrlich überspitzt dargestellte Finanzhyänen mit dem entsprechenden Jargon, lassen den jungen Mann gerne in der fensterlosen Kammer, in der er den Verhandlungen mit Kunden zuhören muss, schwitzen. Als das längst schon marode Bankhaus von Amerikanern übernommen wird, nimmt der Konkurrenzkampf unter den „Fanta 5“ existentielle Züge an, Dick selbst gerät mitten in das Gefecht und macht sich zudem durch Fehlspekulationen quasi zum Sklaven der Bank. Erneut will er wieder nur eines: Raus. Selbst der Rückzug zu den Eltern, Studium und finanzielle Abhängigkeit vom Vater erschiene ihm die bessere Alternative.

Doch es gibt kein Entkommen: Mit Versprechen auf mehr Gehalt und Aufstieg wird Dick, der in der Personalakte als „naiv“ und „gutgläubig“ bezeichnet wird, geködert, einem Esel gleich, dem man die Mohrrübe vorhält, durch die Arena gezogen. Mehr und mehr durch den Wind gedreht, verliert Dick, zunehmend auf Wodka statt auf Cremeschnitten, die Kontrolle über sich. Sein Alter Ego „Mobbing Dick“ gewinnt die Oberhand, zieht als aufgespeedeter Racheengel durch das nächtliche Zürich und terrorisiert Kollegen wie Familie zunächst nur mit relativ harmlosen Stalking-Telefonaten. Doch Wahn und Wirklichkeit verwischen zusehends, aus dem Spaß wird Ernst: Das Ganze endet in einem Fiasko, das mit einer erotisch ansprechenden Vorgesetzten, einem Zahnarztstuhl, einem Teppichklopfer und einem unvermutet aufgetauchten Familienkonto mit 5 Millionen Franken zu tun hat. Mehr sei dazu an dieser Stelle nicht verraten.

Aufstieg und Fall eines Naivlings

Wie Tom Zürcher diesen Aufstieg und Fall seines jungen Helden zeichnet, ist von einem unwahrscheinlichem Tempo, viel Wortwitz und absurden Dialogen geprägt. Was wie ein harmloses Coming-of-Age-Buch beginnt, wird zum aberwitzigen Roman und einer absurden Tragikomödie, die im Grunde vor allem eines aufzeigt: Verlass dich nicht auf Loyalität und Solidarität unter Kollegen. Offengelegt werden die Mechanismen, die in hierarchisch strukturierten und auf Leistung ausgelegten Unternehmen im menschlichen Umgang wirksam werden. Und das sind eben nicht die besten Charaktereigenschaften, die da zu Tage treten. Zürcher erzählt dies trocken, fast nüchtern, in rasantem Präsenz, stilistisch unverschnörkelt.

Vielleicht mag gerade dies dem Roman, der auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis steht, bei der Auswahl der Jury für den Gewinnertitel nicht zum Vorteil gereichen. Vielleicht ist er dafür auch eine Spur zu absurd. Man weiß es nie. Für mich ist das Buch auf jeden Fall ein Gewinnertitel, denn es war für mich nach anfänglicher Skepsis eine große, positive und unterhaltsame Überraschung.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat in diesem Jahr 20 Buchbloggerinnen und Blogger gebeten, eine Art „Patenschaft“ für einen der 20 Titel auf der Longlist zu übernehmen. Die Titelauswahl fand per Los statt. „Mobbing Dick“ war für mich daher tatsächlich ein Überraschungsei, beinahe wie eine Cremeschnitte aus dem „Sprüngli“.

Über die weiteren Titel sowie die Rezensionen dazu, Autoreninterviews und andere Infos ist alles auf dem Blog zum Buchpreis zu finden: https://www.deutscher-buchpreis-blog.de/


Bibliographische Angaben:

Tom Zürcher
„Mobbing Dick“
Elster & Salis Verlag, 2019
24,00 Euro, Hardcover, 288 Seiten
ISBN 978-3-906195-83-4