Sait Faik Abasiyanik: Geschichten aus Istanbul

Sait Faik war ein Volksdichter und ein Flaneur. Mit seinen Erzählungen, meist in den Kaffeehäusern Istanbuls entstanden, erneuerte er die türkische Literatur.

Istanbul
Bild: (c) Michael Flötotto

„An Sommersonntagen wirkt Istanbul wie ausgestorben. Durch Beyoğlu schleppen sich nur wenige Passanten, ein paar Kindern schlüpfen in ein Kino. Betäubt von der Hitze gehen in ihren schwarzen Kleidern zwei Frauen von der Kirche nach Hause. Hinter der Scheibe eines Kaffeehauses dösen weltentrückte Rentner.
So ist Istanbul am Sonntag eben. Aber passen Sie auf, ich führe Sie an einen Ort, da werden Sie sich amüsieren. Moment mal, wohin sollen wir, wo wir doch auch in kühle Fluten tauchen oder süß unter Kiefern schlummern könnten? Das wäre natürlich möglich, aber es gibt in Istanbul einen Ort, der heißt Yüksekkaldirim, und den besuchen zu dieser Stunde heimwehkranke Rekruten, Lehrlinge, Pastetenbäcker, anatolische Köche und arme Schlucker, die nicht an den Strand können, oder eben Istanbuler, die mit Kieferwäldchen und Meeresstränden nichts anfangen können oder ihrer einfach überdrüssig sind. Musik gibt es dort ganz umsonst. Eisgekühlte Limonade kostet nicht fünfundsiebzig Kuruş, sondern nur siebeneinhalb. Und für zehn Kuruş bekommen Sie auf schönen Tellern ein Kirschsahneeies, wie es in Beyoğlu selbst um eine halbe Lira nicht zu haben ist.“

Sait Faik Abasiyanik, „Geschichten aus Istanbul“

Als Sait Faik Abasiyanik 1954, erst 48 Jahre alt starb, nahm an seiner Beerdigung eine große Menschenmenge teil. Die Anteilnahme wundert nicht: „Sait Faik“, wie er liebevoll vom Volksmund genannt wurde, war ein Volksdichter, ein Menschen-Erzähler.
Seine Erzählungen und Kurzerzählungen, Miniaturen eines Spaziergängers und Kaffeehausbesuchers, kreisen zum größten Teil um die „kleinen“, einfachen Leute und ihre einfachen Freuden. Mit ihnen bummelt er durch die Metropole, dokumentiert einem Fotografen gleich das städtische Leben.

Tee und Simit

Eigentlich würde ich in die Überschrift gern auch noch den Käse aufnehmen, aber angesichts der Freundschaft zwischen Tee und Simit soll der Käse lieber im Hintergrund bleiben. Den Sesamkringel und den Tee genießen wir oft gemeinsam, doch wann sind schon alle drei beisammen?

Istanbul ist des Dichters Kosmos

Die scheinbare Kunstlosigkeit dieser Geschichten – oft nur zwei, drei Seiten lang – hat mich nach und nach gefangen genommen. Zunächst ist sie ungewohnt, diese Simplizität der Sätze und Geschichten – aber mit jeder weiteren Erzählung taucht man ein in diesen Kosmos des Sait Faik, sieht ein buntes Istanbul durch viele geöffnete Fenster.

Sait Faik zeichnet ein Portrait der Metropole in ihrer ganzen Vielfalt: Ein weltoffenes, kosmopolitisches Istanbul zur Zeit der Modernisierungspolitik unter Atatürk. Zweimal war ich Ende der 1990er-Jahre selbst in der Stadt am Goldenen Horn – viel zu kurz, um mit wirklichen Kenntnissen aufzuwarten. Aber diese Mischung aus Okzident und Orient, das Mit- oder wenigstens gute Nebeneinander der Kulturen und religiösen Auffassungen, die Energie, die die Stadt ausstrahlte – das hat mich fasziniert. Und so las ich nun die Istanbuler Erzählungen auch mit einem guten Schuss Wehmut und Sorge: Wer weiß, wieviel von diesem Istanbuler Charakter unter Erdogan verloren geht?

Erneuerer der türkischen Literatur

Auch Sait Faik ließ sich in seiner Kurzprosa stark von westlichen Vorbildern beeinflussen und gilt, so Gerhard Meier, als einer der Erneuerer der türkischen Literatur. Obwohl er 2010 von türkischen Schriftstellern in einer Umfrage zum besten türkischen Erzähler gewählt wurde, scheint er mir in Deutschland relativ unbekannt – viele der in diesem Buch enthaltenen Geschichten wurden überhaupt das erste Mal ins Deutsche übersetzt. Dabei sind sie nicht nur aus Gründen des „Lokalkolorits“ interessant: Ob „Kaffeehaus Eftalikus“, ob „Das Grammophon und die Schreibmaschine“, oftmals kreisen die Erzählungen auch um das Erzählen an sich, um die Bedingungen des und dem Zwang vom Schreiben.

Das Kaffeehaus als Zentrum

Sait Faik, der „Fotograf mit dem Stift“, soll oft, durch eine Straßenszene angeregt, sich sofort im Kaffeehaus niedergesetzt und losgeschrieben haben:

„Entbehren Sait Faiks Kurzgeschichten manchmal einer allzu stringenten Logik, dann mag das darauf zurückzuführen sein, dass er nicht zu den Schriftstellern gehörte, die akribisch an einem Werk feilen. Er lebte gewöhnlich in den Tag hinein, nicht wenige seiner Erzählungen nahmen ihren Anfang in einem Kaffeehaus. Irgendeine Beobachtung dient als Aufhänger, und man meint förmlich zu sehen, wie Sait Faik an seinem Tisch zu Stift und Papier greift, um eine Eingebung festzuhalten und daran weiterzuspinnen. So spontan, wie seine Erzählung einsetzt, so unvermutet kann sie enden.“

Die scheinbare Kunstlosigkeit, die Einfachheit der Worte und Sätze, dieses spürbar impulsive Dahin-Erzählen: Es hat mich anfangs irritiert, aber mit jeder Erzählung mehr fand ich in den Rhythmus von Sait Faik, ein Rhythmus des Flaneurs, des Bummelanten durch die Istanbuler Straßen.

Für den Mann, der dem Volk auf den Mund schaute, war das Schreiben Sucht und Erlösung zugleich. Sait Faik war selbst ein Getriebener, dem Alkohol verfallen, der in der Literatur ein Ventil fand:

„Ich hatte mir geschworen, nicht mehr zu schreiben. Wo doch das Schreiben nichts weiter ist als eine Sucht. Unter den ehrbaren Menschen hier wollte ich in aller Ruhe den Tod erwarten, was sollte ich da mit Sucht und Eifer? Allein es ging nicht. (…) Hätte ich nicht geschrieben, ich wäre verrückt geworden.“

Informationen zum Buch:

Sait Faik Abasiyanik
Geschichten aus Istanbul
Übersetzt von Gerhard Meier
Manesse Verlag, 2012
ISBN: 978-3717522881